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Heimkehr
Er sah auf die Tachonadel, sie zeigte 160. Die Landschaft nahm er nur nebensächlich war. Eigentlich hatte er es gar nicht eilig, aber die Autobahn war einfach nicht zum Schleichen da. Er hatte beruflich ein paar Tage in der Schweiz verbracht und war nun auf dem Weg nach Hause und da er nun ein paar Tage Urlaub hatte, hätte es ihm eigentlich egal sein können, wann er wohl ankommen würde. Nur seine Frau erwartete ihn und die wusste nicht, wann er wiederkommen würde.
Jedenfalls schien die Tachonadel schon länger 160 anzuzeigen als er dachte und so fand er plötzlich auf einem Hinweisschild seine Heimatstadt wieder. Da er seit dem Frühstück nichts mehr gegessen hatte und nicht vor hatte diesen Zustand andauern zu lassen, fuhr er ohne lange nachzudenken an der nächsten Ausfahrt raus und wollte in seiner Heimatstadt eine Pause einlegen. Er fuhr ein paar Minuten durch eine Allee, bis das Ortsschild und die ersten Häuser die Bäume am Straßenrand ersetzten und ihn in seine Jugend zurückversetzten. Er spürte sein Herz klopfen, was er fast ein bisschen lächerlich fand.
Dann kam auf der rechten Seite auch schon der Bahnhof. Das Bahnhofsgebäude war immer noch in diesem verfallenem Zustand, den man eigentlich nur einem Kleinstadtbahnhof nicht übel nimmt, den man von diesem sogar irgendwie erwartet. Mit allem möglichen Unkraut an den Gleisen und dem abbröckelnden Putz an der Fassade. Er wunderte sich, dass dieser Zustand sich scheinbar seit den 20 Jahren, die er nun schon nicht mehr hier lebte, weder verbessert, noch verschlechtert hatte. Letzteres lag aber vermutlich einfach daran, dass man eine Verschlechterung erst dann bemerken würde, wenn das Gebäude eines Tages einfach in sich zusammenstürzen würde.
Die Vorstellung, das Tor zur Welt während seiner Jugend könnte einfach so zusammenstürzen, irritierte ihn. Was dachte er da nur für einen Schrott?
Er überlegte einen Augenblick, ob er anhalten sollte, aber er tat es nicht. Irgendetwas hinderte ihn daran, aber er konnte nicht in Worte fassen, was es war.
Er fuhr an dem Supermarkt vorbei, in dem seine Nachbarin gearbeitet hatte, sie war eine gute Freundin seiner Mutter gewesen. Deshalb mussten auch immer seine Freunde einkaufen gehen, wenn sie eine Party veranstalten wollten. Jedenfalls gehörte der Supermarkt zu diesen Dingen, die man sofort mit seiner Kindheit verbindet, die man aber eigentlich nie wirklich vermisst. Man hat sie eigentlich gar nicht in schlechter Erinnerung, im Gegenteil, aber sie gehörten einfach zum Alltag dazu und wahrscheinlich vermisst man sie genau deshalb eigentlich nicht. Vielleicht war das aber auch nur totaler Blödsinn den er sich da gerade ausdachte.
Er bog links ab und fuhr an dem Haus seiner ersten Freundin vorbei. Eine alte Frau stand am Fenster und schüttelte eine Decke aus. Das war jedenfalls nicht seine Freundin und ihre Mutter wird es auch nicht gewesen sein können, denn die war schon damals nicht mehr am Leben gewesen. Sie hatte gerade eine Straße überquert, als ein Autofahrer nicht bei Rot anhielt und sie einfach umgefahren hat. Aber so betrunken wie der Fahrer war, hat er das Ganze wahrscheinlich erst bemerkt, als die Polizei ihm erzählte was er getan hatte. Jedenfalls wohnte dann jetzt wohl jemand Anderes in dem Haus, was aber auch nur deshalb verwunderlich war, weil sich in der Erinnerung nie etwas verändert.
Er fuhr die Straße weiter entlang und kam endlich an das Haus seiner Eltern. Das heißt er kam an das Haus, dass seinen Eltern gehört hatte bevor sie vor 20 Jahren nach Amerika ausgewandert waren. Ein selbstständiger Softwareenwickler hat das Haus gekauft und eigentlich erinnert nur noch das Haus selber an das Bild, das er aus Kindheitstagen in Erinnerung hat. Sogar der große Kletterbaum stand nicht mehr im Vorgarten und nur für das Haus wollte er auch nicht anhalten. So fuhr er noch ein bisschen weiter, bis er an einer Kneipe anhielt. Er hatte hier oft mit seinen Freunden zusammengesessen, aber nun kannte er hier niemanden mehr, sogar die Bedienung war eine andere. Er aß also nur ein paar Bratkartoffeln mit Spiegelei, trank eine Cola und setzte sich wieder in sein Auto. Er verabschiedete sich innerlich von seiner Heimatstadt und setzte seine Reise fort, seine Reise nach Hause. Seinem Zuhause. Wo er erwartet wurde.