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Herr Meyer und die Invasion
„Martha, da sind Krümel im Wasser.“ Peter Meyer äugte skeptisch in sein Glas.
„Wahrscheinlich hast du wieder nicht richtig abgewaschen.“ Obwohl sich Frau Meyer dabei nicht vom Fernseher abwandte, schaffte sie es trotzdem irgendwie, ihm einen vernichtenden Blick zuzuwerfen.
Es lief eine Kochsendung. Eigentlich spielte es keine Rolle, was lief, Frau Meyer guckte alles, was nichts mit Sport zu tun hatte. Kochsendungen aber liebte sie. Für eine Frau, der es kaum gelang, ein Spiegelei genießbar zuzubereiten, war dies eine erstaunliche Leidenschaft - wenn nicht eine verräterische, wie Herr Meyer befand.
Kochen war für Marthas Art der Nahrungszubereitung ein ebenso unpassendes Wort, wie Essen für die Art ihrer Nahrungsaufnahme. Das Prinzip war einfach: Es musste schnell gehen und es musste viel sein. Martha machte sich nicht erst die Mühe ihr Essen zu zerkauen, es wurde einfach verschlungen. Im höchsten Fall der Gefühle zerhackte sie es auf dem Teller in zwei Stücke. Eine Ein-Liter Colaflasche leerte sie auf einen Zug. Zum Nachspülen.
Aber natürlich wusste Herr Meyer, was wirklich hinter all dem steckte.
Herr Meyer blickte von seinem Glas zu dem aufgedunsenen Etwas auf der Couch, das einmal seine Frau gewesen war. Gäbe es nicht seinen Sohn Georg, der viermal im Jahr seinen Pflichtbesuch abstattete und das grunzende und schnaufende Wesen auf dem Sofa mit Mutter betitelte, hätte Herr Meyer schlicht abgestritten, dass es sich dabei um seine Frau handelte. So aber musste er vorsichtig sein. Diese Lektion hatte er gelernt.
„Mensch Peter ... Du redest wirklich von Außerirdischen?“
„Du glaubst mir nicht.“
„Naja, es ist nur …“, druckste Ulf herum. „Weswegen haben sie ausgerechnet dich … ähm … eingeweiht?“
„Genau aus dem Grund, der dich das fragen lässt. Nur die wenigsten sind bereit, die Wahrheit zu akzeptieren, wenn sie das gewohnte Weltbild in Frage stellt. Mensch Ulf, sie brauchen unsere Hilfe, um die Invasion zu verhindern - aber keiner will zuhören, keiner will es glauben. Die Angst vor dem Unbekannten hat die Menschen fest im Griff. Begreifst du das nicht? Schau dich doch mal um! Eine riesige Verschwörung ist im Gange!“
„Also es gibt da zwei Parteien, ja?“ Ulf kratzte sich am Bart. „Nur damit ich das richtig verstehe. Die eine Partei, also das sind die bösen Aliens, ja? Und die anderen, also deine Freunde, die versuchen das zu verhindern, diese Invasion.“
„Ist das so schwer vorzustellen? Sie sind schon lange unter uns und bereiten alles vor.“
„Klingt nach einem Science-Fiction-Film.“
„Schon mal darüber nachgedacht, dass diese Filme dazu dienen, uns auf das Bevorstehende vorzubereiten?“
„Ich sage dir das nur sehr ungern, mein Freund, aber das hört sich nach einer ernstzunehmenden Midlife-Crisis an. Läuft es mit Martha nicht so gut?“
Von seinem Verdacht, was Martha anbelangte, hatte er in weiser Voraussicht nichts erwähnt. Peter Meyer lehnte sich resigniert zurück. „Sie holt mich auf den Boden der Tatsachen.“
„Gute Frau.“
„Ja“, murmelte er. „Gute Frau.“
Das Gespräch lag Jahre zurück, fand statt, kurz bevor der Krebs ihm seinen besten und einzigen Freund weggefressen hatte.
Das erste Mal waren ihm seine außerirdischen Freunde in seiner Jugendzeit begegnet. Daran hatte Herr Meyer jedoch nur noch blasse Erinnerungen.
Klar wurden die Erinnerungen erst um die Zeit, als er aus dem Koma erwachte, in dessen Schwärze ihn der Schlaganfall geschmettert hatte. In den langen kalten Stunden im Krankenhaus waren sie ihm erneut erschienen. Sie sagten ihm, er müsse Geduld haben, dass er die Zeichen lesen solle. Sie würden kommen, um ihn zu holen.
„Sei bereit, Peter. Wir sind auf deine Unterstützung angewiesen. Die Invasion steht kurz bevor.“
Außerdem hatten sie ihn gewarnt.
„Du musst die Möglichkeit in Betracht ziehen, dass Martha nicht länger das Wesen ist, für das du sie hältst. Womöglich wurde sie ausgewechselt, um dich auszuspionieren.“
In den Jahren hatte das Martha-Wesen mehr und mehr seine Tarnung aufgegeben und den zierlichen Körper seiner Frau zu einem schwammähnlichen Gebilde umgeformt. Die Fleischmasse schien mit der Couch verwachsen zu sein und es erstaunte Herrn Meyer stets aufs Neue, wenn sich das Ding daraus erhob, um keuchend und wetternd in der Küche zu verschwinden.
Herr Meyer musste dann schnell mit seinem Rollstuhl aus dem Weg navigieren, um nicht niedergewalzt zu werden.
Natürlich durfte er niemanden von seiner Entdeckung wissen lassen. Ein einziges Mal hatte er versucht, sich seinem Sohn anzuvertrauen. Der hatte ihn nur mitleidig angesehen und anschließend im Flüsterton telefoniert.
Herr Meyer weigerte sich, seinen Sohn in die Verschwörung mit einzubeziehen, aber fest stand, dass er nach diesem Tag noch mehr Tabletten von seinem Arzt verschrieben bekam als bisher.
Seit dem Schlaganfall lebte er in einem Dauerzustand des Schwindelgefühls. Der Arzt sagte zwar, dass ihm die Medikamente helfen sollten, doch Herr Meyer wusste, dass der Arzt zu den Verschwörern gehörte. Das wusste er, weil Martha oft unter einem fadenscheinigen Grund noch einmal ins Behandlungszimmer zurück stampfte, ihn aber nicht wieder mit hinein schob. Und er wusste es, weil die Medikamente nicht halfen, sondern das Schwindelgefühl intensivierten. Und er wusste es, weil das Ding, das den Platz seiner Frau eingenommen hatte, pingelig genau darauf achtete, dass er die Medikamente zur vorgeschriebenen Zeit einnahm. Was aber die beiden und auch sein Sohn nicht wussten: Er schluckte die Tabletten schon lange nicht mehr. Hin und wieder verirrte sich schon mal eine in seinem Magen. Aber mittlerweile war Herr Meyer recht geschickt darin, sie zwischen Backenfleisch und Zähnen einzuklemmen und nur das Wasser zu trinken. Schwieriger war es, die Tabletten unauffällig verschwinden zu lassen. Glücklicherweise fiel es nicht weiter auf, wenn er regelmäßig auf Toilette verschwand.
„Die schwache Blase ihres Mannes könnte eine Nebenwirkung der Tabletten sein.“
Wie Herr Meyer es hasste, wenn sie in seiner Anwesenheit über ihn sprachen. Als wäre er gar nicht vorhanden.
„Aber gegen Blasenschwäche gibt es glücklicherweise ein bewährtes Medikament.“
Ein Rezept wurde getauscht, ein Grinsen geteilt.
Täglich eine Tablette mehr, die ihn abhängig machen sollte.
Dass er trotz dieser Wunderpillen weiterhin regelmäßig das Örtchen aufsuchen musste, schien Martha nicht verdächtig. Solang er nur seine Medikamente nahm und abwusch, schien für sie alles in Ordnung zu sein. Sie studierte weiterhin die Menschheit über das Fernsehen und Herr Meyer verschwand weiterhin regelmäßig im Bad, um sich der Tabletten zu entledigen.
„Die Krümel sehen aber seltsam aus.“
„Wahrscheinlich ist dir wieder deine halbe Mahlzeit im Bart hängen geblieben und schwimmt jetzt im Wasser.“
Herr Meyer verschwieg, dass die andere Hälfte der Mahlzeit noch am Boden der Pfanne klebte.
„So ein Paar Krümel werden dich schon nicht umbringen.“
„Mit dem Wasser stimmt was nicht. Damit bekomme ich die Tabletten nicht runter.“
Das wirkte. Der Halskopf schraubte sich in seine Richtung. Diesmal bekam er die volle Kraft ihres Blickes zu spüren. Es war nicht nur Verachtung, die sich in ihn bohrte. In den Augen lag eine Bosheit, die unmöglich irdischen Ursprungs sein konnte. Eine gigantische Hand langte nach dem Wasserglas.
„Damit stimmt was nicht, ja?“
Mit einem höhnischen Gesichtsausdruck kippte sich das Ding den Inhalt in den Rachen.
Herr Meyer gestattet sich ein Lächeln als das Röcheln einsetzte.
Marthas Hände griffen zwischen die Wülste von Kinn und Brust. Die wabblige Masse ihres Gesichts bebte und zuckte ein avantgardistisches Spektakel. Schaum quoll aus den fettigen Mundwinkeln.
Herr Meyer brachte sich mit geübten Bewegungen in Sicherheit, als die Arme plötzlich nach allen Richtungen schlugen, etwas suchten, in das sie sich krallen konnten.
Das Martha-Ding röchelte und würgte, schnaubte und tobte, doch es half alles nichts. Es schaffte es nicht, sich aus der Couch zu erheben und konnte nichts gegen den Tabletten-Cocktail unternehmen, der gerade das verfettete Herz überforderte.
Nun gut, es waren nicht nur die Tabletten, die er sorgfältig zusammengetragen hatte. Ein bisschen spielte wohl auch der Toilettenreiniger eine Rolle, in der er sie aufgelöst hatte. In jedem Fall tat das Gebräu seine Wirkung.
Die Augen seiner ehemaligen Frau rollten nach oben, bis nur noch das Weiße in ihnen zu sehen war und leuchteten für einen Augenblick in ihrem wahren diabolischen Sein auf. Dann erschlaffte der Körper und sackte zurück in die Couch.
Herr Meyer wusste, dass es schwer sein würde, Georg von der Notwendigkeit dieser Tat zu überzeugen. Am Telefon sagte er nur, dass etwas passiert sei und hängte auf.
„Was hast du getan?“, schrie sein Sohn ihn an. Er versuchte das schlaffe Monstrum aus Fett und Widerwärtigkeit irgendwie in die Arme zu schließen, doch vergeblich.
„Was hast du getan?“
„Aber versteh doch …“, versuchte Peter es erneut. „Du wirst mir glauben, wenn sie mich abholen kommen. Dann wirst du verstehen …“
„Erzähl mir nichts von Außerirdischen. Du hast sie umgebracht!“ Georg schüttelte ungläubig den Kopf. „Die Ärzte hatten Recht, du hast komplett den Verstand verloren. Du … Du …“
„Wen rufst du an?“
„Du hast sie umgebracht“, murmelte der Sohn beim Wählen.
„Tu das nicht …“
„Ich weiß keine andere Lösung, Vater.“
Peter musste sich eingestehen, dass er sich geirrt hatte. „Nicht du auch noch. Du … du – gehörst zu ihnen!“
So schnell er es vermochte, rollte er ins Schlafzimmer. Irgendwie gelang es ihm, die Tür zuzuwerfen und sie mit dem Rollstuhl zu verbarrikadieren, bevor sein Sohn bei ihm war.
Es rüttelte an der Tür. „Vater, damit machst du es nur noch schlimmer. Sie werden dich wegsperren!“
„Ich weiß genau, was ihr vorhabt. Aber sie werden kommen, um mich zu holen. Ich habe die Zeichen gedeutet. Jawohl, sie sind schon unterwegs!“
Es kostete ihn seine gesamte Kraft, die Tür geschlossen zu halten, aber das Wissen darum, dass er nur noch kurz ausharren musste, aktivierte verborgene Ressourcen, die er scheinbar nur für diesen Moment angespart hatte.
Irgendwann ließ das Rütteln und Klopfen nach. Eine Weile geschah nichts und Herrn Meyer überkam eine tiefe Ruhe. Durch die Ritzen der Tür tastete sich zaghaft ein heller Schein. Der Moment war gekommen.
Herr Meyer gab die Tür frei. Sie öffnete sich geräuschlos nach innen und badete den Raum in warmes Licht. Das Schwindelgefühl, das ihn in all den Jahren wie ein Schatten begleitet hatte, löste sich in diesem Licht auf.
Zwei weißgekleidete Gestalten winkten Herrn Meyer zu sich.
Sein Sohn stand etwas abseits, das Gesicht gezeichnet von Verzweiflung. Herr Meyer empfand tiefes Mitleid für ihn.
Die weißen Gestalten nahmen Herrn Meyer in die Mitte.
„Wo … wo bringen sie ihn hin?“, fragte Georg mit gebrochener Stimme.
„Machen Sie sich keine Gedanken, wir sorgen für Ihren Vater. Er kommt an einen sicheren Ort, an dem sich gut um ihn gekümmert wird.“
Während die eine Gestalt sprach, zwinkerte die andere Herrn Meyer zu. Dabei verrutschte die Maske etwas und Meyer konnte die grüne Haut darunter erkennen. Er zwinkerte zurück.
„Ja, Georg, mach dir keine Sorgen. Alles wird gut. Eines Tages wirst du verstehen. Halte uns nicht auf.“
Er ergriff die Hand seines Sohnes und drückte sie zum Abschied.
Sie bestiegen den Aufzug und fuhren ins Erdgeschoss.
„Diese Masken müssen sehr unbequem sein.“
„Das sind sie.“
Im Foyer sortierte die Frau hinter dem Tresen mit routinierter Langeweile die Post. Als sie Herrn Meyer gewahr wurde, veränderte sich etwas in ihrem Blick.
„Oh, Herr Meyer. Da sind eben zwei Herren zu Ihnen rauf. Sie sagten etwas von einem Notfall …“
Er presste seinen Zeigefinger auf die Lippen und zwinkerte ihr zu.
„Aber …“, setzte sie an.
Doch da hatte seine Eskorte ihn bereits durch die Drehtür ins Freie geschoben.
„Ihr seid gerade rechtzeitig gekommen.“
„Ja, und wir müssen uns beeilen.“
„Dann ist es also soweit?“
Sie nickten. „Die Invasion hat begonnen.“