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Heimat der Heimatlosen
Heimat der Heimatlosen
Es schmerzte Klaus, hier zu stehen und den ausfahrenden Zügen nachzuschauen. Immer wieder zog es ihn an diesen Ort. Den Hamburger Hauptbahnhof mit seinen vielen Bahngleisen und den unzähligen Zügen, die in alle Richtungen davon fuhren. Auch in seine alte Heimat Dortmund. Hier konnte er sich an sein altes Leben zurückerinnern. Ein Leben mit Familie, einer anständigen Arbeit und einem gemütlichen Zuhause. Er stand in der Wandelhalle am Geländer und blickte auf die Gleise unter ihm. Wie so oft dachte Klaus, was sollte er noch hier? Sicher er hatte seine Trinkkumpane. Zum Beispiel Herbert, der ihn das letzte Mal von hier fortgezogen hatte, kurz bevor er springen wollte. Aber mit Herbert hatte er sich an jenem Morgen wegen der Flasche Korn gestritten.
Nur über das Geländer klettern! Dann wäre alles vorbei. Jetzt gleich! Sonst würde er auch diesen Zug wieder verpassen.
Hunderte von Leuten schwirrten um ihn herum, liefen hektisch zu ihren Zügen, wuchteten schweres Gepäck, redeten wild durcheinander. Er beobachtete ein junges Pärchen auf dem Bahnsteig unter ihm, engumschlungen küssten sie sich. Sie weinte.
Und Klaus? Er stand hier, allein, fragte sich, wie das alles nur geschehen hatte können. Er wusste, der verdammte Alkohol war schuld. Seine Frau hatte ihn verlassen, weil sie seine Sauferei nicht mehr ertragen konnte. Dabei hatte er doch so sehr versucht aufzuhören.....
„Wat trödelste den so rum, mach ma voran!“, schnauzte ein Vater seinen kleinen Sohn im Ruhrpottdialekt an. Klaus wollte sich gerade umdrehen und etwas zu dem Mann sagen, als ihm jäh bewusst wurde, wie er aussah. Seine ausgebeulte Hose, sein zerschlissener Mantel, seine gelben ungeputzten Zähne, sein wildwuchernder Bart, seine verfilzten Haare und sein vom Alkohol gezeichnetes Gesicht. Er wusste genau wie die Leute auf ihn reagierten. Sein letztes bisschen Stolz ließ es nicht zu, dass er sich herablassenden Blicken oder abfälligen Bemerkungen aussetzen würde. Also versank er wieder in Gedanken. Nachdem seine Frau fort war, soff er sich die Seele aus dem Leib.
Dieses verdammte Miststück hatte den Sohn mitgenommen. Klaus wollte damals nicht mehr in der gleichen Stadt wie sie leben und kam nach Hamburg. Hier lernte er Gerda kennen, mit der er ein Jahr lang zusammenlebte. Doch mit der Sauferei war trotzdem nicht Schluss. Auch Gerda konnte es deshalb nicht mit ihm aushalten, also trennten sie sich.
Eine Stimme gab über Lautsprecher durch: „Vorsicht an der Bahnsteigkante, der Zug fährt in wenigen Minuten ein.“ Klaus stellte sich vor, wie er gleich über das Geländer klettern würde, wie dann alles vorbei wäre. Seine quälenden Gedanken hätten endlich ein Ende. Nach der Trennung von Gerda hatte er keine Arbeit, bekam keine Wohnung und Geld fehlte ihm auch. Er wurde obdachlos. Schlief unter der Lombardsbrücke, trieb sich herum und verdiente sich ein paar Mark mit Gelegenheitsarbeit. Er ließ sich mehr und mehr gehen. Ertränkte seine Einsamkeit in Alkohol. Es verging kein Tag, an dem er nicht an seinen Sohn und seine Frau dachte. Doch er wusste, es gab kein zurück mehr.
Wie sein Sohn, er müsste mittlerweile fünfzehn Jahre alt sein, wohl heute aussah. Und seine Frau, die er immer noch glaubte zu lieben, hatte sie inzwischen wieder geheiratet? Klaus würde es nie erfahren, denn seine Mutter, die einzige Verbindung zu seinem alten Leben, war vor einiger Zeit gestorben. Was ihm blieb, waren die Sehnsucht, die Hoffnungslosigkeit und der Alkohol.
Er müsste sich beeilen, sonst würde er den richtigen Moment zum Sprung verpassen. Doch Klaus zögerte wieder mal. Was ließ er zurück? Herbert fiel ihm ein, bei dem hatte er noch eine Flasche Korn gut. Seine anderen Kumpels unter der Lombardsbrücke, die mit Klaus das wenige was sie hatten, teilten. Sich gegenseitig stützten.Mit ihnen konnte er lachen, saufen und streiten. Sie waren es, die ihn ab und zu ein Stückchen Heimat spüren ließen. War sein Leben wirklich so trostlos? Er konnte doch jetzt tun und lassen was er wollte. Er war frei, frei wie ein Vogel. Sicher, der Zug in sein früheres Leben war abgefahren. Aber er lebte noch. Das konnte er doch nicht aufgeben! Der Zug auf Gleis 12 fuhr ein. Klaus blickte hinunter.
Er spuckte auf den einfahrenden Zug, drehte sich um und verschwand in Richtung Lombardsbrücke.