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Heimweh

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21.06.2001
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Heimweh

Dr. Wondratschek stand in seinem Labor und fummelte gerade an einer wahnsinnig kompliziert aussehenden Apparatur herum, die bedrohlich über einem Käfig voller Zwerghühner hing, als es an der Tür klingelte. Der Doktor wunderte sich etwas, denn zu solch einer Zeit – es war kurz nach drei Uhr nachts – war Besuch doch recht ungewöhnlich. Er streifte seine gelben Gummihandschuhe ab, beruhigte die aufgebrachten Hühner und ging dann – leicht genervt ob der Störung – zur Tür des Labors, die sich am anderen Ende des Raumes befand. Eher unwillig lugte er durch den Türspion, um sich den Störenfried anzusehen und schreckte heftig zurück. Vor seiner Tür stand nicht das, was man normalerweise erwartet, wenn es an der Tür klingelt. Dort stand etwas, von dem die meisten Leute sich vielmehr wünschen, daß es niemals an ihrer Tür klingelt. Es war ein ungefähr drei Meter großer, düster dreinblickender Affe oder Affenmensch oder Weißderteufelwas mit grün leuchtenden Augen, die tief in den Höhlen seines massigen Schädels lagen.
Er stand dort und bohrte äußerst engagiert in seiner geräumigen Nase herum.
Der Doktor schloß die Augen und atmete ein paar Mal tief durch. Langsam drehte er sich um und lehnte sich gegen die Tür. Für eine Minute schien sich der Raum auf unangenehme Art und Weise um sich selbst zu drehen, und der Doktor beschloß etwas dagegen zu unternehmen. Das einzige was ihm einfiel, war umzufallen, und deshalb tat er es. Nachdem er sich wieder aufgerappelt, ein paarmal mit den Händen durch die Haare gefahren war und laut und deutlich „Hu!“ gesagt hatte, fühlte er sich schon ein wenig besser und beschloß, noch einmal durch den Türspion zu blinzeln.
Der Anblick war vom ästhetischen Aspekt her zwar nicht gelungener, aber irgendwie psychisch erträglicher als beim ersten Mal.
Der Doktor nahm sich zusammen und die Zeit, das Monstrum genauer zu betrachten.
Das Ding besaß eine respektable Anzahl großer gelber Zähne, die vermutlich noch nie eine Zahnbürste gesehen hatten und eine platte Boxernase, welche die erwähnten ungeheuren Nasenlöcher beherbergte. Die Schultern waren etwa so breit, wie der Doktor hoch war und die mächtigen Arme mit Muskelpaketen besetzt, die den Umfang von mittleren Bierfässern hatten. Der ganze riesige Körper war von oben bis unten mit langem, zotteligem Fell bedeckt, in dem einige Schlammklumpen hingen, die albern hin und her baumelten, was der gesamten Erscheinung große Ähnlichkeit mit einem schmuddeligen Weihnachtsbaum verlieh und in Verbindung mit ihrem leicht debilen Gesichtsausdruck geradezu lachhaft wirkte.
Aber nach Lachen war dem Doktor ganz und gar nicht zumute. Erneut schloß er die Augen und schluckte.
Wie war so etwas möglich?
Damals, während des Studiums, hatte er gelernt, daß Berichte über angeblich gesichtete Monster reiner Humbug seien, Hirngespinste langhaariger Chaoten, die kein Fleisch aßen, Spandex-Hosen trugen und laute Musik mit Stromgitarren hörten. Ein Greuel für jeden ernsthaften Wissenschaftler, absolut widerlich und nicht ernst zu nehmen.
Was zum Teufel waren überhaupt Spandex-Hosen? Gab es die Dinger heutzutage noch zu kaufen? Er würde sich bei nächster Gelegenheit bei seinem Herrenausstatter erkundigen.
Aber das war nicht wichtig. Wichtig war, daß dieses Vieh immer noch vor seiner Tür stand und er – das wurde ihm schlagartig bewußt – keinerlei Waffen zur Verteidigung hatte. Was, wenn das Ding gefährlich war, wenn es ihn töten wollte?
Von was ernährten sich solche Ungeheuer eigentlich?
Dem Doktor wurde übel.
Er begann fieberhaft zu überlegen, was zu tun sei, und hoffte, der Affenmensch würde von alleine verschwinden, sobald er merkte, daß niemand öffnete, als es erneut klingelte. Der Doktor fuhr herum und spähte abermals durch den Spion.
Auf dem Flur hatte sich wider erwarten nichts geändert. Starr und stumm wie ein Ölgötze stand das Ungetüm vor der Tür, und es sah nicht so aus, als habe es vor, sich in den nächsten Tagen vom Fleck zu rühren.
„Oh Scheiße“, dachte der Doktor. „Was soll ich nur.........“
Er wurde jäh durch lautes Gegackere unterbrochen: die Zwerghühner, denen es inzwischen langweilig geworden war, hatten es geschafft, den Käfig zu öffnen und die Flasche Magenbitter entdeckt, die sich der Doktor für besondere Erfolge aufgehoben hatte. Einem der Hühner war es gelungen, die Flasche zu öffnen, und so saßen sie alle in einer Runde auf dem Fußboden und becherten, was das Zeug hielt. Während der Doktor versuchte, zu retten, was zu retten war, tönte es laut und vernehmlich aus dem Flur:
„He, machen sie auf, ich weiß, daß jemand da ist!“
Der Doktor erstarrte. Schweißtropfen standen auf seiner Stirn, und das Herz schlug ihm bis zum Hals.
„Aufmachen!“, rief es wieder. Gleichzeitig wummerte das Dings von außen gegen die Tür.
Die Lage spitzte sich zu. Der Doktor war verzweifelt. Gab es denn nichts, was er tun konnte? Früher oder später würde das Monster Kleinholz aus der Tür machen, dessen war er sich sicher. Er erinnerte sich, früher einmal eine Schrotflinte im Wandschrank gehabt zu haben, aber das war lange her. Außerdem waren ihm Geräte, die auf Knopfdruck hin laute Geräusche von sich gaben, unheimlich. Den Wischmop als Lanze zu gebrauchen, wäre ihm angesichts der Körpergröße seines Feindes lächerlich vorgekommen. Es fanden sich auch keine bunt blubbernden Chemikalien, die er dem Ding ins Gesicht hätte schütten können, zumindest keine, die eine wünschenswerte Reaktion erwarten ließen. Eine Hintertür oder ein Fenster gab es nicht, er saß hoffnungslos in der Falle. Es blieb nur noch eines. Den Blick fest geradeaus gerichtet, atmete er noch einmal tief durch, legte eine Hand auf die Türklinke und öffnete dann dem unheimlichen Besucher
„Hallo“, sagte das Ding.
„Hallo“, echote der Doktor.
„Yeti“, stellte das Ding sich vor und reichte dem Doktor zur Begrüßung eine seiner Pranken, die früher einmal ein Schaufelbagger gewesen sein mußte.
Der Doktor starrte sie an.
„Möchten sie vielleicht eine Zeitschrift abonnieren?“ fragte das Ding weiter. Davon hatte es nämlich den ganzen Arm voll. In der Hauptsache handelte es sich dabei um reichlich niveaulose Hausfrauengazetten mit massenhaft sinnlosen Diättips und noch hässlicheren Strickmustern, aber auch ein durchweg vierfarbiges Herrenmagazin in Hochglanzausführung befand sich darunter.
„Nö“, sagte der Doktor hastig, in der Hoffnung, diese Begegnung möglichst schnell beenden zu können. Doch der Yeti ließ sich nicht so ohne weiteres abwimmeln.
„Wenn sie jetzt abonnieren“, fuhr er ungerührt fort, „können sie eine Reise zu den ganz unglaublichsten Orten der Welt gewinnen!“ Dieser sehr vagen Versprechung ließ er eine Grimasse folgen, von der er wohl annahm, daß sie in etwa so was wie ein Lächeln darstellen könnte. Der Doktor stand wie versteinert. Abgesehen von der Tatsache, daß er noch nie einen Yeti gesehen hatte, ganz zu schweigen von einem, der Zeitungen verkaufte, war er von dem Herrenmagazin völlig in den Bann gezogen. Auf dem Titelbild waren zwei mehr oder weniger bekleidete junge Damen abgelichtet, die – unterstützt von einem wohlproportionierten Herren - etwas ausübten, von dem der Doktor immer angenommen hatte, es sei entweder längst verboten oder bestenfalls im Tierreich bekannt. Einen Moment lang überkam den Doktor ein kribbelndes Gefühl in der Leistengegend, dann entsann er sich der momentanen Situation und rückte seine Hormone wieder zurecht.
„Wie war das?“ fragte er, leicht benommen und sichtlich um einen seriösen Tonfall bemüht.
Der Yeti glubschte ihn an.
„Na ja abonnieren halt“, erklärte er. „Sie unterschreiben hier“ – er wedelte mit einigen Zetteln herum – „und kriegen das Zeug für ein Jahr ins Haus, ohne Porto. Sie sparen den Weg zum Kiosk, kein Frust, wenn das Heft ausverkauft ist, und sie bekommen als Vorzugskunde alle zwei Monate den Katalog unseres CD-Versandhandels gratis dazu. Tja, und wenn sie ganz viel Glück haben, die Weltreise obendrauf! Wär´ das nix?“
Wieder bemühte er sich, ein freundliches Gesicht zustande zu bringen, wobei es ihm diesmal sogar fast gelang.
Dr. Wondratschek war noch immer unfähig einen klaren Gedanken zu fassen.
„Eine Weltreise“, murmelte er versonnen, während sich vor seinem geistigen Auge ein Bild formte, in dem der Yeti und die Magazindamen eine wesentliche Rolle spielten. Möglicherweise an der Copacabana oder Malibu Beach. Er seufzte tief, wurde aber sogleich in die Wirklichkeit zurückgeholt, als der zottelige Riese ihn sanft auf die Schulter tippte.
„Entschuldigen sie“, hüstelte der Yeti leise und fletschte dabei seine Zähne wie eh und je.
Der Doktor schreckte auf.
„Was?“ fragte er verwirrt. Der Affenmensch zuckte erschrocken zurück.
„Ich wollte nur fragen“, begann er schüchtern „sind das da nicht nordvietnamesische Zwerghühner?“
Er deutete auf das Trinkgelage auf dem Fußboden, das inzwischen beängstigende Ausmaße angenommen hatte. Die halbe Flasche Magenbitter war von den Hühnern geleert worden, und sie konnten sich nur noch mit Mühe auf den Beinen halten. Die Szene hatte etwas äußerst Seltsames an sich, aber das registrierte der Doktor eher unbewußt. Im Vergleich zu Zeitungsyetis erschien sie ihm jedenfalls absolut normal. Er überlegte, ob er sich nicht einfach dazusetzen sollte. Ein Schnaps konnte jetzt wahrlich nicht schaden.
„Mir scheint, daß sie betrunken sind“ begann das Ungeheuer wieder.
„Wer? Ich?“
„Nein, die Hühner“, entgegnete der Schneemensch
„Jaja, das sind sie wohl“, lallte der Doktor. „Warum auch nicht?“
Es war ihm tatsächlich egal.
Der Yeti erwiderte nichts. Ein langes Schweigen begann, in dessen Verlauf das Monster mehrmals ein verlegenes Hüsteln anbrachte und ab und zu sein furchterregendes Lächeln zeigte. Dr. Wondratschek tat nichts dergleichen. Er hatte genug damit zu tun, seine total aus den Fugen geratene Weltsicht zu korrigieren. In seinem Kopf randalierten grausige Chimären aus Huhn und Affe umher, die lustig im Kreis sprangen und sich gegenseitig Zeitungen zuwarfen. „Interessant“, dachte der Doktor. „Äußerst interessant.“ Von derlei visuellen Abartigkeiten abgesehen, ging es ihm im Moment eigentlich ausgesprochen gut. Einzig und allein die Tatsache, daß einer dieser imaginären Mutanten anscheinend den Weg aus seinem Kopf hinaus bis vor die Labortür gefunden hatte, stieß ihm etwas auf. Aber was machte das schon? Vielleicht war er nur gekommen, um sich für seine ungewollte Präsenz zu entschuldigen.
Und tatsächlich:
„Ähm, Entschuldigung, ich geh´ dann mal besser!“ sagte der Yeti, der berechtigterweise nicht mehr so ganz vom intakten Geisteszustand seines Gegenüber überzeugt war.
Er stieß auf eine Mauer des Schweigens.
Doktor Wondratschek war noch immer nicht ansprechbar. In seinem Gehirn hatten sich gerade ein paar neue Synapsen gebildet, die ab sofort ausschließlich für Yetis und Zeitungsabonnements zuständig sein würden. Dafür war eine ganze Batterie normaler Konversations - Synapsen jämmerlich zugrunde gegangen. Ein freundliches „Wie geht´s denn so?“ oder die Frage „Was kostet das Kilo Trockenpflaumen?“ waren nun für immer und unwiderruflich aus seinem Gedächtnis gelöscht. Äußerlich hatte er einiges von seiner in Gesellschaftskreisen hochgeschätzten Contenance verloren, was sich in einem leicht wirren Blick und nervösen Zuckungen des rechten Mundwinkels niederschlug.
Dem Yeti wurde die Angelegenheit zusehends peinlicher. In seiner bisherigen Karriere als Abonnenten – Werber hatte er etwas Vergleichbares noch nicht erlebt. Sicher, der ein oder andere Kunde wies beträchtliche Macken auf, aber die hielten sich in Grenzen. Ungern erinnerte er sich zum Beispiel an den blonden Schnauzbartträger, den er letzte Woche besucht hatte. Selten, wenn überhaupt in seinem ganzen Leben, hatte der Yeti eine dermaßen stumpfsinnige Unterhaltung geführt. Worum es dabei ging, war ihm schon wieder entfallen. Außerhalb seines bewußten Wahrnehmungsfeldes hatte eine Abwehrreaktion des Körpers eingesetzt, der sich für derartige Notfälle die Maßnahme vorbehielt, das Kurzzeitgedächtnis künstlich ins Koma zu versetzen, um größeren Schaden zu verhindern. Schließlich hatte er dem Kerl aber drei Abos aufschwatzen können. Tittenblätter natürlich. Aber die las er eigentlich auch selber am liebsten.
Nur dieser Kunde hier, der machte ihm tatsächlich ein bißchen Angst.
„Na ja, was soll´s“, dachte sich der Yeti. Er wandte sich gerade zum Gehen, als er unsanft am Fell gepackt und herumgezogen wurde.
„Ich will abonnieren!“
„Wie bitte?“
„Jetzt, sofort! Her mit dem Zeug!“ Der Doktor wies nun alle Anzeichen einer ernsthaften Störung auf. Er entriß dem verdutzten Yeti den Zeitschriftenstapel und begann, wahllos die umherfliegenden Zettel auszufüllen. Dabei störte es ihn wenig, daß sich die inzwischen gänzlich orientierungslosen Zwerghühner ihren schlingernden und äußerst unsicheren Weg aus der Tür und zur nächsten Bushaltestelle bahnten, von wo aus sie ihre weite Reise in den mittleren Westen der USA antraten, um reich und berühmt zu werden.
Wie gesagt, dem Doktor war es egal.
Er hüpfte ausgelassen in einem bizarren Regen aus Formularen umher und sang dazu alte kyrillische Weisen, die ihn seine Großmutter gelehrt hatte. Alles deutete darauf hin, daß ihm die ganze Sache mächtig Spaß machte, und so beließ er es nicht dabei, mehr als ein Dutzend Zeitschriften zweifelhaften Inhalts zu bestellen, sondern füllte auch seine längst überfällige Einkommensteuererklärung aus, um sie freudestrahlend dem Yeti in die Hand zu drücken.
Der war inzwischen davon überzeugt, einen schrecklichen Fehler begangen zu haben, zu versuchen, dem berühmten Dr. Wondratschek Zeitungen aufzuschwatzen. Er fühlte sich unangenehm an seine Kindheit in den schneebedeckten Schluchten des Himalaya erinnert, wo sich die ansonsten recht umgänglichen tibetanischen Mönche alljährlich zur Karnevalszeit in unerträgliche Saufnasen verwandelten, die, sobald sie einen im Kahn hatten, einen derartigen Schwachsinn von sich gaben, daß man keine fünf Minuten zuhören konnte.
In seinen Luftsprüngen und dem irren Gekichere ähnelte der Doktor auf frappierende Weise jenen benebelten Mönchen, einzig seine planlose Schreiberei wäre ihnen in ihrem jammervollen Zustand nicht mehr möglich gewesen.
„Traurig, traurig“, dachte der Yeti. Und obwohl es beileibe keine angenehme Erfahrung gewesen war, literweise Reiswein übers Fell geschüttet zu bekommen, packte ihn in diesem Moment fürchterliches Heimweh.

 

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