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Hilferuf
Der Zeitgenosse
Offensichtlich haben die Kinder von nebenan einen Weg gefunden, die Rückseite des Mondes anzufliegen.
Wollten sie die uns zugewandte Seite ansteuern, hätten sie die Abschussrampe auf der Wiese vor dem Haus errichten müssen. Meine Berechnungen haben ergeben, dass man den Mond von der hinteren Wiese aus unmöglich sehen kann, zu keiner Zeit. Da müssten sie schon durch das Haus durchschauen, und das können sie nicht. Es sind schließlich nur Kinder.
Und trotzdem behalte ich sie im Auge, Tag für Tag, Stunde um Stunde sitze ich am Fenster und mache mir Notizen über ihre Fortschritte, immer noch und immer wieder. Eine Frage der Zeit, bis sie...
Manchmal frage ich mich, ob das alles richtig war. Die Möbel zu verkaufen und zu kündigen, und die Sache mit Maymunah. Und manchmal friere ich, obwohl die Fenster geschlossen sind und bisweilen, ein oder zweimal dachte ich schon, das alles wäre nur ein Traum. Aber das sind nur kurze Aussetzer, bedingt durch die Müdigkeit und die Kopfschmerzen, die sich abwechseln wie die Jahreszeiten, nur viel, viel schneller.
Nun bin ich fast am Ziel. Vielleicht führen sie gerade jetzt die letzten Checks durch, vielleicht kann es gleich losgehen, zum Mond. Manchmal formen meine Lippen den Countdown, ganz unwillkürlich und ganz leise.
Es begann im Herbst. Ein purer Zufall. Ich stand am Fenster, dachte an eine Reise nach Island, stellte mir vor, wie weit weg das wäre und schaute dem Wind dabei zu, wie er Dinge mit der Hecke anstellte, Zweige knickte und an den winzigen Blättern rupfte wie ein Liebhaber. Aber da waren nicht mehr viele Blätter und es wurden stetig weniger. Die Hecke war nackt wie ein Huhn, bereit für den Kochtopf. Aber Pflanzen haben keine Haut, deshalb kann man einfach durch sie durchgucken, wenn sie nackt sind. Auch sind die Pflanzen nicht schön, wenn sie nackt sind, sondern vorübergehend tot.
Natürlich steht die Hecke nicht einfach so da wie ein Kunstwerk. Sie hält unser Grundstück und das Nachbargrundstück auseinander. Maymunah, meine Geliebte, die nur arabisch klingt, behauptet hingegen, die Hecke hielte die beiden Grundstücke zusammen. Wie ein Tesastreifen, den man auf die Stelle klebt, wo sich die Ränder zweier Zettel berühren. Aber unsere Grundstücke sind keine Zettel und die Hecke ist nicht klebrig. Zumindest sieht sie nicht sehr klebrig aus. Natürlich könnte sie es trotzdem sein, aber wer will das herausfinden, ich nicht, nachher sind meine Hände auch noch klebrig, und dann könnte es passieren, dass ich sie nicht mehr auseinander kriege. Dann kann ich nur noch Pfarrer werden.
Ich will kein Pfarrer sein. Pfarrer haben keine Träume, bloß ihren Glauben und das auch nur manchmal.
Jedenfalls sah ich just in dem Augenblick auf die Hecke, als auf dem Gras hinter den Zweigen zwei weiße Gummistiefel auftauchten, solche, wie sie Astronauten tragen, weiße, als ob da alles voller Schnee wäre, im All. Ich musste nicht erst an den Beinen hochschauen, um zu wissen, dass die Schuhe zu einem der Nachbarskinder gehörten, weiß, und so klein, wie für kleine Astronauten. Und dann sah ich, dass da noch mehr kamen, eins zwei drei vier Schuhe. Alle drei Nachbarskinder trugen weiße Gummistiefel an den Füßen und ein Rohr in den Armen. Sie trugen es wie einen Rammbock. Ein Mordsrohr, mindestens fünf Meter lang, und mächtig wie die Säule eines griechischen Tempels. Natürlich kam ich gleich auf den Gedanken, dass das kein Zufall sein konnte, erst die Gummistiefel und jetzt das Rohr.
Kaum waren sie hinter der Hausecke verschwunden, da sauste auch schon wieder einer von ihnen in Richtung Straße davon, um gleich darauf wieder in mein Gesichtsfeld zurückzuwanken, schwer bepackt mit einem Werkzeugkasten, den er graziös wie eine Schatztruhe vor sich herschaukelte.
Ich hörte sie hämmern, werkeln und mit Schraubenschlüsseln klappern und versuchte mir vorzustellen, was sie da trieben, hinterm Haus, mit ihren Astronautenstiefeln und dem Werkzeug.
Als es dunkel wurde, stapften sie mit gesenkten Köpfen und im Gänsemarsch an der Hauswand entlang zum Vordereingang wie eine Gruppe von Verschwörern. Und als der erste bereits halb in der Türöffnung verschwunden war, wandten alle drei gleichzeitig wie auf ein geheimes Kommando hin die Köpfe. Mit zusammengekniffenen Augen spähten sie in den Nachthimmel, deuteten mit den Fingern auf irgendetwas, auf den Mond, nehme ich an. Aber nicht so, wie man auf den Mond, sondern so, wie man auf ein Geheimnis deuten würde.
Und ganz gleich, wie oft ich in den folgenden Nächten am vorderen Fenster saß, rastlos, schlaflos, die blassschimmernde Oberfläche des Mondes betrachtend, nie kam ich dahinter, was so besonders daran war. Bis mir eines Nachts aufging, dass sich das Geheimnis auf der Rückseite des Mondes befinden musste, die niemand kannte, niemand sah. Und so entwickelte ich meine Theorie, an der ich bis zum heutigen Tag festhalte.
Was immer sie da drüben hinterm Haus auch bauten, es war nicht auf den Mond gerichtet. Nicht auf die Vorderseite des Mondes.
Im Grunde genommen brechen sie also in die falsche Richtung auf, aber das hat man damals bei Kolumbus auch gedacht. Ich denke, sie wissen genau, was sie tun. Sie fliegen einfach einmal um die Sonne herum und erreichen so die Rückseite des Mondes auf direktem Wege, hintenrum. Wie Kolumbus.
Meine Geliebte tippte sich an die Stirn, an die Stelle mit dem Muttermal, das geformt war wie Island und aussah wie ein blauer Fleck. Blödsinn, sagte sie, sind doch nur Kinder. Aber ich wusste es besser und schüttelte den Kopf. Astronauten müssen klein sein, erklärte ich ihr, und leicht müssen sie sein, damit sie schneller fliegen können.
M, sagte ich, weil Maymunah eigentlich zu lang zum Sagen ist, M, das sind keine Kinder, hast du ihre Füße nicht gesehen? Sie tragen Astronautenstiefel. Das sind Astronautenzwerge.
Ich sah, wie sich Maymunahs Augen verengten, wie sich das Muttermal auf ihrer Stirn dunkel verfärbte, blau zu dunkelblau zu schwarzblau. Es wurde Nacht in Island. Und kalt.
Am nächsten Tag machte ich in der Firma früher Schluss und ging schnurstracks über die Wiese zur Hecke, ich wollte einen der Bälger abfangen und zur Rede stellen. Kaum hatte ich mich auf die Lauer gelegt, bemüht unauffällig über die Hecke gebeugt, als wäre ich derjenige, der die Zweige jedes Jahr im Herbst nackt auszieht, da schlenderte auch schon das erste Nachbarskind heran, einen felgenlosen Autoreifen vor sich herrollend wie ein kleines schwarzes Gummitier. Ich starrte auf den Reifen. Vermutlich ein Puffer, um den Stoß zu dämpfen, den es beim Aufsetzen auf die Rückseite des Mondes geben wird. Ist ja auch ein Riesenanlauf, einmal um die ganze Sonne. Überhaupt ein Wunder, dass es Kolumbus damals gelang, mit dem Schwung eines ganzen Ozeans im Rücken rechtzeitig vor der Küste zu stoppen.
Der Bengel war schon fast um die Hausecke, da sagte ich scharf: Moment mal!
Er drehte sich um, sein Gesicht war klein und misstrauisch wie ein Igel. Na, sagte ich, erzähl mir doch mal, was ihr euch da ausgedacht habt, mit dem Mond und so. Na, was ist?
Er blickte an mir vorbei, rechts, links und wieder rechts, als wären da noch zwei neben mir, noch bedrohlicher als ich, seine Augen wirbelten in ihren Höhlen, fahrig, unstet. Dann rannte er davon, den Reifen fest an die kleine Brust gedrückt wie eine zusammengerollte schwarze Katze.
Zweifellos hatten sie etwas zu verbergen.
Von da an ging ich nicht mehr zur Arbeit, man hatte mir ohnehin gekündigt. Schlafen Sie, sagte mein Vorgesetzter. Schlafen sie doch selbst, sagte ich.
Ich schnitt zwei kleine Löcher in den Vorhang, für meine Augen. Ich kaufte ein großes Heft, in dem ich jeden Schritt notierte, den die Nachbarskinder in meinem Sichtfeld unternahmen, ich trug ein, was sie schleppten, wann und in welchen Abständen, stellte Vermutungen an, wozu sie es verwenden würden und wie weit sie mittlerweile waren. Dem Heft entging nichts. Tag für Tag, Stunde um Stunde saß ich am Fenster, konzentriert und steif wie eine Büste, das Heft in Reichweite, den Stift in der zitternden Hand. Und manchmal stellte sich Maymunah direkt hinter mich, ganz nah, dann spürte ich ihren Atem am Hals, warm wie den Atem eines Hundes oder eines Pferdes, auf meinem Nacken feuchte Flecken hinterlassend, vielleicht geformt wie Island bei Regen. Aber ich drehte mich nicht um.
Maymunah flüsterte, wenn sie sprach, ihr Sprechen war wie Flüstern. So kann das nicht weitergehen, flüsterte sie, du gehst nicht zur Arbeit, du sitzt am Fenster und kümmerst dich nicht um das Geld, nicht um mich, nicht einmal um dich selbst.
Ich wand den Blick nicht ab vom Fenster, sagte: Es gibt wichtigere Dinge unter und neben und jenseits der Sonne. Das mit dem Geld macht nichts, wir haben ja noch die Möbel. Und den Schmuck, und du kannst zur Not auch arbeiten. Man muss verzichten können.
Da sind zwei Löcher, so groß wie zwei Augen.
Ich starrte auf die Hecke, sah die Nachbarskinder hin und herlaufen, die Arme voller Metallzylinder, unförmiger Plastikteile und bunter Papiere, Sternkarten, nahm ich an.
Und dann eines Tages, es war auch drinnen kalt und der erste Schnee lag auf dem Garten wie ein Brautkleid, wurde ich Zeuge, wie sie in die letzte Phase der Vorbereitungen eintraten. Alle drei trugen nagelneue Astronautenanzüge, dick und weiß wie Schneeanzüge. Vor Aufregung bemerkte ich Maymunah gar nicht, die mir gerade das Essen ans Fenster brachte. Dann, während ich kaute, konnte ich sie atmen hören, rasch und heftig wie ein Teekessel.
Das Essen ist kalt, sagte ich.
Ja, sagte Maymunah, wir mussten, ich musste den Herd verkaufen.
Dann sagte sie nichts mehr. Ich zuckte die Schultern und wartete, dass sie mich alleinlassen würde. Aber sie blieb. Und blieb. Und dann sagte sie sehr leise und mit jedem Wort leiser werdend: Genau wie die zwei Schränke, das Bett, den Tisch und die Stühle, den Fernseher und das Bücherregal. Und das Aquarium und die Bilder und die Fahrräder und das kleine schwarze Kleid mit den Rüschen auch.
Auch das Bett?, fragte ich. Ich hatte seit Wochen nicht bei ihr im Schlafzimmer übernachtet, sie hatte mir die Couch am Fenster hergerichtet, mit dem Kopfende bei den Löchern.
Geh doch arbeiten, sagte ich. Man muss verzichten können.
Ja, sagte sie und ging für immer.
Aber ich halte hier weiter die Stellung, lasse die Hecke und die Wiese und die Hauswand nicht aus den Augen, keine Minute. Nur nachts, manchmal, wenn ich einfach wegnicke, mit dem Schlaf um mein Bewusstsein ringe und vielleicht verliere. Ich werde mir eine Videokamera anschaffen müssen, bald, um alles aufzuzeichnen. Dann wird mir wirklich nichts mehr entgehen, keine Bewegung, kein Lichtreflex, kein Wort, kein Laut. Und Medikamente werde ich kaufen, gegen den Schlaf, soviele bis er endlich aufgibt, der gottverdammte Schlaf.
Ich muss durchhalten, nur noch die paar Tage, bis sie da drüben soweit sind, muss immer an den Countdown denken, ihn mit den Lippen formen, auch laut, zum Glück habe ich alles dokumentiert, alles aufgezeichnet und vermerkt auf unzähligen Zetteln, bergeweise Zetteln, eingeheftet und sortiert und in Kisten gestapelt bis an die Decke, überall, inzwischen gehe ich davon aus, dass das große Rohr lediglich als Startrampe dient, und das Triebwerk ist so ausgeklügelt, dass es nur ein Minimum an Energie benötigt, ein kleiner Klaps und sie sind aus der Umlaufbahn, auf und davon wie eine aufgescheuchte Fliege sozusagen, Berechnungen, es geht nur um die Berechnungen, und ihre sind exakt, davon bin ich überzeugt, Formeln und Zahlen, allein darauf kommt es an, Zahlen und Formeln und es gibt keinen Schlüssel zum Mond, denn der Mond hat ein Zahlenschloss.
Neulich haben sie den Gammastrahlenschutz fertiggestellt. Mit Luftmatratzen. Und die Tanks aus holzverstärkten Regentonnen sind auch bald...
In einer Woche werde ich die Wohnung räumen müssen. Die Heizung hat man mir abgestellt. Es ist kalt hier. Und dunkel. Wie auf dem Mond. Manchmal würde ich gerne aufwachen, vielleicht in einem fremden Bett, vielleicht in Island.