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Herbstferien
Liebe Leute,
der Text liegt z.Zt. auf Eis - er wird im neuen Jahr bearbeitet, momentan kann ich mich leider wegen ausserwortkriegerlicher Textarbeit mit einer Deadline zum 31.12. nicht darum kuemmern.
Ganz lieben Dank fuer euer Verständnis, Katla
In diesen wenigen Herbstwochen verloren wir unsere Abenteuerlust.
Eigentlich hätte Tante Sanna uns – meine kleine Schwester Annikki und mich – zu ihrem Sommerhaus in den Wäldern von Kuhmo mitnehmen sollen. Fischen, Schwimmen, Beerenpflücken. Aber erst würden wir ein Wochenende in der Wildnis verbringen: Die Hütte eines Kollegen winterfest machen, der sich dieser Tage zu krank und schwach fühlte. Ihm gehörte eines der alten Blockhäuser, ungestrichen und so weit von der nächsten Ansiedlung entfernt, dass die unbefestigte Straße kilometerweit davor aufhörte und man stundenlang durch den Wald dorthin wandern musste. Die Einkäufe würden wir später erledigen, und so nahmen wir nur das Notwendigste aus dem Auto mit. Den Einritzungen auf meinem Ast zufolge war das vor sechzehn Tagen.
Nach dem Regen riecht der Wald nach dunkler Erde und verrotteten Blättern. Annikki und ich sammeln Pilze, so weit vom Haus entfernt wie wir uns zutrauen – aber alles in der Nähe haben wir bereits abgeerntet. Die Morgensonne scheint durch die Fichtenzweige und meine kleine Schwester hat noch nicht angefangen zu nörgeln. Es ist schwieriges Terrain für ihre acht Jahre und unser Sechsjahresabstand bedeutet, dass wir häufig Pausen einlegen müssen.
“Hey ...” Annikki zeigt auf eine Ansammlung roter Tupfen im Unterholz.
“Gut gemacht!” Ich war in Gedanken versunken und hätte die Preiselbeeren fast übersehen. Endlich Frühstück. Die Beeren haben eine bittere Süße, einige in der die Farbe von dunklem Purpur – diese sind die reifsten, süßesten – andere sind strahlender rot mit einigen fahlen Stellen: Diese packen wir in die Tasche und wärmen sie später in unserem kleinen Saunahaus auf. Wir lassen die Beeren am Gaumen zerplatzen, ihre leckere Bitterkeit weckt unsere Lebensgeister. Annikki, munter geworden, plappert von den Ponys, die sie reiten will, und von den Spielzeugautos, die sie bekommen wird, wenn wir wieder zurück zu Hause in Kajaani sind. Wo man sich Lebensmittel aus gut gefüllten Regalen holen und sie dann auf dem Elektroherd kochen kann. Sechzehn Tage und es fühlt sich ewig vergangen an, nur noch eine vage Erinnerung. Meine Beine fangen an zu kribbeln, ich stopfe mir eine Handvoll Preiselbeeren in den Mund, ihr roter Geschmack explodiert auf meiner Zunge, erfüllt mich mit plötzlichem Glück. Von einer jungen Tanne breche ich einige Zweige ab und kaue die weichen Spitzen. Ihr Harzgeschmack mischt sich mit dem bittersüßen Saft der Beeren. Ich biete Annikki einige an, aber sie schüttelt den Kopf, lächelt mit rot verschmierten Lippen.
“Naa, man kann keine Bäume essen”, stellt sie in ihrer besten Nachahmung eines Erwachsenen fest.
“Ach, komm, Schwesterchen. Unsere Spielregel ist doch, dass wir alles Essbare, das wir finden, auch essen müssen.”
Annikki schaut mich aus verengten Augen an.
“Denk gar nicht dran, jetzt rumzunörgeln”, sage ich. Aber liebevoll, mit einem Lächeln.
Sie nimmt die Fichtenspitzen an und kaut, ohne den Blick von mir abzuwenden. Dann strecke ich ihr die Wasserflasche entgegen. “Hier. Spül nach, wenn du's eklig findest.”
Als wir schließlich eine kleine Lichtung erreichen, glüht die Sonne schon rosa-golden. Mein Rücken schmerzt – Annikki hat sich Huckepack tragen lassen, ist von Zeit zu Zeit eingeschlafen und hing wie ein Bleisack an mir. Ich lasse sie zu Boden gleiten. “Abendessen!”
Hier wachsen fette Trompetenpfifferlinge und Reizker im Schatten der Birken, beinahe unter den gelben Blättern verborgen. Annikki darf die Pilze nicht selbst pflücken. Für sie werden alle gleich lecker aussehen: die essbaren wie die giftigen. Also darf sie sie unter den nassen Blättern und Zweigen ausgraben. Ich pflücke einige und putze die mit meinem T-Shirt-Ärmel, die man gleich roh verzehren kann. Wenn man eine Weile keinen Zucker gegessen hat, schmecken selbst Pilze überraschend süß. Ihr erdiges Butteraroma lässt mir das Wasser im Mund zusammenlaufen. Hätte es nicht geregnet, könnten wir ein Lagerfeuer anzünden. Die Pilze rösten und ihren Nussgeschmack genießen. Aber so werden wir sie später auf dem Saunaofen erhitzen. Jedes Mal, wenn wir das Mitternachtsessen ausfallen ließen, waren wir mit schmerzhaft knurrendem Magen aufgewacht.
Wir kehren im Halbdunkel zurück. Nicht geleitet von meinem zweifelhaften Orientierungssinn, sondern einem alten Großvater-Kompass, den wir im Haupthaus gefunden haben. Am Ankunftstag, als wir es noch betreten konnten.
Das Blockhaus wirft einen massiven Schatten auf den überwucherten Rasen. Die ungestrichenen Stämme sind aschgrau, Moos und Flechten wachsen an ihrer östlichen Wetterseite. Die Fenster düstere, blinde Löcher. Kein Rauch steigt vom gebrochenen Schornstein auf. Es fühlt sich an, als ob das Gebäude Wellen von nasser Kälte ausstrahlte.
Annikki verweilt zwischen der Hütte und dem Saunahäuschen, tritt von einem Bein aufs andere. “Warum können wir nicht …” fängt sie an, vollkommen übermüdet.
“So sind die Spielregeln, weißt du noch?”, frage ich und gebe ihr die Tasche voller Pilze, Fichtenzweige und Preiselbeeren. “Geh schon mal vor, ich hack noch ein bisschen Holz. Besser, wir brauchen nicht gleich den ganzen Stapel auf und kommen später nicht hinterher, wenn es kälter wird.”
Annikki ist trotzig, aber hat – in nur zwei Wochen – gelernt, dass eine Weigerung zu nichts führt.
Nur zögernd nähere ich mich der finsteren Hütte. Obwohl an allen Türen Schlösser sind, haben wir nirgends Schlüssel gefunden. Der alte Mann brauchte sie wahrscheinlich nicht, aber jetzt ist das eine ganz andere Sache. Jetzt könnte Annikki entscheiden, dass sie von unseren Spielregelen die Nase voll hat und es einfach wagt, ins Haus vorzustoßen. Wo es ein richtiges Bett gäbe, ein Sofa, einen holzbefeuerten Herd oder einfach ein bisschen mehr Platz. Sie könnte genug haben von unserer Saunabank mit den hastig zusammengesuchten Kissen und Wolldecken. Aber sie darf niemals entdecken, was ich fand, an diesem ersten dunklen Abend, als Tante Sanna offensichtlich mit dem Putzen, Rumwerkeln, aufgehört hatte und die Hütte verdächtig still geworden war.
Ich stelle den ersten Holzscheit auf den Block und hebe die schwere Axt. Meine Arme schmerzen schon jetzt – davon, dass ich meine kleine Schwester kilometerweit durchs Unterholz trug. Bald werde ich die Winterjacke ausziehen müssen und den Dampf von meinem Körper in die knackig kalte Herbstluft aufsteigen sehen. Es kommt mir vor, als ob die Hütte ihre Finsternis über den Freiplatz hin ausatmen würde und vermeide, zu ihren Fenstern zu sehen. Ich weiß, dass diese Balance nicht viel länger aufrecht erhalten werden kann. Die letzten Beeren werden gepflückt sein, die übersehenen Pilze verrottet. Die Wärme der Sonne wird den Waldboden nicht mehr erreichen. Wir werden den ersten Schnee riechen und unser kleiner Saunaofen wird nicht mehr ausreichen. Dies sollte ein zehntägiger Urlaub werden und wir haben nicht mal richtige Winterstiefel eingepackt. Niemand erwähnte, wo der nächste Nachbar wohnt und selbst wenn, führte uns der Weg auch durch die Nacht und das würde Annikki nicht überleben.
Die Axt spaltet mit trockenem Knall einen weiteren Klotz. Instinktiv horche ich auf, dass ich unter dem Schlag kein anderes Geräusch überhörte. Die Hütte steht schweigend da, beherbergt etwas Kaltes, Stilles, das nicht dort sein sollte.