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Himmelgraue Vergissmeinnicht

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21.06.2003
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Himmelgraue Vergissmeinnicht

“Wenn man die Sterne am Himmel längere Zeit beobachtet, sieht man nicht zwangsläufig eine Sternschnuppe, jedoch erhöht sich die Wahrscheinlichkeit dazu. “
Annika unterbrach ihr Steinchenkicken und sah ihn an. Wiedereinmal hatte Martin es geschafft sie zu überraschen.
Wenn er redete hörte sie meistens kaum zu. Sie beschäftigte sich mit anderen Dingen, mit nutzlosen Dingen, wie viele fanden. Sie wusste nicht, ob sie nutzlos waren. Sie wusste nur, dass sie von einer inneren Macht dazu getrieben wurde. Er sagte niemals, dass diese Dinge, nutzlos waren und erkannte oft einen Sinn in dem, was sie tat, den sie selbst noch nicht einmal kannte.
Heute jedoch hatte er sie kaum angesehen war unermüdlich seinen Gesprächen nachgegangen ohne wenigstens schweigendes Zustimmen, ein Kopfnicken oder -schütteln von ihr abzuwarten. Tatsache war das beide von ihnen für die reale Welt nicht viel übrig hatten.
Martin deutete oft. Zum Beispiel in den Schatten an der Wand, dem Tropfenden Regen oder den Sternen in der Nacht. Er deutete die Zukunft und die Vergangenheit, selten nur die Gegenwart. Dabei ging es niemals um ihn, manchmal um ein paar Unbekannte, die seine Wege gekreuzt hatten, meistens jedoch um Annika. Warum er das machte, wusste sie nicht, aber sie mochte seine Stimme und hörte sie gerne.
Manchmal wenn die beiden spazieren gingen blieb er plötzlich stehen und setzte sich genau dort hin, wo er sich gerade befand. Er machte einen Schneidersitz und forderte sie auf es ihm gleich zu tun. Annika saß nicht gerne still. Sie drehte sich unruhig um. Wenn sie das nicht tat wurde sie nur noch nervöser. Es kümmerte sie nicht, dass der Boden feucht und kalt war oder dass die Leute sie mit neugierigen Blicken löcherten, wenn sie sich von Zeit zu Zeit vor eine Parkbank setzten statt darauf. Im Gegenteil, sie freute sich meist, ging eine gestiftete Verwirrung auf ihre Kappe. Was sie jedoch ganz und gar nicht leiden konnte, war sich nicht frei bewegen zu können, was ihr im Sitzen natürlich nicht möglich war.
Martin beobachtete wie sie ihren Kopf abwägend leicht auf die linke Seite legte und ihr Gesicht von einem verschmitzten Grinsen erhellt wurde. Einen Moment wartete sie ab, dann lief sie weiter. Er sah wie ihre Füße leicht hin- und hertänzelten und ihm war als ob ein Hauch “für Elise” über ihre Lippen glitt. Martin fuhr mit dem Finger durch die Luft.
“Merkst du das, Annika?”, fragte er, “es ist so farblos.”
“Der Himmel?”, fragte sie. Über ihnen hing eine dicke Wolkenschicht, die undurchdringlich schien.
“Nein,” sagte er, “nicht das. Der ganze Tag ist farblos.” Er wies sie auf einen kleinen Mann mit einem grauen Haarkranz um eine kahle Glatze hin. Auf einen Spazierstock stützte er sich und sah in die Bäume, deren Blätter sich bereits gelb verfärbten, und den Vögeln nach, die hoch im Himmel schwebten.
“Siehst du ihn, er träumt vom Fliegen. Und die Vögel hoch oben grau wie Asche träumen vom Sonnenschein oder vom strömenden Regen. In ihrer Ruhelosigkeit wollen sie wie die Steine schlafen. Aber die Steine...”
Annika pflückte ein paar Blumen, die sie am Wegesrand gefunden hatte. Martin sah ihr fasziniert zu. Jedes Mal wenn sie eine besonders schöne entdeckte, bückte sie sich schnell und trennte den Stängel kurz über dem Boden hat, vorsichtig um sie nicht zu beschädigen. Behutsam richtete sie sie in ihren Händen zu einem Strauß.
“Sie sind so blau wie der Himmel”, sagte er. Annika sah zu den Wolken hinauf und schüttelte den Kopf.
“Der ist nicht blau”, murmelte sie. “Ja”, nickte er, “da hast du recht.”
Martin zuckte zusammen. Sie waren an einen kleinen Hang heran getreten, als er wie zur Salzsäule erstarrte. Vor ihnen tat sich die Ruine einer ehemaligen Textilfabrik auf. Die großen Fensterscheiben waren zerschlagen und das Innere von Ruß geschwärzt. Der gesamte obere Stock war eingestürzt und lastete nun schwer auf der Decke des Erdgeschosses. Zerschlissenes rotes Absperrband flatterte um Zaunpfeiler gebunden neben kahlen Baumstümpfen am Rand des Geländes. Auf einem gelben Schild stand in großen schwarzen Lettern: “Achtung, Gefahr! Betreten dringlichst untersagt!“. Der trostlose Eindruck ließ Martin erschaudern.
Einst war hier ein beliebter Treffpunkt für Jugendliche gewesen, die alten Mauern waren damals von knorrigen Bäumen gesäumt, der betonierte Hof weitgehend von saftigem, grünen Gras überwachsen, doch die wohlige Atmosphäre war einer tristen Stimmung gewichen.
In einer besonders eisigen Winternacht hatten sich einige der jungen Leute an einem Feuer wärmen wollen. Die züngelnden Flammen hatten sich durch die alten Mauern gefressen und nur noch die alten Betonmauern zurück gelassen.
Jetzt hausten vor allem Tiere in dem verfallenen Gebäude, Raaben flogen durch die offenen Fenster ein und aus und an grauen Herbstabenden pfiff der Novemberwind durch die Ritzen und Spalten.
“Sie sind wie schreiende Münder, sie fordern das Ende ihres Daseins” sagte Martin und sah zu den leeren Fensterhöhlen, “so unheimlich.” Annika jedoch hatte begonnen den kleinen Hang hinunter zu klettern. Steinchen bröckelten vom trockenem Lehm, Staub wirbelte auf. Sie hüstelte.
“Geh dort nicht hin!”, bat Martin, “es ist so dunkel.” Doch Annika hörte ihn gar nicht. Sie lief geradewegs auf das offene Tor im Erdgeschoss zu und drehte sich nicht mehr um.
Die dunkele Ausstrahlung des Gebäudes wirkte eine unglaubliche Faszination auf sie aus. Ihre Augen weiteten sich, als wolle sie das gesamte Bild mit einem Blicke erfassen. Die gewaltigen Betonwände, die leeren Fenster, der surrende Wind. Sie wollte es ergreifen, in sich aufsaugen, verschlingen. Waagemutig rannte sie auf das weitgeöffnete Eingangstor zu.
Dann, als Annika eintrat, sah sie sich in der gigantischen Halle um. Stählerne Stützpfosten hielten die schwere Decke und bildeten senkrechte Linien im hohen Raum. Der Boden war mit Mörtel übersät, überall lagen verbrannte Stoffreste. Ganz am Ende der langen Halle entdeckte Annika eine Treppe ohne Geländer. Interessiert nährte sie sich.
Martins Zunge klebte ihm am Gaumen, sein Mund war ganz trocken. Was sollte er machen? Annika folgen? Ihm war nicht wohl dabei, dass sie dort ganz allein herumlief. Es schauderte ihn aber davor in die Fabrikhalle hinein zu gehen. Ihm brach der Schweiß aus. Kleine glänzende Perlen hingen wie Morgentau auf seiner Stirn. Er versuchte den Kloß in seinem Hals wegzuschlucken.
“Geh rein, los, geh jetzt rein, geh rein!”, sagte er sich immer wieder, doch eine innere Stimme hielt ihn zurück. “Du wirst dir noch den Hals brechen, dieser Ort ist voller Gefahren! Düstere Mächte hausen in diesen Mauern.”
Er sah zu der schwarzen Silhouette vor sich hinauf und biss sich auf die Lippe. Er konnte doch nichts tun. Sie würde ihm sicher nicht nach draußen folgen, selbst wenn er sich entschloss sie herauszuholen. Er beschloss, sich umzudrehen und zu warten bis sie zurückkam, als er plötzlich eine Schattengestalt auf dem trümmerbedeckten Boden des zweiten Stockes, der ja nun das Dach bildete, bemerkte.
Annika trat an den Rand heran und winkte ihm unauffällig zu. Martin erschrak.
Er merkte wie sie das Gleichgewicht verlor und sich dann aber noch einmal fing. “Sie wird hinab stürzen!”, fuhr es ihm durch den Sinn. Er begann loszulaufen auf das gefräßige Tor zu. Die Strecke schien unendlich lang, Mörtel knirschte und seinen Schuhen. Nicht gleich entdeckte er die Treppe am Ende der Halle, nicht gleich begriff er, dass er nur so auf das Dach der Fabrikhalle kommen würde. Mit jeder Stufe schlug sein Herz schneller, mit jedem Schritt wurde seine Angst größer.
Als er sie erreichte, sie an sich zog und fest drückte, wurde ihm bewusst, was für ein Glück sie gehabt hatte.
“Oh, Annika”, sagt er, “liebe dumme Annika. Tu so was nie wieder.” Sie nickte fast unmerklich mit dem Kopf. “Komm, gehen wir weg von diesem Ort.” Er nahm ihre Hand und führte sie zur steilen Treppe, hinab in die finstere Fabrikhalle und dann nach draußen.
Ihr Heimweg führte am Busbahnhof vorbei. Auf dem Platz standen zahlreiche Menschen, starrten Löcher in die Luft, unterhielten sich angeregt oder hatten sich auf den wenigen Sitzmöglichkeiten niedergelassen. Schulkinder standen in kleinen Grüppchen oder einzeln, sprachen über Hausaufgaben und Lehrer. Mütter und Väter versuchten ihren Nachwuchs zu beruhigen. Unbekannte sahen sich kurz im Vorbeigehen an, um sich nie wieder zu begegnen.
Annika und Martin sahen ihnen schweigend dabei zu, bis Anika auf dem Bürgersteig eine Zeitung fand, sie aufhob und von allen Seiten besah. Das graue Papier war von der Witterung ganz ausgebleicht, man konnte die Schrift kaum noch entziffern. Sanft strich Anika es glatt. Martin beobachtete wie sie ein Stück abriss und etwas faltete. “Es sieht aus wie eine Blume, nicht wahr?”, murmelte sie. Dann hielt sie es gegen das trübe Sonnenlicht, nahm seine warme Hand, öffnete sie und drückte das Stück Papier in die Handfläche.
“Hier”, murmelte sie, “behalt du sie.” Martin sah in ihre schimmernden Augen. “Himmelgraue Vergissmeinnicht”, sagte er.

 

Hallo Lathyria,
dein Schreibstil gefaellt mir wirklich sehr gut.

Unbekannte sahen sich kurz im Vorbeigehen an, um sich nie wieder zu begegnen.
deine Einzelheiten, die nicht immer unmittelbar zur geschichte gehoeren, finde ich schoen- ein satz der mir bedonders gefaellt.

Allerdings finde ich etwas in deiner Geschichte nicht ganz schluessig:
der protagonist sieht, wie seine Freundin fast faellt, braucht aber doch sicherlich eine weile um bei ihr anzukommen- warum hat er sie dann gerettet, vor allem da sie sich doch noch einmal faengt? da fehlt irgendwas- kann nicht genau sagen was- kannst dir die stelle ja vielleicht nochmal angucken. -irgendwie klingt es ein bisschen als wolltest du schneller fertig werden...

ansonsten gefaellt mir deine geschichte aber wie gesagt.
gruss,
Rona

 

Hi Rona,
danke erst mal für die Kritik.
Bei dem einem Punkt fühle ich mich allerdings schon ein bisschen ertappt. Ich hatte zwischenzeitlich tatsächlich das Bedürfnis schnell fertig zu werden. Da waren Hauptteil und Ende schon geschrieben und ich habe so den Übergang gesucht. Das sollte ich mir wahrscheinlich nochmal angucken.
VLG, Lathyria

 

Hallo Lathyria,

mir hat´s leider nicht so gut gefallen - sowohl sprachlich, als auch inhaltlich nicht.

Mir wurde nicht richtig klar, was du eigentlich erzählen willst. Martin kam stellenweise sehr symphatisch rüber, mit einigen schönen Gedanken, aber die Beziehung der beiden wurde mir nicht deutlich. Was ist das besondere an diesem Tag, der Höhepunkt der Geschichte? Zweifelsohne die Szene in der Ruine. Dennoch scheint es, als ob gerade dieser Teil nicht zur Stimmung, zur Geschichte passt. Die Details, die du vorher erzählst, sind stellenweise schön, aber ich kriege sie nicht miteinander verbunden, so dass es etwas konfus wirkt.

Sprachlich sind einige Stellen in der Geschichte, die du nochmal überarbeiten solltest - einen Teil hab ich dir unten aufgelistet. Außerdem solltest du die Kommasetzung nochmal überprüfen - aber ich fürchte, dabei kann ich dir auch nicht helfen. ;) Hier die Details:

Tatsache war, dass beide von ihnen für die reale Welt nicht viel übrig hatten.
das "von ihnen" würde ich weglassen, das hört sich nicht so schön an.
Martin deutete oft. Zum Beispiel in den Schatten an der Wand, dem Tropfenden Regen oder den Sternen in der Nacht.
"in" etwas deuten kann man nicht. Also: "Zum Beispiel den Schatten an der Wand, den tropfenden Regen oder die Sterne in der Nacht."
sie mochte seine Stimme und hörte sie gerne.
sie mag seine Stimme, hört ihm aber nicht zu? Passt für mich nicht so ganz zur Beziehung der beiden.
Jetzt hausten vor allem Tiere in dem verfallenen Gebäude, Raaben flogen durch die offenen Fenster ein und aus
Raben
Die dunkle Ausstrahlung des Gebäudes wirkte eine unglaubliche Faszination auf sie aus.
eine Faszination wirkt sich nicht aus.
Interessiert näherte sie sich.
Mörtel knirschte unter seinen Schuhen
Annika und Martin sahen ihnen schweigend dabei zu, bis Anika auf dem Bürgersteig eine Zeitung fand
Du solltest dich entscheiden, ob sie Annika oder Anika heißt. ;) Du wechselst mehrmals in der Geschichte.

Liebe Grüße
Juschi

 

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