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Heimwehg
Montagmorgen. Kurz vor sieben. Er saß hinter dem Steuer seines Autos und befand sich auf dem Nachhauseweg. Auf dem Nachhauseweg von der Nachtschicht. Er war im Werkschutz tätig. Auf gut Deutsch, er war ein Nachtwächter. Aber Werkschutz hörte sich besser an. Vielleicht politisch korrekter, auf jeden Fall bedeutungsvoller. Tut es immer noch. Also lassen wir's dabei bewenden und damit gut sein. Tut auch nichts weiter zur Sache.
Auf jeden Fall und wie auch immer, es war also Montagmorgen, kurz vor sieben, und er war auf dem Nachhauseweg von der Nachtschicht. Zwölf Stunden am Stück hatte er sorgfältig auf irgendeinen Scheißdreck aufgepasst, der niemanden interessierte und nie jemanden interessieren würde; hatte er gegen die Müdigkeit angekämpft und gegen die Langeweile, diese tödliche, mörderische Langeweile – und hatte diesen Kampf ... Nun, er hatte ihn zumindest nicht verloren. Immerhin. Auf die Schultern klopfte ihm dafür jedoch niemand. Aber das war auch nicht zu erwarten.
Gut, er saß also in seinem Auto und fuhr gen Heimat. Dicke Regentropfen prasselten auf die Windschutzscheibe, der Scheibenwischer lief auf vollen Touren. Scheiße auch, dieser Tag schien keinen Funken schöner zu werden als der vorherige gewesen war. Aber das war wohl ebenfalls nicht zu erwarten ...
Aus dem Autoradio tönten die Stones. Das Autoradio hält schön wach auf dem Heimweg, war ihm aus Erfahrung bewusst.
„I can‘t get no satisfaction ...“, jaulte Mick Jagger.
„Oh Mann, der Kerl hat das große Los gezogen“, dachte er sich unwillkürlich.
„Der alte Sack ist doch hässlich wie die Nacht – und trotzdem: scheffelt Millionen und kriegt alle Weiber, die er nur haben will. Ohne Probleme. Braucht bloß mit 'm Finger zu schnippen, und peng ...“
Er fuhr weiter. Ausgelaugt. Mitten rein in die Regenwand. Autoradio, halt mich wach ...
„... ‘cause I try ...“
Der Scheibenwischer wischte stur vor sich hin. Die Autobahn bahnte sich in all ihrer monotonen Schönheit unbeirrt den Weg durch sterbende Bäume hindurch. Der Stärkere setzt sich eben durch. Der Regen versperrte zwar die Sicht, so gut er nur konnte, aber trotzdem: Danke, mein Führer. Danke! Ohne dich müsste ich die ganze Strecke auf der Landstraße zurücklegen ...
„I can‘t get no ...“
All die Weiber! All das Geld! Der Erfolg, die Anerkennung ...
„... satisfaction ...“
„Ach, halt doch deine blöde Fresse“, brüllte er plötzlich, während er sich weiter durch den Regen focht (der Stärkere setzt sich durch ...), „scheiß auf deine Weiber und dein Geld! Du Wichser hast doch garantiert noch nie auch nur einmal in deinem Leben zwölf Stunden Nachtschicht gearbeitet! Du hast doch keine Ahnung, du Fickgesicht! Wer bist du, dass du dein Maul aufreißt? Dass du mir irgendwas erzählen willst?“
Das Autoradio hielt wirklich schön wach. Auf welche Art und Weise auch immer.
Arschloch.
Dumme SAU!
NICHTSNUTZ!!!
Er drosch auf den Knopf, der für die Senderwahl zuständig war. Drückte aufs Gaspedal. Der Regen peitschte weiterhin ohne Unterlass auf die Windschutzscheibe ein. Nirgendwo irgendetwas Hörenswertes. Nur Dreck. Auf 92,7 riss ein lustiger DJ traurige Sprüche, auf 99,5 sagte der Wetterbericht weitere Schauer und nur gelegentliche sonnige Abschnitte voraus, auf 102,35 waren dann wieder die Stones zu hören. I can‘t get no ...
Er schaltete das Radio mit einer schwungvollen Bewegung aus. Ja, es hielt wach. Auf welche Art und Weise auch immer.
Jagger.
Warum kriegten die einen alles und die anderen eher nichts als wenig? Warum gehörte er zu den anderen? Warum plagte und mühte er sich ab, um letztendlich doch bloß einigermaßen über die Runden zu kommen? Warum lief ihm nie etwas vor die Flinte? Warum sollte, ja MUSSTE man für diesen ganzen Scheißdreck auch noch dankbar sein?
„Aus dir wird nie etwas!“, hatte sein Vater einst gesagt. Mehr als nur einmal. Irgendwie fiel ihm das gerade in dem Moment wieder ein.
„HAHAHA!“, lachte er unvermittelt los, „komm, Papi, schau her. SCHAU MICH AN: Ich hab einen Job, ein Auto und ein Dach über dem Kopf. Das hättest du wohl nicht gedacht, was?"
Das Armaturenbrett gab ihm keine Antwort. Er fuhr weiter, noch wenige Minuten bis zur Ausfahrt, und dann ...
„SCHEISSE, WAS SOLL DAS JETZT?“
Das durfte doch wohl nicht wahr sein: Vor ihm tauchten drei fette Sattelschlepper n.e.b.e.n.e.i.n.a.n.d.e.r. auf! NEBENEINANDER!!!!! Nicht nur, dass er abgespannt war, nicht nur, dass es in Strömen regnete, nein: DIESE ARSCHGEIGEN BLOCKIERTEN DIE GANZE
VERHURTE FAHRBAHN!!!! ALLE DREI GOTTVERFLUCHTEN SPUREN!!!!!!!! GENAU VOR SEINER NASE!!!!!!!!!!!!!!!!
Irgendwo mähten genau in diesem Moment Moslems Christen nieder, irgendwo anders erzielten die Christen den Ausgleich. Irgendwo stach ein Junkie gerade eine Oma ab, um an Geld für seinen nächsten Schuss zu kommen. Irgendwo vergewaltigte gerade ein fettes Schwein eine Zwölfjährige. Irgendwo verdrosch ein Besoffener gerade seinen kleinen Sohn. Irgendwo stellten sie gerade einen Unschuldigen an die Wand. Hier fuhren drei verschissene Laster nebeneinander vor ihm her ...
Er hämmerte mit der flachen rechte Hand auf das Lenkrand. Im Stakkato. Fluchte, pöbelte. Sah das Spritzwasser auf sich zuschießen. Fragte sich verzweifelt, warum sich sein verdammter Pkw nicht in einen Schützenpanzer verwandeln konnte, wenigstens für kurze Zeit. Tat es und wusste doch, dass es nichts änderte. Dass sich nie etwas ändern würde.
Man musste gewisse Sachen einfach hinnehmen, schlucken, runterwürgen. Sich gefallen lassen. Sich damit abfinden. Weil die anderen am längeren Hebel saßen. Und wenn es sich dabei auch nur um den längeren Schaltknüppel handelte.
So war es schon immer, so würde es immer sein. Dass es nicht EINZUSEHEN war, änderte an diesem Sachverhalt rein gar nichts ...
Irgendwann scherte der LKW auf der linken Spur wieder auf die mittlere ein.
Vor jenem auf eben jener.
Der Stärkere setzt sich eben durch.
NA ENDLICH, VERDAMMTE SCHEISSE!
Er gab Vollgas, zog an den Lkw vorbei und zeigte den Kapitänen der Autobahn (nicht der Landstraße, danke, mein Führer ...) den Finger. Ob diese ihn nun sehen konnten oder nicht, war ihm absolut scheißegal. Hauptsache, er zeigte ihn ...
Er war auf hundertachtzig. Der Tacho zeigte hundertvierzig.
Und das war dann doch etwas zuviel, bei dem Regen, bei der rutschigen Fahrbahn. Seine Vernunft – oder wie auch immer man das nennen wollte – stieß bei ihm tatsächlich noch auf Gehör.
Der Stärkere setzt ...?
Immerhin, ausgelaugt und abgespannt fühlte er sich jetzt nicht mehr. Im Gegenteil.
Da, die Ausfahrt. Er setzte den Blinker und verließ die Autobahn. Noch knapp 20 Kilometer über Land, und er würde zu Hause sein. (Warum, mein Führer, hast die du die Autobahn nicht näher an meine Wohnung gebaut, du Null? Aber trotzdem danke ...)
Auf der anderen Fahrbahnseite kamen ihm zahlreiche Autos entgegen. Die, die da drin saßen, waren auf dem Weg in die Arbeit. Eine anonyme Masse, die zur Arbeit fuhr, während er Richtung Bett unterwegs war. Es hatte immer noch etwas Angenehmes an sich, etwas Beruhigendes, wenngleich sich dieser Effekt im Laufe der Zeit doch merklich abgenutzt hatte. Aber er war noch nicht komplett verpufft. Außerdem war die Strecke vor ihm frei, und der Regen ließ jetzt merklich nach. Er stellte den Scheibenwischer auf Intervall und fuhr weiter. Und während er dies tat fiel ihm auf, dass ihn inzwischen ein leichtes Hungergefühl plagte, darum beschloss er, sich an der nächsten Tankstelle ein paar Sandwiches zum Frühstück – beziehungsweise Abendessen oder was auch immer ... – zu ziehen. Denn bei Gott, diese Sandwiches waren fett und ungesund und überteuert und schmeckten einfach phantastisch. Sie waren verdammt noch mal einer der wenigen Lichtblicke im Leben.
An der Tanke angekommen, manövrierte er seinen Wagen auf einen Parkplatz nahe der Eingangstüre und checkte anschließend seine Geldbörse durch. All zu viel Kies befand sich zwar nicht darin, aber für zwei Sandwiches würde es reichen. Und für die Zeitung auch noch. Die brauchte es nämlich ebenfalls. Man musste sich ja schließlich seine Meinung bilden. Oder bilden lassen – was soll‘s ...
Er enterte den Verkaufsraum und ging zielstrebig auf das Kühlregal zu, wo die abgepackten Schätzchen schon auf ihn warteten. Er griff sich eins mit Thunfisch und eines mit Speck und Ei, dann machte er sich auf zur Kasse ... Na aber hallo, was war das denn? Was sahen seine geplagten Augen denn da? Ein wunderhübsches Mädel verrichtete dort seinen Dienst. Jung, wohl so um die 20. Und KNUSPRIG. Die musste neu sein, die hatte er noch nie gesehen. Und er hatte hier weiß Gott schon hundertmal seine Sandwiches und seine Zeitung gekauft. Er konnte sie noch nie gesehen haben, unmöglich, denn an DIESEN Anblick hätte er sich erinnert. Du lieber Himmel, ihm wurde mit einem Mal richtig wohlig warm in der Gegend um den Bauchnabel herum. Und in der darunter ebenfalls ... Halleluja, die hatte ja wirklich alles genau da, wo es hingehört. Und zwar WIE es sich gehört!
Er setzte ein Lächeln auf – und es kostete ihn WEDER ANSTRENGUNG NOCH ÜBERWINDUNG! Er legte seine Snacks auf die Theke, eine vom davor platzierten Stapel genommene Zeitung dazu, und sagte – für seine Verhältnisse: HAUCHTE – „Guten Morgen“.
Sein weibliches Gegenüber blickte ihn nur ganz kurz an, verzog keine Miene, murmelte irgendetwas Unverständliches und wandte sich dann den Waren zu, um sie mit dem Scanner abzutasten. „Los, sag doch was!“, hämmerte es in seinem Kopf. Sag ihr, dass heute ein schöner Tag ist oder halt nein, ein schöner Morgen und dass es wohl ein schöner Tag werden wird, ach nein, verflucht, frag sie doch ob sie hier wirklich neu ist – Nee, halt, fragsieliebergeichnachihremnamenundobsievielleicht ...
„Getankt haben wir nicht?“
„Wie ... Ääh, nein, hab ich nicht, nein ...“
„Dann macht‘s sechs Euro achtundvierzig!“
„Äääh ... Klar, Moment...“
Er kramte sein Portemonnaie hervor, zog einen Fünfer und ein Zwei-Euro-Stück heraus und reichte ihr beides mit den Worten „Hier, bitte. Stimmt schon so!“ Er lächelte noch immer. Die Tankstellenfee tat‘s noch immer nicht und brummelte „Danke“ – oder etwas Ähnliches.
Sag doch was. Sag IRGENDWAS ...
Sie hatte sich derweil schon dem nächsten Kunden zugewandt, einem Typen mit strubbeligen blonden Haaren in dreckigen, schwarzen Klamotten; unter anderem ein T-Shirt, auf dem hinten „MAKE THE FUTURE MINE AND YOURS“ stand. Den sah sie um einiges länger an als sie ihn betrachtet hatte. Und bogen sich jetzt ihre Mundwinkel nicht nach oben, ein bisschen zumindest?
Er packte seinen Kram und ging stumm zurück zu seinem Wagen, ohne sich noch einmal umzudrehen. Keine Chance. Keine verdammte Chance. Er fühlte plötzlich gar kein wohliges Gefühl mehr, nirgendwo, sondern sich wieder ziemlich ausgelaugt. Abgespannt. Müde. Hatte seine Lippen wieder in der Waagrechten. Aber Appetit auf die Sandwiches verspürte er noch. Ein wenig, jedenfalls. Zu regnen hatte es inzwischen ganz aufgehört.
Im Auto öffnete er zunächst die Plastikschachtel von dem mit Thunfisch und biss rein in das belegte Ding. Es schmeckte. Wie immer. Darauf konnte man sich wenigstens verlassen.
Während er kaute und das Weißbrot in der linken Hand hielt, blätterte er mit der rechten in der Zeitung rum. Irgendein Filmstar hatte zum dritten Mal geheiratet. Irgendein Model plauderte seine Bettgeschichten aus. Irgendeine Sängerin hatte sich offenbar die Brüste vergrößern lassen. Irgendein Arbeitsloser hatte ein paar Millionen im Lotto gewonnen ...
Als er mit dem Sandwich fertig war, legte er das Blatt einigermaßen säuberlich zusammen, warf es auf die Rückbank, das Plastik hinterher, und nahm sich schließlich den Happen mit Speck und Ei vor. Er ließ ihn langsam, doch stetig kleiner werden und stierte währenddessen durch die Windschutzscheibe hindurch ins Leere. Nachdem er die Mahlzeit beendet und auch den zweiten Kunststoffkarton nach hinten verfrachtet hatte, setzte er die Karre wieder in Gang. Die Uhr auf dem Armaturenbrett zeigte mittlerweile fünf nach halb acht an. Zeit, nach Hause zu kommen. Ins Bett zu gehen. Um Viertel vor sieben abends durfte er schließlich schon wieder zur nächsten Zwölf-Stunden-Schicht antreten.
Na schön ...
Er steuerte das Auto über die Landstraße, das Autoradio blieb ausgeschaltet.
Unvermindert viele Autos fuhren auf der Gegenfahrbahn, er registrierte sie und nahm sie doch nicht wahr. Ebenso wie die Landschaft, die an ihm vorbeizog; wie die wenigen, feinen Sonnenstrahlen, die durch die allmählich leicht aufreißende Wolkendecke brachen. (Der Stärkere setzt sich eben durch. Manchmal auch der Schwächere. Was auch immer ...)
Was er wahrnahm, war die Stimme in seinem Kopf, die sich nun wieder zu Wort meldete. Sie war lauter als zuvor in der Tankstelle, und sie sprach auch etwas anderes: „Gib Gas! GIB GAS UND FAHR BEI DER NÄCHSTEN VERDAMMTEN KURVE GERADEAUS! VOLLE PULLE!! TU‘S DOCH!!! TU‘S DOCH ENDLICH ...“
Er tat es nicht.
Bei der nächsten Kurve nicht, bei der übernächsten nicht, gar nicht.
Der Stärkere, der Schwächere.
Blablabli, blablablub ...
Letztlich war er in seinem Wohnort angelangt. Nur noch ein paar hundert Meter bis zu seiner ungewärmten Kiste. Die Ampel vor ihm zeigte rot. Er hielt an. Direkt davor. An vorderster Front. Es war eine Ampel, die sie für Schulkinder hingestellt hatten, damit diese sicher und wohlbehalten in ihrer Lernfabrik ankommen konnten. Und weil es inzwischen zehn Minuten vor acht geworden war, war es kein größeres Wunder, dass einige von ihnen gerade jetzt die Fahrbahn überquerten. Genau vor seinem Auto. Vor seiner Windschutzscheibe. Ein Pennäler glotzte ihn plötzlich durch eben diese an. Und begann zu lachen. Lachte und klopfte einem vor ihm gehenden Kollegen auf die Schulter. Wies diesen mit ausgestrecktem Zeigefinger auf den Mann im Auto hin. Auch der Kollege fing nun an zu lachen. Lachend setzten sie ihren Weg fort. IHREN Weg in IHRE Anstalt ...
Der Mann im Auto lachte nicht. Er fing auch nicht an zu weinen. Er tat nichts dergleichen. Er saß nur da, hinter seinem Lenkrad, und wartete auf die inzwischen bekannte Stimme. Darauf, dass sie ihm sagen würde: „Los, steig aus! Steig aus und geh diesen kleinen Scheißern nach! Und dann ...“
Aber er hörte sie nicht. Was er hörte, was er schließlich hörte, war das Hupen des hinter ihm Stehenden. Dass die Ampel längst wieder auf grün gesprungen war, hatte er nicht mitbekommen ...
Wenig später war er zu Hause, in seiner Wohnung. Er entledigte sich unverzüglich seiner Dienstklamotten und warf sich gleich anschließend ins Bett. In Unterhose und T-Shirt.
Fast acht Uhr.
Du musst jetzt schlafen.
Du musst um Viertel vor sieben Uhr abends wieder ...
Aber konnte nicht einschlafen. Es ging einfach nicht. Er starrte an die Decke, an die Wände, während die Minuten verstrichen. Sah einer Fliege zu, die abwechselnd dort herumkrabbelte und ein wenig hin und her flog.
Schließlich stand er auf, griff sich eine auf dem Nachtkästchen liegende Illustrierte, rollte sie zusammen und schlug damit nach dem Vieh. Er verfehlte es. Draußen fing es wieder an zu regnen.