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Heimkehr
Seit Kriegsbeginn malte ich mir immer wieder aus, wie ich reagieren würde, wenn Pa wiederkäme. Vielleicht riefe ich Ma herbei und wir würden ihm gemeinsam entgegen laufen. Oder wir würden das Haus herrichten, Essen zurecht machen und dort auf ihn warten. Manchmal glaubte ich gar, einfach in Ohnmacht fallen zu müssen. Beim Aufwachen sähe ich als erstes in sein Gesicht, in sein Lächeln, in seine Augen und seine Stimme würde meinen Namen flüstern. Ma würde vor Freude weinen, wir säßen lange zusammen und hielten uns in den Armen.
Es war ein heißer Sommertag, den ich auf der Veranda verbrachte. Ich spielte mit meiner Puppe, obwohl ich mir mittlerweile fast zu alt dafür vorkam. Sicher, ich war noch ein Kind, doch der Krieg hatte alles verändert. Ich musste oft an meinen Freund Marco denken, mit dem ich früher so viele Nachmittage unten am Fluss verbracht hatte. Seit sein Vater gemeinsam mit Pa weggegangen war, gab es diese Nachmittage nicht mehr. Marco hatte keine Zeit mehr. Als ich Ma danach fragte, antwortete sie, er sei jetzt der Mann im Haus seiner Familie. Sie weinte bei diesen Worten und ich wagte nicht mehr darüber zu sprechen. Nur manchmal wünschte ich mir, ein Junge zu sein. Dann hätte auch Ma einen Mann im Haus. Ich war kein Junge, aber von dem Tag an half ich ihr noch mehr als früher.
Ma war ins Dorf gegangen, um ein paar Besorgungen zu machen; ich sollte das Haus hüten und ein wenig spielen. Wie spielt man, wenn der Vater irgendwo in der Ferne ist, wenn man nicht weiß was er gerade macht und wie es ihm geht? Wie spielt man, wenn die Mutter mit den Tränen kämpft, sobald nach ihm fragt? Wie spielt man, wenn alles ungewiss ist, außer, dass irgendwo da draußen Krieg und Tod das Leben beherrschen? - Aber ich spürte Mas traurigen Blick auf mir, wenn ich an diese Dinge dachte und so setzte ich mich mit der Puppe vor die Tür.
Die Sonne schien auf meine verbrannten Beine, Vögel zwitscherten ihr Lied und ab und zu flatterte ein Schmetterling vorbei. Vögel singen auch, wenn anderswo Kanonen schießen. Auf eine Art fand ich diesen Gedanken tröstlich. Ob heute unten am Fluss viele Vögel in den Bäumen saßen? Ob man wieder den einen oder anderen Fisch im klaren Wasser sah? Ob sich die Kaninchen aus den Büschen wagen würden? Marco würde keine Zeit haben, aber ich hatte sie. Ein Blick auf die Uhr verriet mir, dass es noch früh war. Ma käme erst am Abend zurück und der Fluss war nah ... Ich lächelte. Marco würde nicht da sein, aber der Fluss schon. Vielleicht wartete er nur auf meinen Besuch.
Ich verriegelte das Haus und lief auf die Straße. Meine nackten Sohlen gruben sich in den weichen Sand. Ein streunender Hund folgte mir ein paar Schritte lang. Immer wieder versuchte er mit seiner nassen Nase an meine Beine zu stupsen und zum ersten Mal seit Wochen musste ich lachen.
Der kürzeste Weg zum Fluss führte über die Felder. Ma hatte mich oft gebeten nach Einbruch der Dämmerung diese Gegend zu meiden. Es war einsam dort, nur ein paar Landstreicher schlugen hin und wieder ihr Lager auf. Ich hatte ihr mein Versprechen gegeben, obwohl ich bei Tage nie jemanden bei den Feldern angetroffen hatte. Bis heute.
Zuerst kam mir der alte Schäfer in den Sinn, der früher bisweilen mit seiner Herde durch unseren Ort gezogen war. Als ich aber die Augen zusammenkniff um besser sehen zu können, erkannte ich, dass es keine Herde war. Was da über die Felder zog, waren Menschen. Dutzende von Menschen. Hunderte.
Ich blieb wie angewurzelt stehen bei diesem Anblick. Hunderte von Menschen, beladen mit Taschen und Säcken, die sich dem Dorf näherten. Meine Handflächen wurden feucht. Wer waren diese Fremden? Ich musste an Siedler denken, Pilgerväter, die ausgezogen waren um neues Land zu bevölkern. Doch hier gibt es kein freies Land. Mein Atem beschleunigte sich, während mein Verstand sich weigerte die einzige Möglichkeit in Betracht zu ziehen. Nein, denk nicht daran, sie können es nicht sein, wer auch immer diese Menschen sind, es kann nicht sein ...
Da stand ich in meinem zerschlissenen Kleid und wollte nicht glauben was meine Augen sahen und was mein Herz unablässlich in mir schrie: Sie sind heimgekehrt. Es ist vorbei. Sie sind heimgekehrt.
Mir schwindelte. Ich griff nach einem Baumstamm, um mich abzustützen. Meine Kehle war wie ausgedorrt. Tausend Gedanken schossen durch meinen Kopf, ein jeder zu lang um ihn bis zum Ende verfolgen zu können. Nur einer setzte sich durch und raunte mir zu, was zu tun sei. Ohne weiter zu überlegen gehorchte ich ihm. Meine Füße flogen über den Boden, während ich winkte und Vaters Namen schrie. Wollte ich früher zunächst zu meiner Mutter laufen oder meine Kleider richten, so dachte ich jetzt nur noch daran, meinen geliebten Vater in die Arme zu schließen.
Atemlos, verschwitzt und ausgelaugt stoße ich zu diesen Menschen. Das Herz hämmert in meiner Brust, als wolle es zerspringen, meine Blicke gleiten über die Männer, alles Männer, ich muss Recht haben, es sind Soldaten. Wo ist Vater? Es sind so viele Menschen und ihre Gesichter sind dunkel vor Schmutz. Ich rufe nach Vater, doch niemand dreht sich zu mir. Sie gehen weiter, immer weiter, passieren mich wie einen Strauch. Niemand sagt ein Wort. Ihre Blicke gehen an mir vorbei. Ich hoffe auf eine bekannte Gestalt, einen Nachbarn vielleicht. Wo ist Vater, jemand muss es mir sagen können. Ich laufe an den Männer vorbei, es sind alte, junge, große, kleine darunter, und alle sehen sie müde aus. Ihre Kleider sind zerfetzt, ihre Schritte langsam und gleichmäßig. Vater, bist du auch müde? Komm heim, komm heim zu uns! Da, dieser Hut, ich kenne ihn! - Nein, nicht Pa, aber Marcos Vater! Auch Marcos Vater kehrt heim. Ich rufe auch nach ihm, aber er hört mich nicht. Sie alle, alle ziehen an mir vorüber und starren mit leerem Blick in die Ferne.
Mit hängenden Schultern lasse ich die Männer passieren. Ein erdiger Geruch steigt mir in die Nase. Noch einmal hole ich Luft und rufe, winke; vergebens. Es ist als, wäre ich nicht da für sie.
Es mögen Minuten oder Stunden gewesen sein, die ich dort stand, bis ich begriff, ich weiß es nicht. Ich wusste mit einem Mal, dass Pa irgendwo unter diesen Männern war. Und ich wusste, dass er heimkehrte. Nach Hause. Nicht hierher. Nach Hause.
Zitternd ließ ich mich auf einen Stamm sinken. Ich durfte Pa nicht auf seinem Weg stören. Der Wind streichelte wie eine tröstende Hand durch meine Haare, als ich dem Zug bei seinem langsamen Marsch über die Felder nachsah. Bis er hinter dem Horizont verschwand.
Komm gut heim, Vater.