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Havarie
Kein Hofstaat, kein Gesinde?
Aber wozu - die Königin kauft selbst ein. Sie hat unglaubliches Haar. Dicht und wundervoll schimmernd. Sehr beeindruckend. Sie ist wohl gerade gekommen, denn es glitzert noch etwas Schnee auf ihrem Kragen.
Sie ist der dunkle Typ, strömt eine Souveränität aus, die mich auf Anhieb fesselt.
Ich straffe mich diskret.
Fast wirken ihre Bewegungen verzögert, doch das fällt nur mir auf. Ich beobachte gern – und wie ich glaube, auch gut. Lässigkeit ist das nicht, denn die könnte leicht mit Arroganz verwechselt werden.
Nein, es ist schlichte Selbstsicherheit. Überlegt und überlegen. Bewundernswert.
Ich erreiche „Backwaren“, muss mich aber nochmals umdrehen.
„So passen Sie doch auf, junger Mann!“, erbost sich eine Dame bei der zarten Kollision unserer Einkaufswagen. Ihre bunten Flaschen klimpern aufgeregt, meine strammen Sixpacks machen keinen Mucks.
„Oh, sorry!“, sage ich „Ich hab’ Sie tatsächlich nicht gesehen. Ist aber nichts passiert, oder?“
Routiniert knipst sie die hochmütige Miene an und verzichtet darauf, meine Frage zu beantworten. Ist mir recht, schon wegen ihres Fliederparfüms habe ich keine Lust auf ein längeres Gespräch.
Ich kurve vorbei an Meisenknödeln, Kikkoman und Zauberjoghurt. Die Fleischabteilung ignoriere ich meist; dieses ganze Gerede über Turbomast nimmt mir die Lust auf Fleisch. Nur fürs Rührei brauche ich etwas Bacon. Und ein Maishähnchen, falls Besuch kommt.
Jetzt Obst und Gemüse. Das Übliche halt - und Blutorangen!
Die sind meine Lieblingsfrüchte. Jetzt im Winter sind sie am besten. Ich versuche, Disziplinlosigkeiten durch selbst gepressten Orangensaft ungeschehen zu machen. Verwende ich Blutorangen, dann bilde ich mir ein, den Saft besonders guter und besonders gesunder Orangen zu trinken. Mein Neffe weiß, dass man den höheren gesundheitlichen Wert auch an der Farbe erkennen kann.
Ich überlege, was ich mit Pastinaken anstellen könnte, und die mir schon bekannte Dame greift zu den Blutorangen. Zwei fallen auf den Boden, zeitgleich legt sie das defekte Netz zurück und kickt die zwei verlorenen Früchtchen unter den Ladentisch.
Ich bin noch im elastischen Alter, federe nach unten und kann ihr die beiden in der nächsten Sekunde zurückgeben: “Madame, Sie haben etwas verloren!“.
Angewidert legt sie die zwei Blutorangen zum defekten Netz und schießt mir eine Ladung Essig ins Gesicht. Das schmerzt mich, mental. Die hinzugekommene Königin wohnt dieser kleinen Szene bei, nimmt das defekte Netz, stopft die zwei abtrünnigen Früchte hinein und legt es in ihren Wagen.
„Verzeihung, Sie wissen, dass dieses Netz ein Loch hat?“, frage ich, um korrekte Haltung bemüht und deshalb vielleicht etwas zu angestrengt.
„Ja, natürlich. Deswegen habe ich’s ja genommen!“, entgegnet sie.
Der Abstand ihrer Augen ist ungewöhnlich groß, die Brauen liegen fast waagerecht darüber, dunkel in dunkel. Wunderbar.
Ihre Antwort überrascht mich. „Ich fürchte“, sage ich „ich kann Ihnen nicht folgen.“
Darauf meint sie, für meinen Geschmack ziemlich burschikos: „Wundert mich nicht.“
Sie sagt’s nicht so, dass ich beleidigt sein könnte, aber verwundert bin jetzt ich:
„Ich kann keinen Vorteil erkennen, Orangen in kaputten Netzen zu kaufen.“
So, damit muss es gut sein.
Oder bin ich durch ihr ‚Wundert mich nicht.’ doch ein bisschen angefressen?
Ja, wahrscheinlich. Deshalb frage ich, ganz ohne Aggressivität: „ Oder gibt’s Rabatt für Havarieschäden?“
Sie ist hochgewachsen, fast so groß wie ich und hat, trotz Wintermantels gut erkennbar, die Figur einer Tänzerin - einer Tänzerin, die gewohnt ist, vor ausverkauftem Haus aufzutreten. Ich schnippe ein Stäubchen von meinem Revers. Sie wird mir jetzt eine kleben.
Tatsächlich: Sie schiebt ihren Wagen zur Seite – aber nein, zu meiner Überraschung bleibt sie friedlich.
Vermutlich folgt jetzt ein längerer Vortrag.
Oh, da ist er schon: “Was ist da so schwer zu verstehen? Jeder weiß, dass schadhafte Verpackungen samt Inhalt weggeworfen werden. Das ist doch verrückt – zwei Kilo beste Ware wegen eines Lochs im Netz!“
Basta.
Kurzer Vortrag, kürzer als befürchtet. Was soll ich sagen?
„Können Sie mir jetzt folgen?“, legt sie nach.
„Ich denke schon. Ist ja nicht so kompliziert.“, säuere ich.
„Na dann, schönen Tag noch!“
„Ihnen auch!“ Ich erreiche das Finale. „Übrigens, was ich noch sagen wollte - auf mich können Sie in Zukunft zählen.“
Ihr Blick ist irritiert.
„Na ja, ich werd’ das künftig auch so machen wie Sie. Ist wirklich schade um das gute Zeug. Ich musste grad’ an die Bäckerei meiner Eltern denken: Da gab’s zum Abendessen immer das verunglückte Brot des Tages – aufgeplatzt, bisschen dunkel, Scharten im Laib. Hat uns immer gut geschmeckt.“
So eine lange Rede wollte ich gar nicht halten. Aber ich kann sie ja nicht einfach weglaufen lassen. Sie betrachtet mich forschend. Ich halte ihrem Blick mühelos stand, schließlich habe ich mich in Schale geworfen, winterlich schick. Ohne Anlass zwar, nur im Wissen, eines Tages an der Reihe zu sein.
Kasse drei. Das Band läuft und ich hieve meine Einkäufe aus der Tiefe des Wagens auf den schwarzen Gummi. Die Königin zahlt an Kasse fünf.
Fast auf die Sekunde genau passieren wir den Ausgang. Es fällt noch etwas Schnee. Sie scheint wie ich auf der linken Seite zu parken, deshalb schlagen wir dieselbe Richtung ein. Die automatische Tür entlässt uns in die Kälte. Die warme Luft des Kassenraums ist noch zu spüren, da prasselt ein donnernder Komet auf uns herunter. Ich reiße die Königin zurück und presse sie gegen die Wand. Hinter uns knallen eine paar Tonnen Eisplatten und gebrochene Auffanggitter vom Dach auf das Pflaster und zerbersten mit hohem, singenden Knall. Eine Eismure.
Das war knapp. Mit der unverhofften Nähe und Wärme des Anderen und dem unvergleichlichen Gefühl des Zusammenstehens überwinden wir allmählich den Schreck und atmen tief durch.
„Danke“, sagt sie „Gute Reaktion!“
Ich halte sie noch immer fest an mich gedrückt. Unsere Lippen kommen sich bedrohlich nahe, doch sie achtet auf Distanz.
Unergründlich schaut sie mich an: “Du tust mir weh“ und entwindet sich meiner Umklammerung so elegant, wie es nur eine Tänzerin vermag.