- Beitritt
- 10.07.2006
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Herzscheiße.
Wir knien auf allen Fünfen oder Vieren. Aus der Friedhofsmauer sprießt Unkraut, als ich an ihr vorbei stolziere. Ich gehe in ein Geschäft mit dem ansprechenden Namen “Massageliegen der Superlative” und setze mich auf den zu einer Bushaltestelle gehörigen Bordstein, um instinktiv zwei Zigaretten mehr zu drehen als sonst. Es regnet Blütenblätter. Eine genauere Betrachtung der Situation verrät, dass Mia auf dem in den Zusammenhang hereinragenden Ast sitzt und eine avantgardistische Frau Holle zu performen versucht. Sie springt grazil hinunter und verstaucht sich ihr Schienbein.
“Meine Fresse, Mia.”
Mia überspielt ihre schmerzbedingte Hysterie und setzt sich neben mich, um gezielt das imaginäre Salz in meine Wunden zu streuen.
“Hast du meinen Brief gekriegt?”
“Nein, was für einen Brief?”
“So einen in ner Streichholzschachtel, ich hab ihn diesem Kerl gegeben mit den roten Haaren und so und der hat irgendwas von einer eurythmischen Tanzgruppe geredet und versprochen, dass du ihn kriegst. Du bist doch irgendwie so komisch mit dem, ich mein...”
“Meinst du den mit der Spekulatiusfabrik?”
“Nein, das ist dieser Kerl, mit den roten Haaren, ich weiß jetzt auch nicht wie der heißt oder wie ich ihn beschreiben soll oder so.”
Ich zünde zwei Zigaretten auf einmal an, um Mias frühpubertäre Nikotinsucht hingebungsvoll zu befriedigen. Der Kerl mit den roten Haaren hatte unter seiner Rolle als Liebebote sichtlich gelitten, da er Mia lieber ficken wollte, anstatt mir eine mit ihren reizenden Zeichnungen verzierte Streichholzschachtel zu überbringen. Ich las das inbegriffene Stückchen eines aus schulischen Zusammenhängen heraus gerissenen Spiralblocks und war überfordert mit meiner plötzlichen Vorbildfunktion. Sie hatte von Vergewaltigungen geschrieben und Träumen, in denen sowohl ich als auch mein japanischer Fanclub die Protagonisten zu sein schienen.
“Na ja, jedenfalls. Ich habe dir geschrieben... Irgendwas über Pinguine oder so, du magst die doch so gern?”
“Ja, die mag ich. Schade, du kannst den rothaarigen Menschen, von dem ich ja grad auch wirklich nicht genau weißt, wer es ist, ja noch mal fragen, oder besser nicht, der wird sicher ganz aggressiv direkt.”
Wir reden über Haustiere und rennen über eine Autobahn, um Mias Existenz als angebissene Currywurst in ein filmreiferes Licht zu rücken.
Sie singt von einem Freund, der ein Seepferdchen ist und gilt als gemütskrank.
Wir setzen uns in ein Cafe und schütten parallel vier Tütchen Zucker in unser bestelltes Leitungswasser. Wir hüpfen hinaus, setzen uns gekonnt als einem Stummfilm entsprungene Karikaturen in Szene und vollziehen reizende Indianerspielchen am Nachmittag; klettern unprofessionell auf einen Baum und werden mit Naturgewalten konfrontiert. Es ist traurig, dass der Ursprung dieser euphorischen Scheiße ihre Verzweiflung zu sein scheint. Diese euphorische Scheiße erinnert an situationsbedingte Entfremdung gut bezahlter Schauspieler auf Sat1 und hat nichts zu tun mit der Repräsentation ihres persönlichen Elends. Ich entwickle mütterliche Gefühle, bin keine Dichterin und stelle ihr die erste philosophische Frage unseres gemeinsamen Lebens:
“Wie verwalten wir unser Elend möglichst kreativ?”
Die offensiv gelebte Homosexualität steht ihrer Intelligenz noch immer nicht im Wege - sie überlegt kurz und möchte derweil ein wenig widerborstig aussehen, weil die Widerborstigkeit in populären Magazinen als Hauptgrund meines Wiedererkennungswerts gilt und Mia momentan vermutlich nach einer Identifikationsfigur sucht oder so.
Mia antwortet nicht und lakiert sich zweieinhalbe Stunden lang die Zehennägel auf dem zerrissenen Ledersofa einer schweigsamen Clubsituation.
“Bist du nicht eigentlich zu jung für diese ganze Scheiße? Ich kann dich nach Hause fahren.”
Sie steht nackt in der Mitte ihres Zimmers herum. Der zu ihr gehörige Vater befindet sich im Türrahmen, ich hingegen sitze auf dem Fensterbrett und begleite die Situation auf dem Jagdhorn. Er stellt sich hinter sie und fixiert den Bananenfleck auf meiner über dem Schreibtischstuhl hängenden Strickjacke.
Mia flüstert sehr verführerisch: “Müsstest du jetzt nicht eigentlich sagen, dass ich langsam zur Frau werde?”
Sie hat keine Brüste, aber ansonsten ähnelt sie einer zweiundvierzigjährigen Katze und ihre schwarzen Haare sehen aus, als hätte sie sie mitten in der Nacht mit einer Axt geschnitten.
Nachdem sich der Vater hastig die Hosen runter gezogen hat und seine Tochter auf der Kommode platziert, fickt er sie unsympathisch, und sie fängt an zu weinen und ich werde mit der Unergründbarkeit der Sexualität konfrontiert. Natürlich bedient das Prinzip einer ambivalenten Vergewaltigung auch Frauenfantasien.