Hilfe!
Hilfe. Bitte helfen Sie mir. Ich bin hier unten im Keller. Unter dem Keller. Holen Sie mich hier raus. Meine Frau, die Kinder. Haben Sie sie gesehen?
Nachdem ich nun schon seit vier Tagen keine Antwort erhalten habe, schreibe ich nun alles auf. Vielleicht hilft es Ihnen ja. Vielleicht machen Sie es ja besser. Vorausgesetzt Sie lesen das hier. Der Strom funktioniert. Noch.
Wissen Sie eigentlich, was Sie für ein Glück haben? Sie atmen, Sie leben, Sie trinken. Gott, was habe ich für einen Durst. Direkt über mir stehen zwei Kisten Wasser. Ich müsste nur hinausgehen. Angst? Nein, ich glaube Angst habe ich nicht mehr. Wovor auch? Wäre der Tod nicht eine Erlösung für mich? Wenn da nicht noch ein kleiner Funke Hoffnung wäre, dass sie noch leben, meine Jungs, meine Eva, dann würde ich sofort Schluss machen.
Am Montag sah ich sie das letzte Mal. Eva wollte mit den Jungs zum Frisör und danach kurz bei meinen Schwiegereltern vorbei. Sie wohnen ganz in der Nähe, unten am See. Ich habe versucht anzurufen, aber niemand nimmt ab. Ich habe auch probiert, meine Eltern anzurufen, doch dort geht auch keiner dran. Unter keiner Nummer meldet sich jemand und ich habe verdammt viele gewählt, glauben Sie mir. Eva hatte ihre dunklen Haare hochgesteckt und ihre rehbraunen Augen leicht betont. Obwohl das gar nicht nötig wäre, denn sie ist auch ungeschminkt wunderschön. Sie trug diese Kette mit den kleinen Muscheln, die wir einst im Urlaub an der Ostsee erstanden haben. Ich weiß noch genau, wie sie mir winkte und mir zulächelte als sie ins Auto stieg. Dieses Lächeln werde ich niemals vergessen. Und meine Jungs. Sie sind gerade mal 2 Jahre alt. Wie sie mit ihren kleinen Händchen gewunken haben, in der anderen Hand Bini und Bobo fest umklammert. Das sind ihre Stoffhasen, die überall mit hin müssen. So unschuldig. So jung. Die klitzekleinen Grübchen, wenn sie lachen.
Eigentlich waren sie gar nicht geplant, aber heute könnte ich mir ein Leben ohne sie gar nicht mehr vorstellen. Leben sie denn noch? Meine Jungs, meine Eva? Sind sie da draußen? Verzeihen Sie, ich muss mich kurz sammeln. Ich kann mir keine Tränen leisten, denn den letzten Schluck Wasser habe ich gestern Abend getrunken. Ich brauche meine Flüssigkeit. Ist Ihnen schon mal aufgefallen, dass man immer gleichzeitig Durst hat und pinkeln muss? Heute Morgen habe ich in die leere Wasserflasche gepinkelt, wo sollte ich auch sonst hinpinkeln? Durst ist sehr viel schlimmer als Hunger. Hunger vergeht irgendwann, aber Durst nagt permanent und ohne Widerlass an einem. Wenn ich wüsste, welche Nervenbahn für das Durstgefühl zuständig ist, ich würde versuchen sie zu zerstören. Aber ich bin kein Arzt, sondern nur ein normaler Buchhalter mit einer Familie. Einer Familie....
Und einem kleinen Haus am Stadtrand. Es ist noch nicht mal abbezahlt.
Aber ich schweife ab. Ich wollte Ihnen ja erzählen, was passiert ist. Das heißt, wenn ich das könnte. Denn ich weiß eigentlich gar nicht, was da schief gelaufen ist.
Ich war an diesem Morgen hier runter gegangen, weil ich am Computer etwas Fußball spielen wollte. Wenn die Jungs aus dem Haus sind, und das kommt eher selten vor, schließlich gehen sie noch nicht in den Kindergarten, habe ich mal Zeit für mich. Und dann gehe ich meistens hier runter. Sie werden sich fragen, warum hat der Typ ein Zimmer unter dem Keller. Nun ja, irgendwie hatte ich als Kind immer die Vorstellung, dass man ein Zimmer haben müsste, von dem niemand etwas weiß, eines, das eigentlich gar nicht existiert. Wenn Einbrecher kommen, oder Außerirdische, dann kann man sich da verstecken und niemand findet einen.
Als wir dann dieses Haus gebaut haben, hatte ich zwar keine Angst mehr vor Außerirdischen, aber ich fand es trotzdem reizvoll so einen Raum zu haben, auch wenn eigentlich jeder aus dem Bekanntenkreis weiß, dass er existiert. Ein normales kleines Zimmer mit Holzbalken zur Stütze, aber die Luke zum Ab- und Aufstieg ist aus Stahl. Kein Fenster, geht ja auch nicht, ist ja unter der Erde. Frischluftzufuhr ist nur durch die Luke möglich, die habe ich damals auf eBay ersteigert, von einem echten U-Boot ── nun ja, sie können sich vorstellen, dass die Luft langsam schlecht wird.
Aber ich schweife schon wieder ab, ich glaube nicht, dass Sie sich für diesen Raum hier interessieren. Oder doch? Egal, das Schreiben lenkt mich ab. Wenn nur dieser Durst nicht wäre. Und dieses Geräusch. Aber dazu komme ich noch.
Jedenfalls saß ich hier unten und spielte gerade die zweite Halbzeit, als die Erde plötzlich bebte. Also es war kein Erdbeben, eher so, als würde vor dem Haus ein Panzerkonvoi vorbei fahren. Dazu kam dieses Geräusch, als ob jemand die Finger an einer Schultafel entlang zieht. Kennen Sie dieses Geräusch? Das Grollen hörte nach ca. drei Stunden auf. Aber dieses Quietschen hält an. Hatten Sie schon mal einen Hörsturz? Damit könnte man es auch vergleichen, nur viel schlimmer. Ich habe mir Taschentücher in die Ohren gestopft, aber es kommt durch, es geht einem bis in die Knochen. Ich glaube, ich habe mir die Ohren schon blutig gekratzt. Aber ich höre es immer noch. Meine erste Reaktion war natürlich Flucht. Ich hatte Panik, dachte die Welt geht unter (nun, vielleicht tut sie das wirklich) und habe in meiner ersten Panik die Luke nicht aufbekommen, fiel von der Leiter und stieß mir den Kopf am Schreibtisch. Als ich wieder erwachte waren zwei Stunden vergangen, und außer einer versiegten Platzwunde und rasenden Kopfschmerzen ging es mir körperlich gut. Die unbändige Angst stellte sich allerdings sofort wieder ein, als die Erinnerung an das zurückkam, was gerade passiert war. Ich wollte gerade die Luke öffnen, um zu sehen was da vor sich ging, als sich zu den vorhandenen zwei Geräuschen noch ein drittes gesellte. Sie denken, dass es nicht schlimmer kommen könnte? Doch.
Es war -- nein es ist, denn es ist immer noch DA -- ein schleifendes Geräusch, als wenn man etwas sehr Schweres sehr langsam, aber konstant über den Boden zieht. Dieses Geräusch lässt einem das Blut in den Adern gefrieren.
Sie werden nachvollziehen können, dass ich mich dann entschlossen habe, vorerst hier unten zu bleiben, oder?
Irgendwie stellte ich wohl eine unmerkliche Verbindung zwischen meinen Urängsten und diesem Geräusch her. Ich glaube zwar nicht unbedingt, dass dies Außerirdische sein könnten, aber irgendwas daran ist nicht richtig. Gefährlich.
Aber meine Frau und meine Jungs sind da draußen.
Ich muss sie finden. Ich muss sie retten. Ich sollte jetzt bei ihnen sein und nicht hier. Herrgott, dieser Durst und dieses furchtbare Quietschen, ich werde noch wahnsinnig. Warten Sie kurz.
Da bin ich wieder. Wenigstens ist nun schon mal dieser unerträgliche Durst weg.
Und so schlimm war es gar nicht. Ehrlich. Ich habe mir die Nase dabei zugehalten.
Und es soll ja Leute geben, die so was aus gesundheitlichen Gründen trinken.
Nur dieser Nachgeschmack ist etwas unschön. Aber ich will mich mal nicht beklagen. Jetzt kann ich mich wieder besser konzentrieren.
Also, wo waren wir stehen geblieben? Ach ja, dieses….. schleifende Geräusch. Wissen Sie, es ist nicht konstant da. Es war gestern 11 Stunden nicht zu hören, und ich hatte mich gerade soweit gefasst, den Raum zu verlassen, als ich es plötzlich hörte. Irgendwo da draußen kroch es. Ich stelle mir gerade eine überdimensionale Schnecke vor. Aber wahrscheinlich ist es schlimmer, denn soweit ich weiß sind Schnecken doch Vegetarier, oder? Wenn es nicht eine so verdammt ernste Lage wäre, könnte man glatt darüber lachen. Warum antwortet denn nur einfach niemand auf diese verdammte E-Mail?
Ich habe sie sogar in Englisch und Französisch geschrieben. Und ich bin gleichzeitig bei ICQ angemeldet. Nichts. Nicht mal Spam krieg ich noch.
Ich mein, ich weiß nicht, was da draußen ist. Vielleicht hat Eva sich ja nur kurzfristig entschieden, ein paar Tage bei ihren Eltern zu bleiben. Aber warum geht dann niemand ans Telefon?
Verdammt. Das war keine gute Idee. Ich habe mir mit dem Bleistift ins Ohr gerammt, weil ich dieses verdammte Pfeifen nicht mehr ertragen konnte.
Ich dachte, dass wenn ich das Trommelfell durchsteche ich vielleicht nix mehr höre von diesem….diesem…Ding- was auch immer.
Aber ich höre es immer noch. Es ist wie ein Fluch. Was habe ich nur getan? Dafür sind jetzt höllische Schmerzen dazugekommen. Ich war wohl einige Zeit bewusstlos. VERDAMMT NOCH MAL, erheben Sie endlich ihren fetten Arsch und kommen Sie mir zur Hilfe!!!! Helfen Sie meiner Familie!
Entschuldigung. Sind Sie noch da? Ich wollte nicht so ausfallend werden.
Aber wissen Sie, meine Situation hier ist etwas, nun ja, prekär. Und die Lage spitzt sich zu. Ich habe mir den Daumen aufgekaut. Das habe ich gar nicht mitbekommen, können Sie sich das vorstellen?
Da war wieder dieses Schleifen, und diesmal war es ganz nah, als wenn es direkt über mir wäre, und ich setzte mich unter den Schreibtisch. Und jetzt das hier.
Die Uhr sagt, dass ich fast drei Stunden da gehockt habe.
Von dem Schleifen ist nichts mehr zu hören. Aber vielleicht lauert es ja nur.
ZUM TEUFEL, WAS IST DAS?
Ich habe die letzte Telefonrechnung gegessen. Nun, sie war sehr trocken und nun habe ich wieder Durst. Lange werde ich hier nicht mehr bleiben können.
Ich sehe mir auf dem PC die Bilder von Weihnachten an.
Sie sind so süß, meine Jungs. Wie sie mit großen Augen den Baum bestaunt haben. Und dann mit offenem Mund vor den Geschenken standen. „Papa, Bibo auch Zenk“, hatte Henry gesagt und dann seinem Hasen den kleinen Schal umgelegt, den Eva gestrickt hatte. Später haben sich beide in meinen Schoß gekuschelt, als ich die Weihnachtsgeschichte vorgelesen habe. Eva brachte warmen Kakao und Plätzchen und später, als wir sie ins Bett brachten, fragten sie mit großen Augen, ob das Christkind denn jetzt eigentlich ein Zuhause hätte und es doch bei ihnen wohnen könne.
Oh Gott, ich vermisse sie so sehr, sooo sehr. Was, wenn sie irgendwo da draußen sind und nach mir rufen? Sie sind doch noch so klein.
Und meine wundervolle Eva. Vielleicht ist sie verletzt? Kann sich nicht mehr bewegen und die Kleinen sitzen daneben und weinen um ihre Mama?
Ich muss sie finden.
Wissen Sie, mir ist eingefallen, dass es ja an öffentlichen Plätzen Webcams gibt, die man per Internet aufrufen kann. Das habe ich gerade getan.
Und es war überall das gleiche Bild.
Keine Menschenseele zu sehen, aber die Landschaft sieht normal aus, außer dass hier und da einige Bauwerke beschädigt sind, so, als wäre man mit einer Planierraupe senkrecht dran hochgefahren.
Bei der Kellenhusener Webcam habe ich dann etwas Komisches gesehen. Nun ja, gesehen habe ich eigentlich nichts. Nur ein gigantischer dunkler Schatten war ganz links auf dem Bild. Wie gesagt, nur der Schatten. Kann genauso gut von einem Gebäude sein. Aber wir fahren dort jedes Jahr in den Urlaub und dass an dieser Stelle ein Gebäude steht -- noch dazu ein längliches -- wäre mir neu.
Und in Dresden war rechts oben im Bild ein ziemlich großer Schatten. Und wenn ich groß sage, dann meine ich das auch. Fragen Sie mich nicht -- und wissen Sie was? Jetzt HABE ich wieder Angst, denn irgendwas glitscht gerade über meine Luke.
Okay, es ist wieder weg. Ich war wieder unter dem Schreibtisch. Ich sehe auf dem linken Auge leider nichts mehr, da es so zugeschwollen ist, scheinbar habe ich versucht…na ja, Sie wissen schon. Als ich wieder halbwegs zu mir kam, hörte ich jemanden schreien. Hat ne ganze Weile gedauert bis ich kapiert habe, dass ich das selbst bin.
Ich will jetzt zu meiner Familie. Was bin ich für ein miserabler Vater, wenn ich sie nicht beschützen kann? Wie jämmerlich bin ich eigentlich?
Ich werde jetzt da rausgehen und meine Jungs suchen. Vielleicht hole ich mir vorher noch eine neue Hose oben aus dem Schrank, mir ist da ein kleines Missgeschick passiert. Falls da oben noch ein Schrank ist. Aber zuerst werde ich die Wasserkiste leer trinken.
Wissen Sie was? Sie haben es wahrscheinlich schon längst gemerkt, aber mir dämmert es erst langsam. Ich glaube, ich bin total paranoid.
Was ich mir hier einbilde, so ein Quatsch.
Wenn Sie das hier lesen und noch nichts wieder von mir gehört haben, nun dann…ich werde mich sowieso nie wieder an einen Computer setzen. Das Leben ist viel zu kurz, um es mit sinnlosen Computerspielen zu verbringen. Finden Sie nicht auch, finden Sie das nicht auch? Trotzdem wäre es nett, wenn Sie hier kurz nach dem Rechten sehen können. Wir könnten einen Kaffee zusammen trinken. Eva macht einen hervorragenden Apfelstrudel…
Ich habe hier einen Briefbeschwerer, man kann ja nie wissen.
Ich werde jetzt gehen.
Irgendwas schleift da oben die Diele entlang.
Wünschen Sie mir Glück! Und passen Sie gut auf sich und Ihre Familie auf!
Paul Kronen