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Hier sitze ich

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11.04.2001
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Hier sitze ich

Kurz spüre ich den frischen Luftzug, der von draußen hereinkommt. Einen Augenblick später schließen sich die Türen der U-Bahn mit einem Zischen. Ein Ruck und sie setzt sich in Bewegung. Reglos sitze ich auf der mattfarbenen Sitzbank. Das dunkle Blau beherrscht den Trend der U-Bahn. Der Linoleumboden ist nass. Überall sind Fußabdrücke zu erkennen, die namenlosen Menschen gehörten, die eine Station vorher in einem Schwall ausgestiegen waren. Das Fenster, neben dem ich sitze, ist mit schwarzer Farbe beschmiert. In unleserlichen Zeichen glänzt ein Schriftzug quer über das Fenster. Als die U-Bahn in den Tunnel eintaucht, als würde sie von einem gefräßigen Maul aus Beton verschluckt werden, kehrt das Rauschen in meine Ohren zurück. Es setzte heute Morgen plötzlich ein und bis jetzt konnte ich dem nicht Herr werden.
Wenn ich mich umsehe, dann sitzen eine handvoll Menschen in meinem Abteil. Ihre Gesichter wirken nicht gerade lebendig. Eine alte Frau schaut wie apathisch aus dem Fenster, dem Blitzlichtgewitter der zahllosen Neonröhren, die den U-Bahn – Tunnel ausleuchten. Dann ein junges Pärchen, das, so verliebt sie sind, nur Augen für sich selbst hat und zwei weitere Personen in höherem Alter, die jegliches Interesse für das Abteil verloren und die Augen geschlossen hatten.
Und ich? Ich sitze hier nur, warte auf die Endstation und versuche mich unauffällig zu verhalten. Es gelingt mir nicht immer, aber zuweilen beginne ich mit nachdenklichen Blicken in den Tag zu träumen. Die Türen fahren zischend auseinander und ich wache aus meinem Tagtraum auf. Müdigkeit beschleicht mich wie ein bleierner Mantel, der mich nicht mehr loslässt. Meine Hände beginnen zu zittern und je näher ich der Endstation gelange, umso nervöser werden meine Blicke. Ich habe mitgezählt. Noch sechs Stationen, dann muss ich aussteigen. Aber ob ich das wirklich will? Ständig verfolgen mich diese Gedanken seit diesem Morgen, als ich mein Zuhause verlassen habe.
Als die U-Bahn einen Moment in dem Bahnhof verweilt, scheint niemand einsteigen zu wollen. Aber als die Türen sich wieder schließen, quetscht sich ein farbiger Junge hindurch und schafft es gerade noch. Ein Blick reicht aus, um sein Leben zu erkennen, welches sich in seinen Augen widerspiegelt. Als er meinen flüchtigen Blick erhascht, schaue ich instinktiv in eine andere Richtung. Ich hoffe, dass er sich etwas weiter von mir setzt. Aber diese Hoffnung währt nicht lange, als er sich mir direkt gegenüber auf die Bank setzt. Zuerst versuche ich hilflos meine Blicke auf irgendeine Stelle zu richten, als die Bahn wieder losfährt. Aber der Junge starrt mich an, als wäre ich etwas Besonderes. Es fühlt sich merkwürdig an, wie er mich so ansieht. Als wüsste er es besser. Kaum mehr als 15 Jahre zählt sein Alter. Seine Wangen sind eingefallen, er wirkt unterernährt. Seine Augen erzählen eine lange, beschwerliche Geschichte. Die Haare kurz geschoren und die Fingernägel aufgerissen. Seine dunkelblaue Jacke glänzt im Schein der Beleuchtung. Dann sehe ich ihn unverwandt an, weil seine Blicke mich langsam belästigen. Er sieht demonstrativ nicht weg.
„Was ist?“, begegne ich ihm mit strenger Stimme. Irgendwie wäre ich froh gewesen, er wäre aufgestanden und gegangen. Er schüttelte den Kopf und sah einen Moment später aus dem Fenster. Kurz darauf sah er mich wieder an.
„Was ist mit dir? Willst du irgendwas?“, fragte ich ihn erneut. Doch seine Lippen blieben beisammen und er brachte kein Wort heraus. Die Situation begann mich langsam zu stören und so versuchte ich mich zurückzulehnen und die Augen zu schließen. Es war merkwürdig, da die Bahn kaum noch hörbar war und die Menschen darin wie leblose Gegenstände wirkten. Ein kalter Luftzug erreichte mich und ich öffnete die Augen wieder. Der Junge sah mich immer noch an, aber die anderen Menschen aus der Bahn waren verschwunden. Überrascht sah ich mich im Abteil um – alle waren wirklich verschwunden. Hatte ich eine Station verpasst? Das konnte nicht sein, denn eingenickt war ich nicht.
„Du hast Angst“, sagte der Junge mit kräftiger Stimme. Erschrocken richtete ich meinen Blick auf ihn. Seine Augen waren dunkel und bestimmend, als wollte er mir etwas mitteilen. Er kurz darauf verstand ich, was er zu mir gesagt hatte.
„Wovor soll ich Angst haben? Du kennst mich nicht.“
Hatte ich auf einmal einen Albtraum, aus dem ich nicht erwachen konnte oder warum kam mir alles so unwirklich vor. Den Jungen hatte ich noch nie zuvor gesehen. Meine Hände zitterten. Der Junge jedoch verhielt sich ruhig und sah mich weiter an, als würde er durch mich hindurchsehen können.
„Du hast Angst vor dem, was geschehen ist.“
Seine Worte klangen so klar, dass es mir Angst machte, was er damit wohl sagen wollte. Ein Schauder überkam mich und ich musste erstmal schwer schlucken, bevor ich den Jungen fragen konnte, was er eigentlich von mir wollte.
„Was willst du von mir?“
„Du kennst mich nicht, aber ich kenne dich.“
Seine Antwort kam so schnell und bestimmt, als würde er mich wirklich kennen. Als ich meinen Blick auf das Fenster richtete, fuhr die Bahn immer noch und ich wartete, dass sie in den nächsten Bahnhof einfuhr.
„Woher willst du mich kennen? Ich habe dich noch nie gesehen.“
Ein kurzer Augenblick der Stille verweilte zwischen uns. Es war, als würde die Zeit stillstehen.
„Deine Hände zittern“, sagte der Junge und deutet auf meine Hände. Reflexartig vergrub ich meine Hände unter dem beigefarbenen Mantel und versuchte der Kälte zu trotzen.
„Das mag an der Kälte liegen.“ Es sollte eine plumpe Ausrede sein, um von der Wahrheit abzusehen. Der Junge hatte Recht, aber was sollte ich machen?
„Du musst akzeptieren, was passiert ist?“
„Ich muss gar nichts. Wer bist du eigentlich? Woher kommst du?“
Doch der Junge antwortete auf meine Fragen nicht. Langsam bekam ich das Gefühl, er wusste zuviel von mir und meinem Leben. Woher kannte er meine innersten Gefühle? War es so offensichtlich oder hatte er etwas erfahren, was ich noch nicht kannte? Ich wusste nicht einmal, woher er kam, wer er war und warum er hier war.
„Wo sind die Leute alle hin?“ Ich sah mich um. Die Sitzbänke waren leer und die Bahn fuhr immer noch durch den lang gezogenen Tunnel. Ich konnte mich jedoch nicht mehr daran erinnern, wann die Strecke so ein langes Teilstück hervorbrachte.
Der Junge zuckte mit den Achseln. Mit großen Augen sah er durch das Abteil der U-Bahn. Ich dachte darüber nach, was ich tun konnte. Sollte ich aussteigen? Von hier verschwinden, bevor der Junge noch mehr aus meinen Leben erzählte, das ich schon wusste. Worauf wollte er hinaus. Er war mir unheimlich.
„Ich tue dir nichts“, sagte der Junge mit ruhiger Stimme. Ihn belastete nichts, keine Sorgen, keine nachdenklichen Gesichtszüge. Für einen Augenblick bewunderte ich ihn. Ein Blick in das Fenster und ich erkannte mein Gesicht. Zerfahren von tiefen Furchen, Ringe unter den Augen, Augen, die eine lange Geschichte zu erzählen hatten. Ich sah schnell wieder weg, konnte den traurigen Anblick nicht ertragen.
„Warum? Sollte ich vor dir Angst haben?“
Der Junge schüttelte den Kopf. „Niemand muss Angst vor mir haben. Du solltest auch keine Angst vor den Dingen haben, die das Leben für sich entschieden hat.“
Sprach er in Rätseln oder warum konnte ich seine Aussagen nur schwer deuten? „Was meinst du damit?“
„Das Leben hält für ein jeden sein Schicksal bereit. Für dich, für mich, für alle Menschen hier. Aber die Menschen machen sich immer Vorwürfe, egal was es betrifft. Es ist so bestimmt, was geschieht, so wie es auch bei dir geschehen ist. Du musst nicht mehr traurig sein, nur weil du jemanden verloren hast.“
Auf einmal überkam mich ein ziehender Schmerz in der Brust, als würde mir der Brustkorb zugeschnürt. Die Worte klangen in meinen Ohren, als wären sie eine Predigt des Teufels. Wie konnte das nur geschehen? Ich sah den Jungen mit schmerzverzerrtem Gesicht an.
„Wer bist du zum Teufel?“, quetschte ich zwischen den Lippen hervor. „Woher kennst du mich? Ich habe dich noch nie gesehen.“ Meine Fragen waren wie ein Wehklagen. Ich wollte den Schmerz losbekommen. Aber er flaute nur mäßig ab, wie ein Sturm, der über das Meer hinwegzieht.
Ein Ruck ging durch die U-Bahn, als wäre sie gegen etwas gestoßen. Doch als ich aufsah, erkannte ich wie benommen, als die Türen zischend aufsprangen und wir im Bahnhof angekommen waren. Ein kalter Luftzug erreichte mich und ließ mich frösteln. Ich stand auf und spürte das Zittern in meinen Beinen. Vorsichtig näherte ich mich den offenen Türen und spähte hinaus in die Fremde. Kalter Beton glotzte mich an. Schwache Neonröhren leuchteten an der Decke, die Anzeigentafel war leer. In der Luft hing ein seltsamer Geruch. Der Bahnhof war Menschenleer. Mit einem Schritt betrat ich den Bahnsteig und trat aus der Bahn heraus. Mir war mulmig zumute, als mich die unheimliche Leere umgab. Es stieg niemand ein und es stieg niemand aus. Ich konnte nichts tun. Der Junge stieg plötzlich aus, breitete seine Arme vor mir aus und betrachtete mich Stirnrunzelnd.
„Das hier alles wirkt nur unter deiner Vorstellung.“
Seine Worte erreichten mich zwar, aber ich verstand sie nicht. Mehrere Male ließ ich sie mir durch den Kopf gehen, aber ich wusste nicht, was er damit meinte. Hilflos sah ich ihm in die tiefgründigen Augen, mit denen er mich beobachtete, als wäre ich ein Fremder auf dieser Welt.
„Was passiert hier?“, flüsterte ich. Es war merkwürdig, aber ich hatte Angst, dass man mich hören konnte.
„Das bist alles du.“ Seine Erklärung war wie eine Deutung in den blauen Himmel. Irgendwo dort draußen lag die Wahrheit, doch finden musste man sie ganz allein.
„Wo sind die ganzen Leute?“
Der Junge sah sich um. Er schüttelte den Kopf. „Sie sind überall.“
Ich sah mich um, aber ich konnte niemanden finden. Jeder Schritt von mir hallte zwischen dem kalten Beton hin und her.
„Niemand ist hier.“ Mit verzweifelter Miene versuchte ich meiner Angst Herr zu werden, aber ich konnte nicht. Ich verließ den Bahnsteig und kehrte zurück in die Bahn. Hilflos klammerte ich mich an die Haltestande, als sich die Türen zischend schlossen. Der Junge verharrte draußen auf dem Bahnsteig und sah mir hinterher. Grinsend hob er die Hand und winkte mir nach, als die Bahn sich in Bewegung setzte und vom nächsten Tunnel verschluckt wurde.
Im Tunnel kehrten die schrecklichen Bilder von heute Morgen in meinen Kopf zurück. Die Blutlache in der Küche. Der leblose Körper vor meinen Füßen. Das blasse Gesicht, mit weit aufgerissenen Augen, als hätte sie den Tod gesehen. Die starr verrenkten Finger neben ihrem Körper, wie um Hilfe flehend nach oben gerichtet. Mit schweißnassen Händen fuhr ich mir übers Gesicht, als wir langsamer werdend in den nächsten Bahnhof einrollten.
Es war dieselbe schaurige Szene wie beim letzten Bahnhof. Er war menschenleer. Als die Türen sich öffneten, trat ich wieder einen Schritt hinaus auf den Bahnsteig. Alles glich dem Bahnhof davor, der blanke Beton, die leeren Hinweisschilder, der Geruch in der Luft und die Neonröhren, die alles in ein mattes Umfeld tauchten. Ich erschrak, als ich hinter mir plötzlich eine Stimme hörte.
„Was suchst du?“
Der Junge war wieder da. Ich wusste nicht, wie er das gemacht hatte. Am letzten Bahnhof ausgestiegen, stand er plötzlich fleischgeworden vor mir. Ein Schauder fuhr mir über den Rücken. Es war gespenstisch.
„Wie hast du das gemacht?“, fragte ich.
„Wie habe ich was gemacht?“
„Du bist auf einmal hier. Gerade warst du noch am anderen Bahnhof.“
Ich wartete vergeblich auf eine Antwort. Er starrte mich an, als wäre ich nicht von dieser Welt. Ständig fragte ich mich, was geschehen war.
„Wer bist du?“ Ich wollte jetzt nicht mehr weiter auf irgendwelche Erklärungen warten, sondern wissen, was mit mir geschah.
„Ich bin nur ein Teil des Gewissens“, antwortete der Junge.
„Wie meinst du das?“
„Ich bin, was du denkst.“
Ich kam mir vor, wie in einem Science-Fiction Film, doch die Realität nagte zu sehr an mir, als das ich alles ignorieren und nach Hause gehen konnte.
„Ich denke dich?“, fragte ich verwundert.
Der Junge nickte. „Es ist nicht mehr weit.“
„Nicht mehr weit wohin?“
„Du hast einen Weg begonnen. Jetzt musst du ihn zu Ende gehen.“
Ein Gedanke ging mir durch den Kopf. Ich erinnerte mich an das, was ich einmal per Post in einem Brief geschrieben bekommen hatte. Der Brief stammte von meiner verstorbenen Frau. Er hatte vier Jahre gebraucht, um an sein Ziel zu gelangen. Eine Entschuldigung der Post war das einzige, was man mir hatte zukommen lassen.
„Es ist nicht schwer zu verstehen, wenn man bereit ist, zu glauben.“ Es war, als hätte ich diesen Satz einen Augenblick zuvor gelesen.
„Wohin führt mich dieser Weg?“
Der Junge sah mich mit funkelnden Augen an, als freue er sich darüber, dass ich nun die richtigen Fragen stellte. „Du wirst ihn erkennen, wenn du die Augen aufmachst.“
Wie weit sollte ich die Augen noch öffnen? Außer gähnender Leere konnte ich nichts erkennen, beim besten Willen nicht. Der Bahnsteig war leer und die Bahn war es ebenso. Ein fürchterlicher Traum, den ich nicht länger träumen wollte.
Ohne lange zu überlegen, stieg ich in die Bahn zurück und wartete darauf, dass die Türen sich schlossen. Der Junge bewegte sich nicht. Wollte er nicht mit mir gehen? Ich sah ihn an, als wollte ich ihm etwas sagen, aber ich konnte nicht. Er lächelte, als wäre er ein vertrauter Freund, den ich mein Leben lang schon kannte. Doch auf einmal ging alles so schnell und ich verlor ihn aus meinen Augen. Die Türen schossen zu und die Bahn verließ den Bahnhof. Sie tauchte ein in die Dunkelheit des Tunnels, verschluckt von kaltem Beton und der Leere, die mich an einen anderen Ort bringen sollte. Ich kauerte mich an die Haltestange und versuchte an nichts zu denken. Ich versuchte, mich führen zu lassen, doch die Angst wuchs, je schneller die Bahn durch den Tunnel raste. Was geschah mit mir? Beklemmende Angst übermannte mich. Das Licht im Tunnel erlosch wie auf Knopfdruck und die flimmernden Röhren hinter den Kunststoffabdeckungen der Bahn begannen schwächer zu werden.
Die Farben um mich herum begannen zu verblassen. Ich spürte den Schweiß in meinen Handflächen, die Unruhe in meinen Blicken, die Leere, die mich zu verschlucken drohte. Es war eine Höllenfahrt, in der ich einziger Passagier sein sollte. Als auf einmal alles in Stille unterging, wie ein Mantel, der alles überzog, begann ich die eisige Luft zu spüren, die mein Gesicht fast zerschnitt. Langsam öffnete ich die Augen, aus Angst, in das Antlitz des Teufels zu sehen. Doch der Wagon war leer. Die Türen standen weit offen, wie eine Einladung, auszusteigen. Das Licht, das von draußen hereinströmte, war grell. Um meine Augen daran zu gewöhnen, legte ich die Hand wie ein Schirm über die Augen. Unsicherheit war das erste Gefühl, welches mich beschlich. Aber ich wagte es, aus der Bahn zu steigen, die eine Schwelle zwischen der Zukunft und der Gegenwart war. Ich weiß nicht, was geschah und ich wusste auch nicht, was geschehen würde.
Ich stieg auf den kalten Beton des Bahnsteigs und versuchte zu erkennen, wo ich war. Aber außer dieser ausgefrästen Röhre existierte hier nichts, was mir bekannt erschien. Tief eingemummt steckte ich in meiner Winterjacke und versuchte zu verstehen, was vor sich ging. Es war kalt und ich vergrub meine Hände in den Jackentaschen. Als ich dann stillstand und den Blick auf die schwarze Tunnelröhre fokussierte, erkannte ich im Augenwinkel eine Person. Zuerst fuhr ich aus Schreck zusammen, doch irgendwas sagte mir, dass ich mich nicht zu fürchten brauchte.
„Du hast allein hier her gefunden“, sagte der Junge von vorher. Ich sah ihn unglaubwürdig an, als würde ich ein Déjá-vu – Erlebnis haben. Aber dem war nicht so. Er stand wirklich vor mir. Auch wenn ich es zunächst nicht wahrhaben wollte.
„Wer bist du?“
Mein Flüstern hallte durch die große Tunnelröhre, als hätte ich es gerufen. Es war gespenstisch. Als ich mich dann umdrehte, war die U-Bahn verschwunden. Ich wollte schon gar nicht mehr danach fragen, weil mir alles so unwirklich erschien.
„Ich bin, was du denkst“, antwortete der Junge wieder. Er war so selbstsicher. Keine Unsicherheit schien ihn heimzusuchen. Da stand er, der Junge, mir direkt gegenüber und starrte mich an, als gehöre ich nicht hier her. „Du darfst dich nicht fragen, wo du bist, sondern, warum du hier bist.“
„Warum bin ich hier?“
„Du hast deine Frau verloren.“ Seine Antwort klang wie eine Mahnung. Doch eine Reaktion war nicht zu vernehmen. Weder Traurigkeit noch Mitgefühl.
„Deswegen bin ich hier? Was soll ich hier?“, fragte ich verzweifelt. Ich wollte von hier weg, mehr nicht. Ich wollte Ruhe finden.
„Wieso bist du weggelaufen?“
Die Stimme des Jungen klang anklagend.
„Wieso? Meine Frau ist gestorben. Ich konnte es nicht mehr ertragen, allein zu sein. Ich wollte weg. Um Himmels willen, wieso bin ich hier?“
Verzweifelt schlug ich die Hände über meinem Kopf zusammen und spürte die warmen Tränen über meine kalten Wangen laufen. Es schmerzte so sehr, dass ich mir wünschte, keinen Schmerz spüren zu können. Alles brach wieder hervor, die Trauer, der Unmut und das Gefühl des Alleinseins.
„Wieso machst du dir Vorwürfe?“
Ich sah den Jungen an. Verzweifelt. „Weil ich nicht allein sein will.“
„Du bist nicht allein.“
„Wieso sagst du das?“
„Weil alles, was ein Ende hat, auch einen Anfang haben wird.“
Seine Worte klangen für mich zunächst nur wie ein Rätsel, von dessen Lösung ich einen Ozean weit entfernt war. Ich wusste nicht, wie mir seine Antworten helfen konnten. Ich sah ihn nur hilflos an und versuchte zu verstehen, was er von mir wollte.
„Wieso bist du hier?“
„Weil du es so willst. Du willst nicht allein sein.“
Der Junge sah mich an und kam einen Schritt auf mich zu. Aus lauter Furcht wollte ich erst einen Schritt zurücktreten, aber hätte er nicht nach meiner Hand gegriffen, wäre ich auf den Gleisen gelandet. Ich hielt seine Hand fest, so weich und zärtlich, unberührt und unschuldig. Wir liefen den Bahnsteig entlang, als hätten wir ein gemeinsames Ziel vor Augen. Doch ich konnte nicht erkennen, welches das sein konnte.
Plötzlich aber verlor das Licht der Neonröhren seine Aggressivität und ein Schwall Menschen strömte wie eine reißerische Welle aus den Zugängen hervor und füllte den Bahnsteig in nur wenigen Sekunden. Der Strom schoss an mir vorüber, als wäre ich eine Boje inmitten des weiten Ozeans. Einige Passanten musterten mich kurz, andere beachteten mich gar nicht. Eine U-Bahn rauschte mit betäubendem Lärm in den Bahnhof hinein. Die Türen sprangen zischend auf und eine weitere Menschenmenge drängte sich aus der Bahn, während die wartende Menge sich in die Bahn drängte, um mitgenommen zu werden. Langsam ging ich in dem Strom unter auf dem Bahnsteig unter. Doch bevor ich den Jungen danach fragen konnte, was hier vor sich ging, sah ich zu meiner Hand hinunter und entdeckte, dass sie leer war. Erschrocken sah ich mich um und mir wurde schlagartig klar, dass der Junge nicht mehr hier war. Ich war allein. Ich hatte ihn verloren. Doch alle Hoffnung, ihn in der Menge wieder zu finden, erstarb sogleich. Unbekannte Gesichter zogen wie in einem Film an mir vorüber. Ich roch unterschiedliches Parfum. Die Farben ihrer Kleidung wichen bald einem Regenbogen, der zu leuchten begann, als ich eine Person am anderen Ende des Bahnsteigs erkannte, die stillstand. Ich kniff die Augen zusammen, um sie besser erkennen zu können. Aber es war schwierig. Aber jeder Schritt, mit dem ich mich der Person näherte, wurde das Bild klarer, welches sich vor mir aufbaute. Mein Herz schlug immer schneller, es begann zu rasen. Ich wollte tief Luft holen, aber die Aufregung, die in mir anstieg, ließ das nicht zu. Ich wurde immer unruhiger. Meine Handflächen waren schweißnass. Dann waren es nur noch ein paar Meter, die mich von dieser Person trennten, die mich mit ihren Augenblicken fixierte. Ein Gefühl der Behaglichkeit suchte mich heim, als wäre ich von einer Umarmung eingeschlossen, die mich nie wieder loslassen würde. Ich war nicht mehr allein.
Es war meine Frau.

 

Hallo MiscenoleuM,

komisch, dass deine Geschichte bisher keine Kritik erhalten hat.

Ich bin mir nicht sicher, ob ich alles richtig verstanden habe: Dein Prot. möchte quasi vor seinem Leben davonlaufen und setzt sich in eine U-Bahn - auf dieser Fahrt sucht ihn quasi sein Gewissen heim, auch wenn ich den Jungen eher als Schicksal bezeichnet hätte - am Ende steigt er aus der Bahn auf, alles normalisiert sich soweit, doch dann erblickt er seine tote Frau. Das lässt mich darauf schließen, dass sich die U-Bahn-Fahrt in eine Fahrt ins Jenseits verwandelt hat.
Irgenwo im Text hast du angedeutet, dass am Morgen jemand blutüberströmt dagelegen hat - da dachte ich, er hätte jemanden umgebracht. War es so? Diese Andeutung machte für mich keinen richtigen Sinn, aber wahrscheinlich habe ich etwas falsch verstanden.

Sprachlich fand ich deinen Text sehr gelungen.

Ehrlich gesagt, war ich zu beginn des Öfteren versucht auszusteigen, denn manchmal zieht sich deine Geschichte sehr in die Länge und ich emfpand es manchmal als langweilig. Zum Beispiel fand ich die Beschreibungen der anderen Fahrgäste gelungen, aber insgesamt eher unnötig - zumindest in dieser Ausführlichkeit. Ich finde damit nimmst du das Tempo aus der Geschichte und das tut ihr, meiner Meinung nach, nicht unbedingt gut.

LG
Bella

 

Bella schrieb:
Hallo MiscenoleuM,

komisch, dass deine Geschichte bisher keine Kritik erhalten hat.

Ich bin mir nicht sicher, ob ich alles richtig verstanden habe: Dein Prot. möchte quasi vor seinem Leben davonlaufen und setzt sich in eine U-Bahn - auf dieser Fahrt sucht ihn quasi sein Gewissen heim, auch wenn ich den Jungen eher als Schicksal bezeichnet hätte - am Ende steigt er aus der Bahn auf, alles normalisiert sich soweit, doch dann erblickt er seine tote Frau. Das lässt mich darauf schließen, dass sich die U-Bahn-Fahrt in eine Fahrt ins Jenseits verwandelt hat.
Irgenwo im Text hast du angedeutet, dass am Morgen jemand blutüberströmt dagelegen hat - da dachte ich, er hätte jemanden umgebracht. War es so? Diese Andeutung machte für mich keinen richtigen Sinn, aber wahrscheinlich habe ich etwas falsch verstanden.

Sprachlich fand ich deinen Text sehr gelungen.

Ehrlich gesagt, war ich zu beginn des Öfteren versucht auszusteigen, denn manchmal zieht sich deine Geschichte sehr in die Länge und ich emfpand es manchmal als langweilig. Zum Beispiel fand ich die Beschreibungen der anderen Fahrgäste gelungen, aber insgesamt eher unnötig - zumindest in dieser Ausführlichkeit. Ich finde damit nimmst du das Tempo aus der Geschichte und das tut ihr, meiner Meinung nach, nicht unbedingt gut.

LG
Bella

Hi Bella,

vielen Dank für deine Kritik.

Der Junge soll das Gewissen des Mannes darstellen. Das hast du richtig erkannt. Anstatt den Protagonisten seine Gedanken erzählen zu lassen, habe ich das über den Jungen bildlich darstellen wollen.
Mehr oder weniger halte ich mir die Möglichkeit als Leser und Autor dieser Geschichte offen, ob der Mann seine Frau nun umgebracht hat, oder nicht. Ich allerdings bevorzuge, dass die Frau nicht von ihm umgebracht wurde. Da ich aber annehme, dass diese Variante eine zu große Verwirrung ausmacht, muss ich das wohl deutlicher machen, dass die Frau nicht ermordet wurde. Ursprünglich hatte ich vor, dass der Protagonist seine Frau umbrachte, jedoch kam ich im Verlauf der Geschichte zu dem Gedanken, dass die Variante der Wiederkehr eine interessantere darstellt, als die eigentliche. Ich meine, warum auch freut sich der Mann am Ende der Geschichte über die Wiederkehr seine Frau?

Mag sein, dass die Geschwindigkeit aus der Geschichte genommen wird, wenn ich die Personen in der U-Bahn näher beschreibe, ihre Gesichtszüge, ihre Körpersprache. Ich wollte jedoch ein wenig das beklemmende Gefühl aufzeigen, das zumindest bei mir immer herrscht, wenn ich in einer U-Bahn sitze und die Leute nicht wissen, wohin sie gucken sollen.

Lg
Marco

 

Hallo MiscenoleuM,

Das Fenster, neben dem ich sitze, ist mit schwarzer Farbe beschmiert. In unleserlichen Zeichen glänzt ein Schriftzug quer über das Fenster
Wenn du das zweite Fenster durch Scheibe(n) ersetzt, hört es sich besser an, da du so eine Wiederholung vermeidest.

Er kurz darauf verstand ich, was er zu mir gesagt hatte.
Erst kurz darauf ...

...bevor ich den Jungen fragen konnte
Durch deine gesamte Geschichte hast du unzählig oft Wiederholungen.
Hier ein mal ein Beispiel. Wenn du den Jungen einfach nur durch „ihn“ ersetzt, hättest du nicht in jedem dritten Satz das selbe Wort.
Oder ist es von dir beabsichtigt, dass wie z.B. auch hier: „Deine Hände zittern“, sagte der Junge und deutet auf meine Hände. Reflexartig vergrub ich meine Hände die Hände einem nur so um die Ohren fliegen beim lesen?

„Du musst akzeptieren, was passiert ist?“
War das tatsächlich als Frage gedacht? Oder ist dir das Fragezeichen nur versehentlich da hin geraten?

Mit einem Schritt betrat ich den Bahnsteig und trat aus der Bahn heraus
Wenn er den Bahnsteig betritt, dann brauchst du nicht nochmals zu erwähnen, dass er aus der Bahn aussteigt. Dass er nicht aus einem Taxi, Flugzeug oder sonst was aussteigt ist ja wohl klar.

Ich verließ den Bahnsteig und kehrte zurück in die Bahn
Ebenso ist es hier ausreichend, wenn du einfach nur schreibst, dass er wieder in die Bahn einsteigt. In dem Moment ist schon klar, dass er somit automatisch den Bahnsteig verlässt.

klammerte ich mich an die Haltestande
Nennt man das bei euch so?
Ich kenn nur Haltestangen. Aber ich schätze, du hast dich nur vertippt.

Gegen Ende hin hab ich den Text nur noch überflogen, da
- sich viele Szenen ständig nur wiederholt haben. Er steigt aus der Bahn aus, wechselt ein paar Worte mit dem Jungen, steigt wieder ein, steigt wieder aus, ein paar Sätze fallen, steigt wieder ein, .....
- Unlogisch war etliches. Es ist mir jedoch zu mühsam das jetzt alles aufzuzählen. Am Ende wäre meine Kritik noch länger als deine Geschichte.
- Die ständigen Wiederholungen verschiedener Wörter haben total genervt beim lesen.

Was es nun mit der Leiche auf sich hat, .... das ist einfach nur verwirrend. Da würde es vollkommen genügen wenn du erwähnst, dass sie tot ist. Fertig. Warum großartig von einer blutüberströmten Leiche berichten, deren Todesart keine Rolle spielt.

Sorry, aber mir hat deine Geschichte nicht gefallen. Da lag mitunter auch daran, dass dein Schreibstil meiner Meinung nach etwas holprig ist.
Vielleicht solltest du sie einfach um die Hälfte kürzen.

Gruß
LoC

 

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