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Herbstaugen
Schneeflocken schmelzen in ihren Honiglocken und sie sieht aus, als wäre sie mit dem Wind gekommen. Ganz still steht sie im Gedränge, als hätte sie Angst, durch eine einzige Bewegung von der Menge fortgespült zu werden.
Ihre Herbstaugen spiegelten noch die Träume des Sommers wider. Und ich laufe zu ihr, einfach zu ihr. Gefangen in einem Augenblick außerhalb der Zeit.
„Ich wusste es gleich“, sagt sie oft. Sagt es auch jetzt, während sie neben mir liegt. Nicht jetzt, denke ich. Nicht jetzt. Ich tippe mit meinem Finger auf ihren Kirschmund. Sie schüttelt den Kopf, setzt sich auf und presst, voll plötzlicher Scham, das Bettlaken auf ihre Brüste. „Warum bist du nicht weitergegangen, Tristan? Warum hast du dich nicht einfach umgedreht.“
Die Wut in ihrer Stimme ist künstlich, in ihren Augen schwimmen Tränen. Keine Umarmung dieser Welt kann ihren Schmerz lindern und sie wird nicht zuhören, wenn ich ihr aus Worten ein Bild unseres gemeinsamen Lebens male.
„Ich habe einmal zu oft geliebt“, sagt sie. „Und ich wollte damit aufhören. Nie mehr lieben. Nie mehr. Und dann kamst du und jetzt ist alles anders.“
„Ich will dich hassen“, ruft sie. Sie schluchzt, hämmert mit der Faust auf meine Brust, hämmert auf das Bett, hämmert und hämmert ohne den Schmerz loszuwerden.
„Seelen sind bunte Lichter“, sagte sie einmal. „Weißt du, sie können die Farbe wechseln. Sie strahlen rot, wenn sie lieben und gelb, wenn etwas Schönes geschieht. Gerade jetzt ist deine Seele grün, samtgrün.“ Marie legte ihre Seele vertrauensvoll in meine Hand, ich suchte nach deren Farbe und fand nichts als Schwarz. Ich sollte ihrer Seele das Leuchten zurückbringen und schaffte es doch nur, den letzten bunten Schimmer zu zerstören.
„Du bist wie alle anderen." Matt liegt sie in meinen Armen. All die Schmerzen haben sie ausgebrannt, jede Enttäuschung sticht neue Wunden. Arme braucht sie, die sie festhalten, auch wenn es nur meine sind. Auch wenn es nur die Arme dessen sind, der sie zerstört. Ich küsse die Hitze von ihrer Stirn, wische das Salz von ihren Wangen und wache über ihren Schlaf.
Sie nennt ihn Mario. Er steht für alle, die vor mir da waren. Ein anderer Name für Schmerz. Ein anderer Name für zerbrochene Träume. Mario, der alles Schöne, alles Gute zerstörte. In ihren Augen werde ich jeden Tag ein bisschen mehr Mario.
„Wie geht es Fiona?“, fragt sie. Ganz zart ihre Stimme, kaum hörbar.
„Sie ist schwach“, sage ich. „Wie ein Vögelchen, dessen Flügel gebrochen sind. Ihre Haut, ganz weiß. Ich kann jedes einzelne Äderchen darunter zählen. Sie kann nicht laufen, nicht einmal sitzen. Es erschöpft sie, auch nur einen einzigen Satz zu sprechen. Nachts möchte sie nicht schlafen, weil sie nicht weiß, ob es noch einen Morgen gibt.“
Ich streiche über Maries Haar, während ich über meine Tochter spreche. Fiona, die immer zwischen uns stehen wird. Fiona, kostbarer als Gold.
„Du hättest es mir früher sagen müssen“, sagt sie. So oft hat sie diese Worte schon ausgesprochen. Den Vorwurf hat ihre Stimme längst verloren.
„Es tut mir leid.“
„Warum hast du mich nicht vorher getroffen?“
„Ja, warum?“, antworte ich, obwohl ich es nicht meine. Nicht jetzt.
„Geh jetzt“, sagt sie später. „Geh. Ich möchte dich nie wieder sehen.“ So viel Stärke in ihrer Stimme, nur ihre Augen lügen und halten mir den Schmerz hin.
Vielleicht meint sie es diesmal ernst. Aber irgendwann braucht sie wieder Arme, die sie halten.
„Tristan?“, flüstert sie. „Wenn ich dich wieder anrufe ... Bitte sag, dass du nicht kommst. Bitte. Wenn du mich liebst.“
„Ich verspreche es dir“, sage ich und drücke sie an mich. Herbstaugen, ohne einen Hauch von Sommer. Und ein Abschied für immer.