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Herr Karlsen
Die Gittertür schepperte hinter mir ins Schloss und wurde von Wärter Müller zweimal versperrt. Da war ich nun, in der JVA Wiesenhöhe, sämtliche Türen hinter mir zu und vor meinen Augen das mir längst bekannte, alptraumhafte Bild. Ein langer Flur mit schweren Stahltüren. Klappen in den Türen, kleine, zum hineinsehen, größere für die Essensausgabe. Barrikaden, hinter denen sich zehn bis zwanzig Quadratmeter Leben befanden. Ein Fernseher – immerhin ein Fernseher. Zwei oder vier Betten. Eine Metalltoilette in einer Ecke hinter einem Paravent, ein Waschbecken in einer anderen. Und vergitterte Fenster, die auf einen von meterhohen, mit Stacheldraht belegten Mauern umgebenen Hof zeigten. Alles strahlte Kälte aus, Härte, Scheitern. Einen Hauch von Unmenschlichkeit.
Wie oft war ich hier schon gewesen?
Beim ersten Mal hatten sie noch alle Personalien aufgenommen.
Karlsen, Robert. 45 Jahre alt. Verheiratet, keine Kinder.
Braune, schüttere Haare, Bauchansatz, Verbitterung. Jede Menge davon. Aber das wurde nirgendwo gefragt.
Heute grüßten sie nur noch lässig. „Tagchen, Karlsen.“ „Na, auch wieder hier?“
Ich kannte sie alle, die Wärter, die verkrachten Existenzen unter den Häftlingen ebenso wie diejenigen, die auch nach Jahren noch auf ihrer Unschuld beharrten.
Da war Rainer Hackmann, Architekt. Er hatte - im Affekt, wie er behauptete, was ihm aber das Gericht nicht glauben wollte – einen Kollegen mit einem Brieföffner erstochen. Ein schlanker, gut aussehender Mann Mitte dreißig, der sehr viel Wert auf sein Äußeres legte. Schon drei Mal hatte er ein Gnadengesuch eingereicht, immer mit dem Hinweis auf seine Familie. Eine hübsche Frau, zwei Kinder, jetzt zehn und zwölf Jahre alt. Sein Teil der Zelle war geradezu mit Fotos gepflastert. Er kaute Kaugummi und klebte die Bilder damit an die Wände.
Hunderte von gekauten Kaugummis, jeden Tag ein neues. Die, für die er keine Bilder mehr hatte, klebten als großer Block übereinander in der Ecke seines Bettes.
Sechs Jahre.
Marvin Keiser, arbeitslos, erst die Schreiner – dann die Dreherlehre abgebrochen. 19 Jahre alt war er, und schon bei einem Raubüberfall mit Todesfolge gefasst worden. Weit über dreitausend Euro steckten in seinen Taschen. Er war bereits weit vor Erreichen der Strafmündigkeit auffällig gewesen, ein mageres Kind, die speckigen Haare wie die zerrissenen Klamotten voller Läuse. Immer wieder kleine Ladendiebstähle, Hehlerei, Betrügereien. „Was hättichn anderes machn solln? Der Boss will das so. Unn der Boss is wie’n Papa. Unn aufn Papa hörste doch, nich?“
Seinen Boss hatten sie nie geschnappt. Marvin wollte nicht aussagen, wo dieser ominöse „Papa“ sich aufhielt, wollte sich nicht als Lockvogel „inne Pfanne hauen lassen, wa?“. Akzeptierte seine Strafe.
12 Jahre. Davon die letzten zwei auf Bewährung. Immerhin.
Silvan Karelič. Drogendealer, Menschenschlepper, Zuhälter. Zum dritten Mal schon hier, einer der ganz großen Fische in diesem Geschäft. Dabei weder hässlich noch dumm, er war sehr belesen, sprach ein klares, akzentfreies, intelligentes Deutsch. Ich mochte die intellektuellen Diskussionen, denen wir uns oft hingaben, diesen brillanten, scharfzüngigen Geist. Ebenso mochte ich, dass ihm absolut bewusst war, warum er hier einsaß. Keine Weinerlichkeit, kein Aufbegehren. Selbst in der grauen Anstaltskleidung sah man ihm Smoking und Lackschuhe noch an.
15 Jahre.
Und dann die vielen Kleinkriminellen. Die notorischen Schwarzfahrer, die kleinen Dealer, die Diebe, die Einbrecher. Diejenigen, die zwischen ein paar Monaten und zwei Jahren hier saßen, deren Namen, Gesichter und Persönlichkeiten kaum einer im Gedächtnis behielt. Sie versanken in der grauen Masse aus Alltäglichkeitsregeln, Essenspampe und schweißgetränkter Baumwolle. Es sei denn, sie kamen öfter.
„Na, Karlsen, mal wieder in Gedanken versunken?“ fragte Wärter Müller. Er war noch einer der freundlicheren unter den so genannten „Schlusen“. Hatte häufig ein Lächeln auf dem Gesicht, bemühte sich darum, mit den Insassen vernünftig zu sprechen, sie nicht wie einen Haufen menschlichen Mülls zu behandeln.
Aber auch er war dabei, seinen Optimismus zu verlieren. Er genau so wie wir alle.
Der Alltag in der JVA wurde nur von den Gottesdiensten am Mittwochnachmittag und der Arbeitsruhe am Sonntag unterbrochen. Ansonsten hieß es 6:00 Uhr wecken, um sieben gab es Frühstück, von den Insassen erwartet und lautstark eingefordert.
Von acht bis zwölf die ersten Arbeitsstunden. Die einen frästen in der Metallwerkstatt, die anderen pinselten in der Lackiererei, die dritten sägten und hobelten in der Holzbearbeitung. Immer dieselben Bewegungen, immer dieselben Kleinigkeiten.
Dann wieder Essen. Warm zwar, doch selten genug – und für alle dasselbe. Egal, ob wir es mochten oder nicht.
Zwischen eins und fünf die restlichen Arbeiten. Nach dem Abendessen um sechs gab es dann noch einen Hofgang von etwa einer Stunde. Um 22:00 Uhr wurde das Licht gelöscht. Ausnahmslos. Zwischendrin so genannte Freizeit. Einige kickerten, andere spielten eines der in der Gefängnisbibliothek ausgeliehenen Brettspiele oder lasen. Manch einer telefonierte mit zuhause. So auch Hackmann. Abend für Abend, wenigstens eine halbe Stunde blockierte er das Telefon. Sprach mit den Kindern, mit seiner Frau – und kam immer mit mahlenden, kaugummikauenden Kiefern zu den anderen zurück, setzte sich in eine Ecke und seufzte. Manchmal waren seine Augen rot gerändert.
„Robert“, sprach er mich dann ab und zu an, „wie kann ich ihr klar machen, dass ich sie und die Kinder unendlich vermisse? Jeden Tag wird sie kälter. Jeden Tag werden die Gespräche mit ihr kürzer. Ich will hier raus!“ begehrte er dann so manches Mal auf.
Letztens hatte er mir erzählt, dass ihn ein Freund hier besucht hatte. Hackmanns Gesicht war verquollen von stundenlangem Weinen. „Sie will sich scheiden lassen, hat er gesagt. War schon beim Anwalt. Die Papiere kommen bestimmt bald hier her. Was soll sie auch mit einem Knacki“, endete er voller Abscheu auf sich selbst.
Was konnte ich ihm schon raten? Außer hohl klingenden Phrasen war mir nichts gegeben.
Ab und zu riss der eine oder andere mal aus, versuchte, sich in der strengen Hackordnung unter den Insassen nach oben zu arbeiten – scheiterte meist und kam für eine bestimmte Zeit in eine Einzelzelle. Marvin war gerade vorgestern wieder einmal herausgekommen. Als einer der jüngsten Häftlinge galten ihm häufig die böswilligen Streiche der anderen. Obendrein war er ein wenig träge im Denken und beklagte sich häufig bei mir, dass die anderen ihn deswegen auslachten. „Robert, ich kann doch nix dafür. Bin halt so geborn, nich? Sons hättich doch auffe Schule gegangen. Bis zunn Ende. Und wär was geworn. Nich son oller Suffkopp wie Paule“, sagte er manchmal, wenn wir allein waren. Er traute sich selten, mit mir zu sprechen.
Paule, das war Marvins Vater. Er hatte den Jungen – damals acht Jahre alt – mit zu seinen so genannten Kumpels genommen. Nun war er schon seit drei Jahren tot, aber Marvin kam noch immer nicht von der beängstigenden Erinnerung los. „N Suffkopp warer. N oller Suffkopp. Ständig blau. Und verdroschen hatter mich, wennich mich hab erwischn lassn. Aber inn Knast gehn fürn Boss, das wollter nich. Hat sich lieber totgesoffn.“
Die Verbitterung, die jedes Mal in dem so verbrauchten Gesicht mit dem erschreckten, nur ahnenden Blick in den Augen auftauchte, schmerzte mich. Ich wollte diesem Menschenkind so gern helfen …
Sicherlich gab es auch Gewalt unter den Häftlingen. So mancher ging mit blauen Flecken oder Schürfwunden vom Arbeitsplatz in die Zelle. Aber auch das gehörte zum Alltag im Gefängnis. Wenn es mal schlimmer wurde legten die Wächter die Häftlinge auf die Krankenstation.
„Bei uns bleibt so was nicht ungestraft“, sagte der Leiter der JVA, Karsten Schümmler, jedes Mal voller Überzeugung. Noch nie war es so weit eskaliert, dass ein Insasse dauerhafte Schäden behalten hätte oder gar an seinen Verletzungen gestorben wäre. In der Wiesenhöhe herrschte ein straffes Regiment.
Und die Angestellten kümmerten sich hier noch weit weniger als in der "normalen" Welt um das Seelenheil der Menschen. "Sie können das doch, Karlsen. Machen Sie mal."
Ich seufzte, lächelte den Wärter hinter mir noch einmal an und begann den schweren Weg ins Innere der Station. Mein Handy, die kleine LED – Lampe, das Taschenmesser – all das hatte ich abgeben müssen. „Sie kennen die Prozedur doch schon, Herr Karlsen“, hatte Wärter Müller jovial gesagt. „Ja, immer das selbe, nicht wahr?“ hatte ich ihm ein wenig hilflos geantwortet.
Diesmal folgte Karelič mir in den kleinen Raum, der mir zugewiesen war. „Herr Karlsen, schön, dass sie wieder da sind“, begrüßte er mich freudig. Er war der einzige hier, der mich noch immer siezte. Ich hob nur müde lächelnd den Kopf. Wir vertieften uns in eine unserer üblichen Diskussionen über Literatur, streiften Kants „Kritik der reinen Vernunft“ am Rande. „Vernunft, was ist schon Vernunft?“ fragte er mich, die Diskussion weiter ausdehnend. „Ist es, zu wissen, dass man besser als ein Tier ist? Sind wir das überhaupt? Sind wir nicht alles Tiere, wie wir hier drinnen sind?“
Ich nahm mir Zeit für eine Antwort. „Vernunft ist, was uns über die Tiere erhebt, Silvan. Vernunft ist nicht allein, mit Werkzeugen umgehen zu können, einen Plan, ein Gefühl für Gestern, Heute und Morgen zu haben. Vernunft ist der einzige Weg, wie wir menschlich bleiben können. Vielleicht ist Vernunft auch, sich um Hilfe an eine höhere Macht zu wenden?“ stellte ich in den Raum. Andererseits konnte ich mich einer zustimmenden Äußerung nicht erwehren. „Aber hier drinnen sind es oft die niedersten Instinkte, die uns leiten. Der Tagesablauf wird vorgegeben, also brauchen wir keinen Plan. Das Gefühl für Gestern, Heute und Morgen nimmt uns der immer gleiche Ablauf ebenso ab“, resignierte ich.
Hinterher bedankte sich der Serbe. „Es ist erfrischend, immer mal wieder mit jemandem diskutieren zu können, der nicht nur das Haftende und seine Freilassung vor Augen hat Vielleicht ist es das, was Vernunft wirklich ausmacht. Der Wunsch, sich über sich selbst zu erheben.“
Er ging langsam aus dem Raum, warf mir über die Schulter noch ein Lächeln zu. „Kopf hoch, Herr Karlsen. Sie sind ein vernunftbegabter Mensch.“
Ich nickte. Trotz – oder gerade wegen dieses Kommentars machte sich eine tiefe Traurigkeit in mir breit. Vernunft, diese große Unbekannte in jedermanns Leben. War Hackmann vernünftig, der nur in der Vergangenheit lebte, sich wieder herbeisehnte, was gewesen war? Selbst wenn er freigelassen würde, sein Leben wäre ein vollkommen anderes.
War Marvin Keiser unvernünftig, indem er sich dem einzigen menschlichen Wesen anschloss, dass ihm jemals eine Art von Liebe gezeigt hatte?
Oder war es Karelič, dieses Muster an Verständigkeit – und ebenso an Unbelehrbarkeit?
War ich vernünftig? Hieß erwachsen sein nicht gleichzeitig vernünftig sein? Und was war dann mit Kindern, diesen unschuldigen Seelen, waren sie unvernünftig, weil sie gern lachten und weil ihr Leben einfach schön war?
Ich sah auf die Uhr, diese Geißel jedes einzelnen Tages, erinnerte mich, weshalb ich hier war.
Noch immer nachdenklich streifte ich den Talar über.
Mittwoch.
Zeit für den Gottesdienst.