Herr Tauber und seine Päckchen
Hatte er da nicht das Postautor gehört? Schnell zum Fenster gesprungen und nachgeschaut. Nein, doch nicht. Er hatte sich wohl verhört. Mit gebanntem Blick schaute er auf die Wanduhr, die neben dem Kamin im Wohnzimmer stand und unablässig tickte. Es war doch schon nach zwölf, wo blieb denn heute bloß die Post? Sonst hatte sie doch nie Verspätung. Warum gerade heute? Er erwartete viele Päcken. Fünf um genau zu sein. Er hatte sie alle peinlich genau auf seinem Küchenkalender notiert: Zwei Päckchen vom Gemüsehändler, eines vom Zeitungskiosk, eins vom Kaufhaus und noch eins vom Internethandel Amazon. Dort hatte er Geschenke für sein Patenkind bestellt, nächstes Wochenende hatte sie Geburtstag und er war natürlich eingeladen. Er freute sich schon unheimlich auf die Feier und war gespannt darauf, wie ihr das Kuscheltier und die Bücher sowie die Digitalkamera gefallen würden. Eigentlich müsste er sehr glücklich sein. Dieser Mittwoch war ein ganz besonderer Tag für ihn. Schon seit über drei Wochen hatte er nicht mehr so viele Pakete erwartet. Das war ja einfach nur wie Tag der deutschen Einheit, Christi Geburt und Allerheiligen zusammen.
Mit erwartungsvoll geweiteten Augen schaute er aus dem Fenster die staubige, lange Straße hinunter und versucht in Gedanken, das Postauto schneller fahren zu lassen. „Fahr, fahr schneller, flieg du dummer Wagen“, dachte er bei sich und kniff die Augen zusammen um im flimmernden Sonnenlicht besser sehen zu können. Wieso musste der Sommer dieses Jahr auch schon wieder so warm sein, das war ja nicht zum Aushalten. Die Bäume verloren schon ihre völlig vertrockneten Blätter und der Himmel hatte seit Wochen keine Wolken mehr gesehen. Nicht das leiseste Windchen blies durch das kleine Städtchen am Rande der Berge.
Hatte er überhaupt noch genügend Wasser? Oh, das musste er schnell nachgucken. Schließlich wollte er bei dem Wetter nicht verdursten. Die Wasserrationen waren eh schon gekürzt worden. Aber ihn interessierte das gar nicht. Nein, er bestellte sich alles, was er zum Leben brauchte, im Internet oder telefonisch bei diversen Anbietern. Dann bekam er Päckchen ohne Ende. Jede menge große und kleine Kartons die es auszupacken galt. Bei den meisten Leuten wo er Sachen kaufte bekam er schon Mengenrabatt. Ihm reichte es nicht Plätzchen aus Verpackungen zu holen oder Brote aus Tüten zu kramen. Nein, es mussten Pakete sein, riesengroße Päckchen mit dem Inhalt von dem Volumen eines Elefanten. So war es immer schon gewesen. Obwohl, schon immer? Nein, eigentlich hatte alles erst im Grundschulalter angefangen. Seine Eltern waren faule, schlampige und träge Leute gewesen. Den ganzen Tag hatten sie vor dem Fernseher verbracht mit Unmengen an Süßigkeiten. Sie ließen sich von netten Nachbarn oder von direkten Verwandten umsorgen und verhätscheln. Sie belogen alle, behaupteten sie wollten ihren Sohn nicht alleine lassen weil er so krank war oder sie hätten einen Unfall gehabt und einen schweren Schock zu verarbeiten. Aber sogar zum Päckchen auspacken waren sie zu faul gewesen und deshalb hatte ihr Sohn es immer tun dürfen. Zuerst war er ziemlich enttäuscht gewesen statt der erhofften Geschenke nur langweilige Nahrungsmittel vorzufinden, doch bald machte es ihm unheimlich Spaß. Er wartete schon immer ungeduldig an der Türe und sobald es klingelte, öffnete er sie und nahm freundlich und mit einem kindlichen Leuchten in den Augen den Korb mit den Köstlichkeiten in Empfang. So war es gewesen. Noch niemals hatte er einen Supermarkt oder ein Kaufhaus von innen gesehen. Egal ob es Lebensmittel oder Geschenke waren, alles ließ er sich bequem liefern. Nicht mal im Örtchen war er ein einziges Mal gewesen, obwohl er schon seit zehn Jahren hier lebte. Es war ihm zu umständlich, Schuhe anzuziehen und rauszugehen, von Leuten gegrüßt zu werden und zurückgrüßen zu müssen.
Riiiiiiiiing!! Die Türklingel, endlich. Wie ein Löwe auf Beutejagd stürzte er zur Türe und öffnete sie mit einem gewaltigen Ruck. Vor ihm stand ein grinsender Postmann in gelb und schwarz mit Schnauzbart und langen Haaren. Er glich einem Hippie, nur fehlte die Zigarette im Mundwinkel. „Hier, Herr Tauber, fünf Päckchen wieder für Sie. Viel Spaß beim Auspacken.“ Jeder Postbote, der das Örtchen am Rande der Berge belieferte, kannte ihn. Kein Wunder, bei den Bestellungen die es monatlich bei ihm abzugeben galt. Mit den strahlenden Augen eines Fünfjährigen Kindes vor Weihnachten und Schaum vor dem Mund wie bei einem tollwütigen Wolf nahm er die fünf Pakete in Empfang, unterschrieb auf dem Gerät des Boten und schloss die Türe. Endlich, endlich waren sie da. Heißersehnt und begierig erwartet! Schnell trug er die Kartons ins Wohnzimmer, holte aus der antiken Kommode, die neben dem Kamin stand, ein Messer und eine Schere und begab sich ans Aufmachen. Mein Gott, wie schnell schlug ihm doch das Herz. Es wummerte einen Technosong. Schweiß lief ihm in den Nacken und die Achseln hinunter. Vermutlich hatte er die Türe zu lange aufgelassen, die ganze Hitze des Sommers schien sich in seinem kleinen Häuschen zu befinden. Seine Hände zitterten und trieften vor Schweiß. Doch ungeachtet davon ruhten seine braune Augen auf den Päckchen und in Gedanken durchleuchtete er den Inhalt. Welches sollte zuerst geöffnet werden? Das von Amazon oder doch das mit den Zeitungen der letzten Woche? Er entschloss sich für die Zeitungen da sie ihm am uninteressantesten erschienen. Ritsch! und ratsch! und weg war das Packpapier. Fatz! und weg war das dicke, klebrige braune Paketband welches er so hasste. Das machte die ganze Sache so unheimlich schwer und verzögerte sie um Minuten. Zeit, die er nicht hatte. Endlich konnte er die Klappen öffnen und hineinschauen. Das erste was er erblickte war wie immer die Rechnung, die er achtlos herausholte und beiseite legte. Dann endlich, hübsch in Folie eingewickelt, die „Movie Star“, die „Gala“ und der „Stern“ sowie „Focus Money“. Seine Schätze, die er schon seit Jahren im Abonnement bestellte und die ihn niemals im Stich gelassen hatten. Dann kam noch die „Times“ sowie einige Klatschmagazine wie die Frauen sie beim Frisör oder im Wartezimmer von Arztpraxen lesen. Und dann war der Karton leider auch schon leer. Ach, wie schade! Lustlos schleuderte er ihn in den Kamin. Nachher würde er die Pappe in den Schuppen schmeißen zu den anderen Kartons. Das war sein „Feuerholz“ im Winter und damit kam er immer vollkommen aus. Richtiges Holz hatte er noch nie in diesem Haus verfeuert. Mein Gott, was war er doch für ein umweltfreundlich denkender Mensch. Die Magazine ließen sich leider recht schnell aus den Plastikverpackungen lösen. Wozu hatte der Mensch bloß Scheren erfunden? Wütend warf er die Zeitschriften auf das Sofa. Viel zu schnell ging sowas heutzutage. Jetzt hatte er nur noch vier Päcken. Ihm war heiß, viel zu heiß und sein Mund war dürretrocken. Aber er hatte keine Zeit um Wasser zu holen, etwas zu trinken obwohl sein Körper danach begehrte. Das nächste Päckchen wartete, und er konnte es nicht leiden wenn seine Pakete auf ihn warten mussten. Sie fanden das bestimmt auch nicht gerade erquickend. Er entschied sich für das Amazonpäckchen mit den Geschenken für sein Patenkind. Sie sollte nicht allein daran die Freude haben, schließlich hatte er auch teuer bezahlt. Es reichte wenn er die Sachen auspackte und sie ihr so gab. Dann hatte er auch Geschenkpapier gespart. Außerdem hatten Kinder so eine Auspackgeduld heutzutage überhaupt nicht mehr. Bei den Päckchen von Amazon waren immer viel feste Pappe und noch mehr Plastik im Spiel, das erfreute ihn immer im besonderen Maße. Die Digitalkamera war besonders hübsch und sicher eingepackt damit auch nichts kaputtgehen konnte. Aber die Verpackung davon traute er sich nicht anzurühren, wer weiß was die Verwandten sonst von ihm gehalten hätten. Es war das erste Mal dass er sich bei ihnen blicken ließ und mit ihnen feierte und er war wahnsinnig aufgeregt und nervös und wollte um Himmels Willen nichts falsch machen. Also rollte er nur die lange Schlange aus der Folie und die Bücher aus den Pappverpackungen. Das musste reichen, jetzt konnte ihm keiner was nachsagen. Langsam aber sicher begann er zu keuchen und keine Luft mehr zu bekommen. Erst jetzt bemerkte er die wahnsinnig stickige Luft. Er röchelte und bekam Angst. Oh nein, was geschah hier? Wo hatte er Wasser. Oh mein Gott, wo war sein Wasser? Sein Gehirn schien vernebelt, er sah nur noch verschwommen. Da vorne, war dort nicht eine große Pfütze? Vielleicht hatte er einen kleinen Wasserrohrbruch, der käme ihm gerade gelegen. Er schleppte sich auf Knien auf diesen schillernden Flecken zu. Jeder Zug seiner Beine, seiner Arme ließ ihn mehr und mehr am Boden kriechen wie eine Schlange auf Beutejagd: Langsam und bedächtig, Millimeter für Millimeter setzte er seinen Weg fort. Aber das Wasser schien nicht näher zu kommen. Wie lange hatte er schon nichts mehr getrunken? Zwei Stunden, drei oder doch fünf? Er konnte sich nicht mehr erinnern, er hatte gewartet. Auf seine Päckchen. Seit drei Tagen hatte er ruhelos gewartet, nichts anderes gemacht als warten. Er hatte geschwitzt und gewartet und geschwitzt und gewartet. Hatte er darüber vielleicht doch etwas ganz wichtiges vergessen? Vielleicht das Trinken? Er konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen, es war als schwinde sein Hirn, als würde es vertrocknen. Er konnte es fühlen, krümmte sich vor Schmerzen zusammen. Leere, nichts als Leere. Inzwischen lag er reglos am Boden, rührte nicht eine Wimper mehr. Seine Wangen fielen ein und seine Augen schlossen sich. Das einzige was er noch kurz fühlte war der weiche Stoff der Kuscheltierschlange, die er seinem Patenkind zum zehnten Geburtstag hatte schenkenn wollen.