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Heimfahrt
Der Schnee deckt alles zu, das Heimliche und das Unheimliche. Und manchmal dreht er die Welt um und zeigt deren Innenseite.
Da fährt ein Auto spät nachts durch dichten Schneefall, die Lichtkegel der Scheinwerfer zeigen den Wald in hartem Schwarz-Weiß. Im Auto sitzen ein Junge und ein Mädchen, er lenkt den Wagen mit sicherer Hand.
Er, ein rotgesichtiger Bauernbursche mit stoischem Gemüt, unerschütterlich, schwergelenkig, langsam. Sie, eine Prinzessin der Nacht, nicht angemessen gekleidet für die Kälte da draußen, Schühchen und Seele so zart und silbrig wie Morgentau, das Gesicht ein bisschen verrucht, ihr Make up ist verschmiert, sie hat viel getanzt heute.
Sie heißt Nadine, er altmodisch Josef, und niemandem fällt ein, „Jo“ zu ihm zu sagen, es passt nicht.
Sie wendet Josef ihre kalte Seite zu, sie haben, seitdem sie eingestiegen sind, noch kein Wort gewechselt, auch, weil sie stinksauer ist. Er hat etwas für sie über, wie für fast alle Frauen, für sie sogar etwas mehr, Nadine spürt das, versucht es aber zu ignorieren. Sie gehört nicht ihm, sondern seinem besten Freund. Der liegt mittlerweile sicher mit einer Alkoholvergiftung auf einer Holzbank des Gasthauses, von dem sie gerade weggefahren sind. Es ist nicht weit in das Dorf, in dem sie wohnt.
Nadine denkt darüber nach, was sie ihrem Freund alles erzählen wird, wenn er wieder nüchtern ist, sie kocht sich innerlich hoch, die Enttäuschung darüber, dass er ihr heute in den stillen Stunden nach einem Fest wieder nicht gehören wird, muss unbedingt in Wut umgewandelt werden. Sie ist keine, die sich alles gefallen lässt! Und da sitzt sie nun neben diesem Deppen, der überhaupt nicht cool ist, sie tritt gegen die Verschalung des Wageninneren.
„Da kommt ja einiges runter!“
Wow, das Ding kann sprechen, denkt sie und antwortet: „Mhm.“
„So viel Schnee wie heuer gab´s schon lange nicht mehr.“
„Jo.“
„Tut der Natur aber gut, und vor allem dem Wald, wenn der Boden im Frühjahr gut durchfeuchtet ist!“
Was wird das jetzt, eine Bio-Stunde? Scheiß Bauer!
„Matti ist so ein Arsch!“, bricht es aus ihr heraus.
„Du kennst ihn doch“, sagt Josef vorsichtig, „der braucht das halt manchmal.“
„Der morgige Tag ist auch hin.“ Jetzt ist Nadine fast den Tränen nahe, aber vor Josef wird sie sicher nicht weinen.
Er sieht sie von der Seite an. Sie hat eine richtige Stupsnase, wenn sie ärgerlich ist. Josef lacht bei sich. Er würde keine Minute mit ihr auslassen, wenn er ihr Freund wäre, das weiß er ganz sicher. Die Reifen drehen auf der Schneefahrbahn durch, der Wagen schlingert ein wenig. Wenn er alleine unterwegs wäre, würde er das herausfordern und den Wagen driften lassen, aber jetzt hat er das zornige Zaubermädchen hier bei sich, sie ist kostbar und er will ihr keine Angst machen.
„Was machst du denn morgen ---“ Da taucht plötzlich eine vermummte Gestalt zwischen Schneeschleiern auf, Josef steigt möglichst weich auf die Bremse und steuert gleichzeitig auf die linke Straßenseite. Der Wagen schleudert nur leicht, und alles geht gut. Nadine neben ihm hat sich auf dem Sitz verkrampft. Im Rückspiegel sieht er, dass dieser Nachtschwärmer da noch immer weiter durch den Schnee stapft, als ob nichts gewesen wäre.
„Du fährst gut!“ Nadine wendet sich ihm zum ersten Mal an diesem Abend zu. „Matti, der Alki-Arsch, hätte die alte Krähe sicher zusammengeführt!“ Jetzt lacht sie sogar und sie dehnt sich wie eine Katze, um die Anspannung aus ihren Gliedern zu bekommen.
Josef lächelt zurück, er fühlt sich wirklich gut, schade, dass die Fahrt nicht mehr lange dauern wird. Zuerst ist die Freude da, aber dann kommen ihm Bedenken, wie es so seine Art ist. Wer war das? Scheint eine alte Frau gewesen zu sein, gebückte Haltung und schwarzes Kopftuch. Erkannt hat er sie nicht. Warum hatte die keinen Schirm dabei? Und es fällt ihm im Nachhinein auf, dass da kein Schnee auf Kopf und Schultern der Frau war. Weit konnte sie also noch nicht gegangen sein. Aber was macht die mitten in der Nacht da? Er hätte stehen bleiben sollen und fragen, ob sie mitfahren will. So ganz ohne ist das Wetter nicht, und wenn man alt ist, sicher eine Strapaze. Aber er gesteht sich ein, dass er das kleine Abenteuer, allein mit Nadine hier im Wagen zu sitzen, auskosten will. Und gleich vergisst er die Frau wieder.
Nadine plappert und plaudert nun munter, sie erzählt ihm von der Arbeit in einem kleinen Frisiersalon, von den Problemen mit den Eltern, weil sie Matti nicht mögen, und dass sie eigentlich lieber Sängerin wäre und dann singt sie ihm sogar was vor. Ihre überraschend dunkle Stimme schmiegt sich weich an ihn, und Josef, ganz eingehüllt in die Intimität der Situation, bemerkt lange nicht, dass sich etwas weiterdreht und etwas ganz anders wird.
Er blickt beiläufig in den Rückspiegel. Da ist etwas auf dem Rücksitz. Eine alte Frau. Ganz in Schwarz, das Kopftuch wirft tiefe Schatten über das eingefallene Gesicht. Sie rührt sich nicht, blickt starr geradeaus.
Josef erschrickt nicht, dafür ist er zu bedächtig, aber er weiß, es stimmt einfach alles nicht mehr. Er denkt nach, ob es möglich sei, dass die Frau sich vorher ins Auto gesetzt hat, als sie an ihr vorbeifuhren, aber nein, sie sind ja nie stehen geblieben. Vielleicht hat sich eine andere vorher beim Gasthaus auf der Rückbank versteckt, verrückte alte Frauen gibt es genug in der Gegend, aber er ist sich ganz sicher, dass das Auto abgesperrt gewesen ist. Josef kann es sich nicht erklären, wie er es auch dreht und wendet, so nimmt er es einfach hin, aber er macht sich vor allem wegen Nadine Sorgen.
„Schau nicht nach hinten!“, flüstert er, während er selbst die Augen nicht vom Spiegel lösen kann. „Wir sind ja gleich da.“
Nadine sieht ihn überrascht an, er hätte überhaupt nichts sagen sollen, und natürlich dreht sie den Kopf nach hinten.
So einen einen Laut, wie ihn Nadine jetzt macht, hat er noch nie in seinem Leben gehört, und es wird ihm kalt.
„Wir sehen sie beide, oder? Sie ist also wirklich da, oder?“ Nadine hebt abwehrend die Arme.
„Nein, nein, das kann ich nicht, das will ich nicht!“ Sie zieht den dünnen Pullover über den Kopf und rutscht wie ein Sack vom Sitz auf den Boden. Rollt sich ein.
„Mach, dass sie weggeht, mach, dass sie weggeht, mach, dass sie weggeht …“, wimmert sie.
Josef bringt den Wagen am Straßenrand zum Stehen. Seine Augen müssen das Bild im Spiegel aufgeben, als er aussteigt. Er öffnet die hintere Wagentür, aber die gepolsterte Bank ist leer, keine Spur von Nässe auf dem Boden oder auf dem Sitz.
„Sie ist weg.“
Er setzt sich wieder ins Auto, legt seine Hand auf Nadines Kopf. Sie zittert so stark, dass er glaubt, der ganze Wagen zittere.
„Nadine, vielleicht war es nur eine eigenartige Reflexion durch den Schnee und die Übermüdung … beides …“
Mit einer raschen Bewegung zieht sie sich den Pullover vom Kopf und sie kreischt:
„Weißt du es nicht? Kennst du nicht die Geschichte von der schwarzen alten Frau, die immer erscheint, kurz bevor Leute bei einem Verkehrsunfall ums Leben kommen?“
„Aber es sind nur noch drei Kilometer, es ist nichts passiert, ich werde aufpassen und ganz langsam fahren! Ich bin doch da.“ Wieder legt er ihr die Hand auf den Kopf.
„Nein, nein, nein!“ Sie bäumt sich auf und wirft dabei seine Hand ab.
„Wir gehen zu Fuß!“
„Nadine, das ist doch Blödsinn, wir brauchen nicht mal mehr zehn Minuten. Jetzt da zu Fuß zu gehen, das dauert noch eine Stunde, wahrscheinlich noch länger, wegen des Schnees, und wir sind für das nicht richtig angezogen.“
Sie krallt sich in seinen Oberschenkel:
„Bitte, bitte, Josef, lass uns gehen! Aber nicht auf der Straße, durch den Wald! Da gibt es keine Autos!“
Josef überlegt. Er hat noch Gummistiefel hinten im Kofferraum und eine alte Decke, die kann er Nadine geben.
„Also gut, ich kenn einen Weg, vielleicht sind wir da schneller.“
Ein Junge und ein Mädchen gehen durch den Winterwald, fast sehen sie glücklich aus, denn das Mädchen schmiegt sich ganz eng an ihn, und er, stämmig und breit, hat seinen Arm um ihre Schultern gelegt. Gelegentlich stolpert sie in den viel zu großen Gummistiefeln, und er hebt sie hoch und trägt sie ein Stück, bis der Weg wieder besser wird. Rundum knarren die Bäume unter der Last des Schnees, und manchmal zuckt sie zusammen und blickt sich um. Dann wickelt er sie wieder fester in die Decke und streichelt über ihr Gesicht und sagt, dass es bald gut sein wird, und dass sie morgen darüber lachen werden. Sie beruhigt sich und er ist stolz auf sich und sie. Das Weiß ringsum taucht alles in ein fahles Licht und da und dort steigen Schatten hoch.
Aber zu eng gehen sie nebeneinander her, ein dicker Ast muss der Last des Schnees nachgeben und trifft sie beide.
Da zuckt noch etwas unter dem Ast, hellorange leuchten die zerfetzten Holzfasern in der Morgendämmerung. Der Schnee fällt weiter und deckt alles zu, das Lebendige und das Tote.