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Heimat der Heimatlosen

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18.01.2004
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Heimat der Heimatlosen

Heimat der Heimatlosen
Es schmerzte Klaus, hier zu stehen und den ausfahrenden Zügen nachzuschauen. Immer wieder zog es ihn an diesen Ort. Den Hamburger Hauptbahnhof mit seinen vielen Bahngleisen und den unzähligen Zügen, die in alle Richtungen davon fuhren. Auch in seine alte Heimat Dortmund. Hier konnte er sich an sein altes Leben zurückerinnern. Ein Leben mit Familie, einer anständigen Arbeit und einem gemütlichen Zuhause. Er stand in der Wandelhalle am Geländer und blickte auf die Gleise unter ihm. Wie so oft dachte Klaus, was sollte er noch hier? Sicher er hatte seine Trinkkumpane. Zum Beispiel Herbert, der ihn das letzte Mal von hier fortgezogen hatte, kurz bevor er springen wollte. Aber mit Herbert hatte er sich an jenem Morgen wegen der Flasche Korn gestritten.
Nur über das Geländer klettern! Dann wäre alles vorbei. Jetzt gleich! Sonst würde er auch diesen Zug wieder verpassen.
Hunderte von Leuten schwirrten um ihn herum, liefen hektisch zu ihren Zügen, wuchteten schweres Gepäck, redeten wild durcheinander. Er beobachtete ein junges Pärchen auf dem Bahnsteig unter ihm, engumschlungen küssten sie sich. Sie weinte.
Und Klaus? Er stand hier, allein, fragte sich, wie das alles nur geschehen hatte können. Er wusste, der verdammte Alkohol war schuld. Seine Frau hatte ihn verlassen, weil sie seine Sauferei nicht mehr ertragen konnte. Dabei hatte er doch so sehr versucht aufzuhören.....
„Wat trödelste den so rum, mach ma voran!“, schnauzte ein Vater seinen kleinen Sohn im Ruhrpottdialekt an. Klaus wollte sich gerade umdrehen und etwas zu dem Mann sagen, als ihm jäh bewusst wurde, wie er aussah. Seine ausgebeulte Hose, sein zerschlissener Mantel, seine gelben ungeputzten Zähne, sein wildwuchernder Bart, seine verfilzten Haare und sein vom Alkohol gezeichnetes Gesicht. Er wusste genau wie die Leute auf ihn reagierten. Sein letztes bisschen Stolz ließ es nicht zu, dass er sich herablassenden Blicken oder abfälligen Bemerkungen aussetzen würde. Also versank er wieder in Gedanken. Nachdem seine Frau fort war, soff er sich die Seele aus dem Leib.
Dieses verdammte Miststück hatte den Sohn mitgenommen. Klaus wollte damals nicht mehr in der gleichen Stadt wie sie leben und kam nach Hamburg. Hier lernte er Gerda kennen, mit der er ein Jahr lang zusammenlebte. Doch mit der Sauferei war trotzdem nicht Schluss. Auch Gerda konnte es deshalb nicht mit ihm aushalten, also trennten sie sich.
Eine Stimme gab über Lautsprecher durch: „Vorsicht an der Bahnsteigkante, der Zug fährt in wenigen Minuten ein.“ Klaus stellte sich vor, wie er gleich über das Geländer klettern würde, wie dann alles vorbei wäre. Seine quälenden Gedanken hätten endlich ein Ende. Nach der Trennung von Gerda hatte er keine Arbeit, bekam keine Wohnung und Geld fehlte ihm auch. Er wurde obdachlos. Schlief unter der Lombardsbrücke, trieb sich herum und verdiente sich ein paar Mark mit Gelegenheitsarbeit. Er ließ sich mehr und mehr gehen. Ertränkte seine Einsamkeit in Alkohol. Es verging kein Tag, an dem er nicht an seinen Sohn und seine Frau dachte. Doch er wusste, es gab kein zurück mehr.
Wie sein Sohn, er müsste mittlerweile fünfzehn Jahre alt sein, wohl heute aussah. Und seine Frau, die er immer noch glaubte zu lieben, hatte sie inzwischen wieder geheiratet? Klaus würde es nie erfahren, denn seine Mutter, die einzige Verbindung zu seinem alten Leben, war vor einiger Zeit gestorben. Was ihm blieb, waren die Sehnsucht, die Hoffnungslosigkeit und der Alkohol.
Er müsste sich beeilen, sonst würde er den richtigen Moment zum Sprung verpassen. Doch Klaus zögerte wieder mal. Was ließ er zurück? Herbert fiel ihm ein, bei dem hatte er noch eine Flasche Korn gut. Seine anderen Kumpels unter der Lombardsbrücke, die mit Klaus das wenige was sie hatten, teilten. Sich gegenseitig stützten.Mit ihnen konnte er lachen, saufen und streiten. Sie waren es, die ihn ab und zu ein Stückchen Heimat spüren ließen. War sein Leben wirklich so trostlos? Er konnte doch jetzt tun und lassen was er wollte. Er war frei, frei wie ein Vogel. Sicher, der Zug in sein früheres Leben war abgefahren. Aber er lebte noch. Das konnte er doch nicht aufgeben! Der Zug auf Gleis 12 fuhr ein. Klaus blickte hinunter.
Er spuckte auf den einfahrenden Zug, drehte sich um und verschwand in Richtung Lombardsbrücke.

 

Hallo coleratio,
danke fürs lesen meiner Geschichte. Ich freue mich sehr über deine Gedanken zu dem Thema Obdachlos und freue mich, dass du so darüber denkst. Ich finde deine Ausführung passt sehr gut zu meiner Geschichte. Danke für deinen lieben Kommentar.
glg
carrie :anstoss:

 

Hallo carrie,

ich habe Deine Geshcichte gern gelesen - nicht zuletzt, weil zufällig Hamburg bzw. inzwischen Kiel meine Heimat ist und ich derzeit wohl in die entgegengesetzte Richtung umziehen werde, also ins Ruhrgebiet! ;) Aber das nur am Rande.

Deine Sprache finde ich sehr eindringlich, die kleinen Nebengeschehen (der Vater mit seinem Sohn und die Reaktion Deines Protagonisten darauf, der Kuss etc.) sind gut eingeflochten, so dass sie der Geschichte Atmosphäre geben.

Besonders gut hat mir Dein Schlusssatz gefallen, da er Hoffnung gibt in einer situation, in der man es kaum noch erwartet. Danke, dass er nicht springt! :)

Um noch mal - auch wenn es dazu jetzt einen eigenen thread gibt - auf das "Heimat"-Problem zurückzukommen: Ich habe den Begriff in Deiner Geschichte völlig wertfrei empfunden und sehe das auch noch so, nachdem ich Flips Kommentare dazu gelesen habe.

Ich bin in gewisser Weise auch heimatverbunden, ohne dass meine Heimat nur noch aus Kindheitserinnerungen besteht (denn ich lebe nach wie vor in Norddeutschland) und erst recht ohne irgendwelche deutschtümelnden oder "völkischen" EMpfindungen dabei zu haben.

Dass Dein Prot seine Heimat verklärt betrachtet, als einen Ort, an dem alles besser war, hat mit völkisch rein gar nichts zu tun. Ich bin definitiv eine Gegnerin jeglicher Nazi-Anklänge, aber ich bin genauso strikt dagegen, aus völlig übertriebener Vorsicht alles in diese Richtung zu schieben, was auch nur entfernt daran erinnern kann. Es gibt einfach Begriffe, die missbraucht wurden, die aber dennoch weiterhin harmlose Bedeutungen haben, "Heimat" gehört dazu. Punkt.

Just my mustard. ;)

LG
chaosqueen

 

hallo chaosqueen,
ich freue mich natürlich ganz besonders über deine kritik.
Das dir meine Geschichte gefallen hat und du meine Sprache eindringlich findest, ist ein sehr großes Kompliment für mich. Das ich deiner Meinung nach Atmosphäre in die Geschichte gebracht habe, freut mich selbstverständlich auch.
Besonders aber deine Ausführungen zum Thema Heimat, genauso sehe ich es auch und genauso sollte es in der Geschichte rüberkommen. Und ich sehe es auch immer noch so, dass es mir durchaus gelungen ist. Auch ich habe mit deutschtümelnden oder völkischen Empfindungen absolut nichts am Hut und wäre auch nicht darauf gekommen, soetwas mit meiner GEschichte in Verbindung zu bringen.
Also vielen Dank nochmal für deine Ausführungen.
glg
carrie

 

Hallo carrie!

Nachträglich alles Gute zum Geburtstag! :)

Deine Geschichte hat mir trotz ihrer Kürze gut gefallen, da sie auf einfache Art zeigt, daß es gar nicht so einfach ist, sich umzubringen. Trotz der praktisch aussichtslosen Lage Deines Protagonisten ist etwas in ihm, das ihn nicht aufgeben läßt. So ist es zum Glück auch in den meisten Fällen (sonst würden sich noch viel mehr Leute umbringen…).
Der Selbsterhaltungstrieb kann einen selbst den kleinsten Grund als lebenswert erkennen lassen, wie sich im umgekehrten Fall die Gründe für einen Selbstmord aufblähen können, bis man nicht mehr an ihnen vorbeisieht.

Ich glaube, Flip hat eine andere Geschichte gelesen und sich dann beim Posten vertan…;)
Jedenfalls kann ich seinen Einwand hier überhaupt nicht nachvollziehen, nicht einmal, wenn ich mich sehr bemühe. Ich lese hier mehr sowas wie »Die Heimat ist da, wo das Herz ist«. :)

Etwas zu kurz ist sie für meinen Geschmack, allerdings liegt das eher an meiner Vorliebe, mich mehr in einer Geschichte verlieren zu können. Für Deine Geschichte paßt die Kürze eigentlich. Was ich eventuell noch ein bisserl ausbauen würde, allerdings auch um höchstens ein bis zwei Sätze (macht also die Geschichte nicht wesentlich länger), wären die Gedanken an seinen Sohn – daß er ihn vielleicht doch irgendwann wiedersehen könnte.

Ein paar Kleinigkeiten noch:

»Ein Leben mit Familie, einer anständigen Arbeit«
– »anständig« gefällt mir hier nicht, würde es durch etwas wie »geregelten«, »sich lohnenden«, »einträglichen«, »erfüllenden«, »abwechslungsreichen«, »interessanten«, usw. ersetzen

»Wie so oft dachte Klaus, was sollte er noch hier? Sicher er hatte seine Trinkkumpane.«
– »Wie schon oft« würde mir besser gefallen, und »was er denn noch hier sollte«
– Sicher, er

»engumschlungen küssten sie sich«
– eng umschlungen auseinander

»Und Klaus? Er stand hier, allein, fragte sich, wie das alles nur geschehen hatte können.«
– irgendwie gefallen mir solche Fragen wie »Und Klaus?« gar nicht in einer Geschichte (fragt der Erzähler sich selbst?, sollte ich mit »Weiß ich nicht« antworten?, glaubt der Erzähler, daß ich das frage?) Würde einfach »Klaus stand hier« schreiben, oder auch »Und Klaus stand hier«

»Klaus wollte damals nicht mehr in der gleichen Stadt wie sie leben und«
– würde etwas umstellen: Klaus wollte damals nicht mehr in der gleichen Stadt leben wie sie

»Doch mit der Sauferei war trotzdem nicht Schluss. Auch Gerda konnte es deshalb nicht mit ihm aushalten, also trennten sie sich.«
– ein bisschen oft verwendest Du »saufen« und »Sauferei«, würde es hier zum Beispiel durch »mit dem Trinken« ersetzen
– nach »aushalten« würd ich einen Punkt machen

»verdiente sich ein paar Mark mit Gelegenheitsarbeit.«
– Gelegenheitsarbeiten

»Doch er wusste, es gab kein zurück mehr.
Wie sein Sohn, er müsste mittlerweile fünfzehn Jahre alt sein, wohl heute aussah.«
– kein Zurück
– der zweite Satz ist eine Frage, würde daher ein Fragezeichen machen

»Und seine Frau, die er immer noch glaubte zu lieben,«
– würde entweder »die er immer noch zu liebe glaubte« schreiben, oder »er glaubte immer noch, sie zu lieben«

»Doch Klaus zögerte wieder mal.«
– »einmal« wäre schöner als »mal«

»die mit Klaus das wenige was sie hatten, teilten. Sich gegenseitig stützten.Mit ihnen«
– das Wenige, das sie hatten
– vor »Mit« fehlt die Leertaste


Liebe Grüße,
Susi :)

 

Hallo Haeferl,
erstmal danke fuer die Glueckwuensche. Und dann natuerlich fuers lesen meiner Geschichte. Das sie dir gut gefallen hat, freut mich auserordentlich. :D

Ich glaube, Flip hat eine andere Geschichte gelesen und sich dann beim Posten vertan…
Ja Haeferl, das wirds gewesen sein und ich hatte mich schon gewundert, wie er auf seine Einwaende kam. :thumbsup:
Das sie so kurz ist, liegt daran, dass ich in dem Fernlehrgang, den ich gemacht habe, auf kurz getrimmt wurde und es noch immer nicht so recht ablegen konnte. Wird sich aber sicher noch aendern.
Deine Verbesserungsvorschlaege werde ich demnaechst aendern. Danke fuer deine Muehe diesbezueglich.
Meinen Kommentar musst du aber nicht korrigieren. :lol:
Ich schreibe z.Zt. mit daenischer Tastatur, da gibt es unsere Umlaute leider nicht.
Also vielen Dank nochmal fuer deine Muehe.
glg
carrie

 

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