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Herbst
Die Blätter beginnen allmählich sich zu färben: Purpurn, weinrot, orange, sonnengelb und braun. Du hast den Herbst immer besonders gemocht. „Der Herbst verspricht, dass ein neuer Frühling kommen wird“, hast du gesagt. Deswegen besuche ich dich in letzter Zeit immer öfter. Goldenes Licht fällt durch das noch immer dichte Blätterdach ...
... auf die kleine Lichtung. Stundenlang haben wir im See herumgeplanscht, nun liegen wir erschöpft im saftigen Gras und lassen uns von der Sonne trocknen. Im Wald ist es vollkommen still, nur der Wind spielt mit den Blättern, weht den Duft der Blumen herüber. Und plötzlich bist du da, deine Lippen, deine Wärme ...
... Ein Windstoß lässt mich frösteln, die Jacke enger um mich ziehen. Am Horizont ziehen Regenwolken auf - du hast dem Regen immer gern gelauscht, das Tröpfeln und Plätschern hatte in deinen Ohren eine besondere Melodie - ich sollte mich beeilen, aber es ist ja nicht mehr weit ...
... also laufen wir schneller und schneller, um vor dem Regen zu Hause zu sein. Es wird dunkler, der Wind pfeift nun durch die Wipfel und die Luft ist feucht; dann bricht der Regen los. Doch du lächelst nur, nimmst mich in den Arm und so tanzen wir durch den Sommerregen. Zu Hause kuscheln wir uns zusammen und lauschen dem Regen, dem Tröpfeln und Plätschern, und von dir lerne ich sein Lied ...
... Ich bin da, gehe durch das Tor. Ich habe dir keine Blumen mitgebracht, sondern Zweige; bunte Zweige, denn du hast die leuchtenden Farben so geliebt. Auch hier haben die Bäume bereits ihr Festtagskleid angelegt, kannst du sie sehen? Gefallen sie dir? Ich glaube in diesem Herbst sind sie besonders schön ...
... Unser erster Herbst. Wir gehen zusammen durch den Wald und bewundern die Farben. Und die Zweige, die besonders purpurne, weinrote, orangefarbene oder sonnengelbe Blätter tragen, nehmen wir mit und binden sie zu einem Strauß für unsere kleine Wohnung. Sie sind besonders schön in diesem Jahr, so wie alles besonders schön ist, wenn du bei mir bist ...
... Nun gehe ich die Reihen entlang, Reihe um Reihe kalter grauer Steine zieht an mir vorüber, bis ich endlich bei dir bin, an deinem Stein. Die Zweige in meiner Hand glänzen im letzten Licht dieses Tages und ich frage mich, ob sie dir gefallen. Der Himmel färbt sich unter dem heranziehenden Gewitter rot ...
... rotes Blut. Überall Blut. Du atmest nicht mehr. Ich flehe dich an nicht zu gehen, mich nicht zu verlassen. Uns nicht zu verlassen. Küsse deine kalten blutigen Lippen, verzweifle an meiner Machtlosigkeit. Der andere Fahrer ist tot, glaube ich. Es interessiert mich nicht. Ich will, dass du lebst. Sie bringen dich ins Krankenhaus, doch es ist zu spät ... zu viel Blut bedeckt die Straße, meine Hände, mein Gesicht. Schreie gellen in meinen Ohren, meine Schreie? Ich weiß es nicht, weiß nur, dass du nicht mehr da bist ...
... Auf meinen Wangen vermischt sich der Regen mit meinen Tränen; ich lausche seiner Melodie, dem Spiel des Windes mit den herbstlichen Blättern, schaue ihr Fallen an und mir ist, als hörte ich deine Stimme im Wind singen ...
... vor Freude. Du singst vor Freude über diese Nachricht. Legst deine warme Hand auf meinen Bauch und singst. Im Herbst wird es soweit sein, wenn die Blätter der Bäume sich wieder purpurn, weinrot, orange, sonnengelb und braun färben. Voller Vorfreude beginnen wir nun schon am Ende des Winters die Vorbereitungen für den nächsten Herbst. Immer wieder legst du deine Hand auf meinen Bauch und singst, singst von deinen Träumen, meinen Träumen, unseren Träumen ...
... Ein Donnerschlag zerreißt die Stille. Ich sollte jetzt besser gehen, doch ich will noch nicht gehen, kann mich nicht von dir trennen. Zitternd sitze ich im Regen, starre ins Leere, bin selbst leer, warte. Warte, dass auch ich kalt werde.
Doch ich werde nicht kalt, sondern warm. Zum ersten Mal lausche ich dem Regen wirklich, dem Wind, betrachte die purpurnen, weinroten, orangefarbenen und sonnengelben Zweige mit anderen Augen und liebe sie, wie du sie geliebt hast. Und dann lege ich meine Hand auf meinen Bauch- mittlerweile ist er kugelrund- und spüre unseren kleinen Traum. Nun verstehe ich, was du mir damals gesagt hast ...
... “Der Herbst bedeutet nicht den Tod, denn unter dem Schnee des Winters reifen die neuen Triebe heran. Und so gehört bereits der Herbst den Knospen.“ Man kann die neuen Triebe wirklich erkennen, wenn man den Schnee abstreift. Ich male mir aus, wie diese Zweige im nächsten Sommer Früchte tragen werden, um im Herbst zu sterben und neue Knospen zu hinterlassen. „In jedem neuen Trieb steckt auch ein Teil des alten, keiner verschwindet ganz“, sagst du ...
... Du hattest recht. Jetzt weiß ich, dass du immer bei mir bist. In der Melodie des Regens, dem Rascheln der purpurnen, weinroten, orangefarbenen, sonnengelben und braunen Blätter und dem neuen Frühling in mir ...