Heimkehr
Es war lange her, dass ich das letzte Mal hier gewesen bin. Jahre, in denen ich die Welt gesehen habe. Menschen kennen gelernt habe, die nie jemand in diesem Haus sehen wird. Momente, die mir in meinen Schlaf folgen und mich wach halten. Augenblicke, die mich auch nach drei Jahren noch zum Lachen bringen. Stunden, in denen ich dachte, dass es vorbei ist, dass ich nie wieder dieses Haus betreten werde. Minuten, in denen ich mich fragte, warum ich durch die Welt reise, ohne Heimat, ohne ein Zuhause. Sekunden, in denen ich frei war und nie wieder hier herkommen wollte.
Und dennoch stehe ich nun hier. Die Sonne scheint und bringt das weiß gestrichene Haus, in der Vorstadt zum leuchten. Die Beete sind immer noch voller Geranien, der Rase perfekt gestutzt und der Zaun frisch poliert.
Mit einem Rucksack und 5000 Euro in der Hosentasche, habe ich vor über acht Jahren dieses Haus hinter mir gelassen – zusammen mit allen, die in ihm leben. Ich hatte nie zu den Menschen hinter den Mauern gepasst. Und wenn ich ehrlich war, war ich immer Stolz darauf gewesen.
In der Auffahrt steht kein Auto. Ich greife nach der Kette um meinen Hals, öffne den Verschluss und lasse den Schlüssel, in meine Hand gleiten.
Acht Jahre.
Meine Hände zittern ein wenig, als ich den kleinen Gegenstand in das Schloss stecke und drehe. Er passt.
Bevor ich die Tür aufschwingen lasse atme ich einmal tief durch. Es ist dasselbe Haus wie damals. Derselbe Teppich, dieselbe fliederfarbene Tapete, die gleichen Möbel, der gleiche Geruch – frischgebackene Kekse und Hundefell.
Zuhause.
Meine Stiefel machen ein komisches Geräusch auf dem Teppich, das mich inne halten lässt, meinen Blick durch den offenen Eingang gleiten lässt. Vor mir führt die Treppe in den ersten Stock – dort liegen die Schlafzimmer. Rechts von mir kann ich in die Küche sehen, in der meine Mutter Stunden verbrachte. Und links von mir liegt das Wohnzimmer, in dem sich mein Vater und seine Freunde jeden Sonntag die Autorennen ansahen.
Durch die Fenster fallen Streifen des Sonnenlichts. Wie oft stand ich in dieser Tür und habe diese Sonnenflecken auf dem Boden, den Küchengeräten, Möbeln, dem Treppengeländer gesehen?
Ich lasse meine Tasche auf den Boden fallen und blicke mich etwas genauer um – Alles scheint unverändert. Als hätte die Zeit aufgehört zu existieren, seit ich weg bin. Als hätte die Welt aufgehört sich zu drehen.
Dann fällt mein Blick auf die Wand neben der Treppe – Die Familiengalerie.
Die Zeit stand nicht still.
Neben dem Hochzeitsfoto meiner Eltern hängt ein weiteres Hochzeitsbild. Ich muss näher heran gehen, um zu erkennen, dass meine Schwester die wunderschöne Braut ist, die einen Mann anlächelt, den ich nicht kenne.
Sie ist bildschön, glücklich.
Neben einem alten Bild meiner Großmutter hängt ein Bild meines Bruders, der ein Baby im Arm hält, das genauso aussieht wie er. Neben ihm steht eine attraktive junge Frau mit schwarzem, dichtem Haar, die liebevoll lächelt.
Das letzte Bild, am oberen Ende der Treppe, ist ein Familienfoto. Meine Schwester, ihr Mann, meine Eltern, mein Bruder, die Frau mit den schwarzen Haaren, auf ihrem Arm ein deutlich älteres Mädchen, meine Großmutter und mein kleine Schwester, die fast wie unsere Mutter aussieht. Sie wirken glücklich, als sei all das ein riesen großer Spaß.
Ich war zu der Zeit vielleicht in Peru und bestieg den Yerupaja oder in China, um in einem Waisenhaus auszuhelfen. Vielleicht auch im australischen Outback.
Darunter hängt das Familienfoto, das kurz vor meinem Aufbruch aufgenommen wurde. Ich hatte damals kinnlanges knallrotes Haar. Mein Vater hat einen verkniffen Ausdruck um den Mund. Meine Mutter versucht krampfhaft zu lächeln. Mein Bruder und meine beiden Schwestern schauen gelangweilt und ich schaue in die Kamera, als wollte ich den Fotografen umbringen. Ich kann mich noch an diesen Tag erinnern. Ich hatte damals schon längst alles für meine Flucht geplant. Ich hatte sogar schon den Flug nach New York gebucht – das erste Ziel auf meiner Liste. Meine Familie hatte ich noch nicht eingeweiht.
Damals war ich mir nicht einmal sicher, ob ich überhaupt noch ein Teil von ihnen war. Und heute, heute bin ich mir sicher, dass ich nun kein Teil mehr von ihnen bin.
Im Flur, am Kopf der Treppe liegt ein neuer Läufer, der Rest ist unverändert. Sechs Zimmer verbergen sich hinter den bunt gestrichenen Türen. Jeder von uns durfte sich die Farbe seiner Tür selbst aussuchen. Meine ist rot. Die meiner keinen Schwester rosa, die meines Bruders Blau, die meiner großen Schwester lila, die Türen zum Gästezimmer blieb weiß genau wie die zum Schlafzimmer meiner Eltern. Abgesehen von den bunten Handabdrücken, die meine Geschwister und ich auf die Tür machen durften, als jeder von uns fünf wurde.
Für einen Augenblick will ich umkehren, mich in den nächsten Flieger irgendwohin setzen und nie wieder zurückkommen - so, wie es geplant war.
Weglaufen.
Doch dann straffe ich die Schultern und lege meine Hand vorsichtig auf die Klinke der roten Tür, bereite mich darauf vor ein weiteres Gästezimmer vorzufinden. Ich atme einmal tief durch, sauge den Geruch dieses Hauses in mir auf und stoße die Tür in den Raum.
Sofort steigen mir Tränen in die Augen. Das Himmelbett mit den vielen Kissen sieht frisch gemacht aus. Auf dem Schreibtisch liegt immer noch die Biografie von Che Guevara, die ich vor meinem Aufbruch durch gelesen hatte. Auf der Schminkkomode, die ich zu meinem 14ten Geburtstag gekommen hatte, stehen immer noch die gleichen Parfümflakons. Um den Spiegel hängen immer noch die Fotos, die ich dort mit den Nähnadeln meiner Mutter festgesteckt hatte. Und vor dem Fenster steht noch immer der Korbstuhl, in dem ich viele Nächte aus dem Fenster sah und mich fragte, wohin es mich einmal verschlagen würde. Selbst die dunkelblaue Decke, in die ich mich immer gehüllt hatte, hängt noch genauso über der Lehne, wie ich sie verlassen habe.
Die Poster an den Wänden weisen nicht den Hauch von Staub auf, als wäre ich erst gestern weggegangen. Als seien all die Jahre nur ein Traum. Doch eine Sache hat sich verändert. In der Weltkarte, auf der ich mit Edding meine Ziele eingetragen habe, stecken rote Stecknadeln.
Als ich näher an sie herantrete stockt mir der Atem: New York, L.A., Las Vegas, Peru, Namibia, London, Moskau, Sydney, Peking… In der feinen Handschrift meines Vaters stehen Jahreszahlen unter den roten Markierungen.
Mein Leben.
Und als ich mich umdrehe stehen sie im Türrahmen. Falten haben sich um die Augen meiner Eltern gebildet, die Haare sind grauer, als ich sie in Erinnerung habe. Meine Mutter hält sich die Hand vor den Mund, als wollte sie einen Schrei unterdrücken und mein Vater hat einen Arm um sie gelegt.
Beide schauen mich an und ich stehe vor der Karte meines Lebens und bin wieder Zuhause.