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Alte Version: 17.03.2021 (zu finden im Spoiler in meinem Kommentar vom 26.11.2021)
Neue Version: 26.11.2021 (Neuer Text, Sprache überarbeitet, Mittelteil hart runtergekürzt, neues Ende!Eigentlich eine neue Story, nach meinem Empfinden)
Überarbeitung: 10.08.2023 (Kürzungen)
Hitze im August
Es ist fast zwanzig Jahre her, aber ich erinnere mich noch gut an den Mann. Einen Nachmittag stand ich mit ihm in der glühenden Hitze im Dachboden des Lederwaren-Geschäftes meines Vaters: Wir rissen alte Holzschränke ein und bauten verrostete Metallregale auf, die mein Vater von einer der benachbarten Geschäftsauflösungen aufgekauft hatte.
Die kleine Betontreppe hinunter, im Büro unter dem Dachboden, saß mein Vater: auf seinem Drehstuhl, die Hände auf dem Schreibtisch. Im Sakko mit schwarzer Krawatte. Sorge in seinem Gesicht, wie immer in jenen Jahren. Seine nervöse, steife Körperhaltung, selbst wenn er unbemerkt dort saß und Blätter sortierte: der Rücken gerade.
Es war mein erster August, in dem ich kein Kind mehr war, und ich hatte das Kind, das ich einst verkörperte, schon fast vergessen. Dreizehn Jahre alt sein und glauben, die Welt würde einem gehören. Ich weiß noch, wie sich das anfühlte. Ich erinnere mich noch an das Gefühl, zu glauben, man wisse nun um die Geheimnisse der Welt – wie sie funktionierte, was gut und richtig, falsch und abstoßend sei; was die Welt in ihrem Innersten zusammenhalten würde. Das Gefühl, hinter den Vorhang geblickt zu haben, aber trotzdem noch außen vor zu sein. Ich weiß nicht mehr genau, was sonst noch in mir umherging, in jenem Sommer. Sicherlich ein Mädchen. Sicherlich Wut auf etwas, das ich nicht greifen konnte. Sicherlich Zigaretten und erste Räusche, die ersten, angewiderten Schlücke Alkohol, gefolgt vom ersten, göttlichen Loslösen von der Welt. Ich erinnere mich an ein Gefühl, unsterblich zu sein; vom Tod, von der Endlichkeit aller Dinge zu wissen, aber die Kindlichkeit zu besitzen, nicht daran zu glauben – als sei das eine Religion, die man verlassen könnte. Ich erinnere mich an meinen tiefen Glauben an die Architektur und die Sinnhaftigkeit der Welt der Erwachsenen. Meine Mutter war sicher gerade zu Hause, im Tomatenbeet; mit geblümter Schürze, Gießkanne, nachdenklichem Gesicht und eine ihrer Philip Morris zwischen den Lippen, wie so oft in jenem Sommer. Ich erinnere mich an große, kohlschwarze Kräuterboxen am Gartenzaun. Wie prall und geschmacklos die Tomaten in jenem Sommer waren; wie mein Vater am Esstisch saß und in eine hineinbiss, wie der Saft ihm bis zum Kinn lief und er »großartig« und »phänomenal« sagte; wie wir alle aus dem Weidenkorb rote, pralle Tomaten nahmen, als griffen wir nach den Geschwülsten, die wir bereits in uns trugen. Wie meine Mutter das Gesicht in ihre zarte, blasse Hand legte, die Zigarette zwischen den Fingern, und zu weinen begann. Wie mein Vater sie ansah, erschrocken, überfordert, mit all dem roten Saft am Kinn, und wieder ins Fruchtfleisch biss.
Ich betrat das Büro und sah die beiden Männer dort in Drehstühlen sitzen, mein Vater hinter seinem sperrigen Schreibtisch, und der Mann beim Fotokopierer; beide lächelten und drehten ihre Köpfe zu mir. Der Mann war einen Kopf größer als ich, das blonde, lichte Haar angegraut, sein Gesicht seltsam gedrungen; die Augen so grau und hellblau wie der Himmel, wenn wir aus einem der engen Fenster des Büros meines Vaters hinaus auf die Stadt schauten. Da war eine gewissenhafte, ruhige Schwere in seinem Blick. Er trug eine graue Latzhose, hatte Bauchansatz, seine Finger kurz und kräftig. Seine schmalen Lippen wie langgezogene Striche. Das Lächeln, das er im Gesicht trug. Mein Vater und er waren Bekannte: Sie hatten sich in der Kneipe gegenüber kennengelernt. Ich ging durch das Büro, strich mir die langen Haare aus dem Gesicht und streckte dem Mann die Hand entgegen. Sein Werkzeugkasten stand neben dem Drehstuhl. Ich erinnere mich, dass der Mann mir lächelnd ins Gesicht blickte, sich zu seinem Werkzeugkasten bückte und scherzte: »Hier drin hab ich Papageien!« Er öffnete die Klappdeckel des Werkzeugkastens, sah mir ins Gesicht und lachte laut dabei.
Wie der Mann hieß, habe ich leider vergessen. Ich könnte meinen Vater anrufen, dort, wo er jetzt wohnt, aber das wäre schwierig. Ich könnte bis zu den Weihnachtsfeiertagen warten, bis ich meinen Vater in meiner alten Stadt treffe, wir uns am Busbahnhof oder vor seinem alten Laden verabreden und irgendwo in eine der umliegenden Kneipen ziehen, drei, vier Bier trinken, und ihn dann nach dem Namen des Mannes fragen. Aber auch das wäre schwierig. Ich weiß nicht, ob er verstehen würde, worauf ich hinaus will.
Im Dachboden räumten der Mann und ich die Lederwaren aus den Regalen. Ich zog mir schon nach fünf Minuten das T-Shirt aus. Die Hitze stand drückend unter dem Dach. Der Geruch des Leders hing schwer und trocken in der Luft, klebte an unseren Händen und Armen. Die Sonne brach grell durch die schlitzartigen, auf Kopfhöhe liegenden Fenster. All der Staub, der umherwirbelte. Mir lief der Schweiß den Rücken und das Gesicht hinunter.
Der Mann lächelte und wischte sich über die Stirn.
»Mal Pause«, sagte er. Er atmete tief ein und aus und fing an, hinauszuschauen, aus dem Fenster. Er fuhr sich durch die Haare und stemmte seine Hand in die Hüfte. Er lächelte, als er hinaus auf die Stadt schaute.
Schließlich zog er sich Handschuhe über, nahm eine Zange aus dem Werkzeugkasten, ging zum hintersten Holzregal und begann, rostige, fingerlange Nägel aus dem Balken zu ziehen. Er bat mich, mir Handschuhe überzuziehen und das Regal festzuhalten, an dem er zog. Ich erinnere mich, wie er schwitzte. Mit welcher Ruhe er die Nägel aus dem Holz zog. Er lächelte mich an. »Ja«, sagte er.
Schweißperlen glänzten auf seiner Stirn. Er lächelte mich an und da wuchs in mir das eigenartige Gefühl, Teil einer Verbindung auf Augenhöhe mit einem echten anderen erwachsenen Mann zu sein. Wir gingen zum nächsten Regal und zogen die Nägel heraus, dann zum übernächsten und so weiter. Ich erinnere mich an sein Ächzen, an die Hitze, den Geruch des Holzes und an das Knarzen der Bretter. Da entspannte sich etwas in mir, als ich die Regale hielt und ihm zusah, wie er die Nägel aus dem Holz zog.
»Mal Pause«, sagte er, atmete tief ein und aus und stemmte die Hände in die Hüfte. Sein T-Shirt war am Kragen angeschwitzt, und er nickte mir zu, dann ging er wieder einen Schritt zum Fenster und sah ein paar Sekunden hinaus und schnaufte. Der Himmel strahlte in einer hellblauen Schönheit.
»Alles klar?«, fragte mein Vater. Wir drehten uns um und sahen ihn auf den Treppenstufen stehen, die hinunter zum Büro führten. Mein Vater sah müde aus. Als hätte er seit Tagen nicht richtig geschlafen. Sein Gesicht wirkte ledrig, mit solchen Falten, wie man sie hat, wenn man Papier zerknüllt und danach versucht, es wieder zu glätten.
»Alles super«, sagte der Mann. Er hatte eine kräftige, lautstarke Stimme, aber da schwang auch etwas Sanftes mit. Als ob er es gewohnt wäre, seine Stimme zu einer bestimmten Zeit des Tages auf die eine Art zu verwenden, und wenn er seine Katze streichelte oder am Küchentisch fernsah und laut nachdachte, auf die andere.
Mein Vater nickte. Er ging die Treppe hinab und holte uns zwei Wasserflaschen. Der Mann und ich nahmen ein paar große Schlücke. Wir trugen noch unsere Handschuhe. Der Schweiß glänzte in seinem Gesicht.
»Jetzt kommt der beste Teil«, sagte er, sah mich an und lächelte. Er stellte die Wasserflasche ab, kniete sich zum Werkzeugkasten und steckte die verschiedenen Teile eines langen Hammers zusammen. Er schnaufte etwas, als er wieder aufstand. Er lief zum hintersten der zehn, elf mannshohen Holzregale. Er bat mich, einen Schritt zurückzugehen, dann inspizierte er mit kritischem Blick die Bretter und die Holzkonstruktion, holte mit dem Hammer aus und schlug auf eines der Bretter. Es krachte und die Hälfte der Mittelbretter fiel aus dem Regal. Der Mann sah mich jetzt an und lächelte stark, und ich stand am anderen Ende des Dachbodens, wischte mir über Stirn und lächelte zurück. Er holte aus, schlug auf ein verbliebenes Brett und auch das donnerte aus dem Gestell. Schließlich lehnte er den Hammer an die Wand. Er stemmte sich mit beiden Händen gegen das Holzregal, schnaufte und drückte. Das komplette Gestell fiel in sich zusammen. Als all das Holz dort auf dem Boden vor uns lag, blickte er mich an, lächelte und begann auf einmal, laut zu lachen. Ich blickte auch ihn an, lächelte, sah all das Holz und begann ebenfalls für einen langen Moment laut zu lachen. Ich dachte an meinen Vater, wie er einen Stock unter uns saß, an seinem Schreibtisch.
»Ist alles okay?«, rief mein Vater von unten hoch.
»Ja«, rief ich zurück.
Der Mann nahm den Hammer von der Wand und hielt ihn mir hin.
»Willst du auch mal?«, fragte er.
»M-hm«, machte ich, stieg über das Holz und nahm den Hammer. Er war so schwer, dass ich ihn mit beiden Händen kaum hochheben konnte. Der Mann stieg ebenfalls über das Holz und zeigte mir am nächsten Regal den Punkt auf einem der Mittelbretter, auf den ich schlagen sollte. Ich atmete tief ein und hob den Hammer mit aller Kraft. Ich schnaufte. Ich zielte, schlug aber daneben, in die Luft. Der Hammer rutschte mir ungeschickt aus den Händen und fiel auf den Boden. Ich drehte mich zu dem Mann. Grelles, orangenes Licht brach durch die Fenster. Die Luft war so dick und voller Staub, als könnte man sie greifen und sich in die Hosentaschen stecken. Mein Gesicht wurde heiß und ich spürte, wie ich errötete.
»Auf«, sagte der Mann. Er lächelte jetzt nicht mehr.Schweißperlen rannen an seiner Stirn und seiner Wange herab. Er nickte mir ernst zu und atmete. »Das machst du«, sagte er. »Wo ein Wille ist«, sagte er.
Ich hob den Hammer vom Betonboden auf. Meine Arme brannten. Ich sah auf den Punkt des Mittelbrettes, auf den ich einschlagen sollte. Ich atmete tief ein und hörte ein Stockwerk unter mir das Papier durch die Hände meines Vaters rascheln. Ich hörte meinen Vater hüsteln und die Klimaanlage dort surren. Ich holte aus und schlug auf das Regal. Zwei, drei Böden fielen krachend aus dem Gestell. Mein Herz raste. Meine Lungen pumpten. Der Puls an meiner Schläfe pochte. Ich drehte mich um und lächelte. Das Gesicht des Mannes glänzte vor Schweiß, die Haare dunkel vor Nässe. Er nickte und lächelte. Er klopfte mir auf die Schulter.
Am späten Nachmittag hatten wir alle alten Regale eingerissen. Mein Vater stand wieder auf den Treppenstufen, in Sakko und weißem Hemd, mit zwei vollen 1,5-Liter-Flaschen Wasser in den Händen. Vor ihm lag all das Holz. All die eingerissenen Dinge. All die aufgeheizte, drückende Luft. Der Staub, der den Dachboden in einen Nebel hüllte. Wir standen da, schnaufend, verschwitzt, und blickten meinen Vater an. Der Arbeiterstolz, mit den eigenen Händen, mit dem eigenen Körper und der eigenen Kraft Dinge zum Besseren gehoben, geschlagen, getragen und gehämmert zu haben, glühte in mir. Hatte ich mich jemals so zufrieden gefühlt?
Mein Vater stellte die Flaschen ab. Sein Blick wanderte durch den Dachboden. Er sah erschöpft aus; als ob auch in ihm Dinge zusammengefallen wären. Er nickte und sagte für lange Zeit kein Wort. Er sah uns nicht an. Dann stellte er einen Fuß auf den Bretterhaufen und stakste über das Holz, langsam, wankend und stolpernd, bis er an den Fenstern der Wand stand. Mein Vater blickte durch das Glas, mit dem Gesicht ganz nah an der Scheibe. Er fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. Dann öffnete er das Fenster, drehte sich zu uns und lächelte verkrampft.
»Helft mir mal«, sagte er.
Der Mann und ich standen einige Sekunden perplex da, verstanden nicht. Schließlich ging der Bekannte meines Vaters über die Bretter, kniete sich und gab meinem Vater eine Räuberleiter. Danach krabbelte ich über das Holz zum Fenster, trat auf die Hand des Mannes und zog mich ebenfalls durch den Fensterrahmen. Er war so eng, dass ich kaum mit dem Kopf durchpasste. Draußen kamen wir auf einem Flachdach an. Als der Mann etwas Holz zusammengeschoben hatte und sich ebenfalls ächzend durch den Fensterrahmen zwängte, hielten ich und mein Vater ihn von draußen an den Händen und zogen an ihm.
Zu guter Letzt – und das ist das Bild, das mir von jenem Tag am deutlichsten im Gedächtnis blieb – standen wir drei auf dem Dach des Ladens meines Vaters. Mein Vater atmete tief ein und aus, die eine Hand in der Hosentasche, den Blick in die Ferne. Die Weite des blauen Himmels über uns. Keine einzige Wolke. Der Himmel strahlte so, dass es einem in den Augen schmerzte. Vor uns lag die Stadt: Die hohe, gotische Kirche war nur einen Steinwurf entfernt, genauso wie zwei, drei Bürogebäude, ein paar Wohnhäuser, der Busbahnhof und einige der bereits geschlossenen Läden mit ihren abgeklebten Schaufenstern; und dann, vielleicht einen weiteren Steinwurf entfernt, der Rohbau des neuen, großen Einkaufszentrums, der schon damals all die umliegenden Gebäude überragte und meinen Vater schließlich in den Ruin treiben sollte. Mein Vater blickte zu dem Einkaufszentrum. Ich sah all die Sorge in seinem Gesicht, all die Müdigkeit. Der Bekannte meines Vaters keuchte neben mir. Als ich zu ihm rüber sah, drehte er den Kopf zu mir und streckte mir lächelnd die Zunge raus. Ich lachte und streckte auch ihm die Zunge raus. Dann blickte er wieder auf die Stadt, in die Ferne; aus der Blaumanntasche zog er eine L&M-Packung, fingerte sich ein Zigarillo heraus und hielt die Schachtel meinem Vater hin.
»Auch eine?«, fragte er. Mein Vater nickte abwesend und zog ein Zigarillo aus der Packung. Der Mann hielt ihm die Flamme seines Feuerzeugs hin, und mein Vater beugte sich hinunter zum Feuer und brachte den Tabak zum Brennen.
Und dann standen wir gemeinsam an jenem Nachmittag auf dem Flachdach über der Stadt. Autos hupten, Busse schoben sich wie dicke, gelbgrüne Insekten durch die Straßen unter uns. Menschenstimmen. Das Kreischen eines Kindes. Die Sonne heiß und brennend, und mein Vater und sein Bekannter standen schweigend und rauchend neben mir auf dem Flachdach. Hinter uns all das Holz. All das Leder, dessen Geruch ich erst zwei Tage später von der Haut bekommen sollte.
Acht oder zehn Wochen später hörte ich wieder von dem Mann, dem Bekannten meines Vaters. Es war schon Herbst, fast Winter. Mein Vater kam abends von seinem Laden, im grauen Wollmantel. Ich hörte ihn die Kühlschranktür öffnen. Dann setzte er sich mit einer Scheibe Brot, einer Salami und einem Weizenbierglas an den Wohnzimmertisch.
»Komm mal«, sagte er. Seine Stimme klang leise und heiser. Der Fernseher lief. Ich stand vom Sofa auf und setzte mich zu ihm. Mein Vater sah mir wortlos in die Augen, einen langen Moment; er biss von der Wurst ab und nahm einen Schluck Bier. Der Schaum hing ihm im Bart. Ich weiß noch, dass ich mich kniend auf den Stuhl gesetzt hatte, die Ellbogen auf dem Küchentisch, das Gesicht abgestützt auf den Händen. Ich lachte, weil mir das alles lustig vorkam. Ich hatte keinen Moment mehr an den Mann gedacht. Er war für mich nichts weiter als ein Erwachsener, der in meinem Leben aufgetaucht und wieder verschwunden war, wie so viele.
Ich erinnere mich, dass mein Vater und ich nach diesem Gespräch die Gasse vor zu unserer Garage gingen. Wortlos. Ich erinnere mich an die kalte Herbstluft, an den Geruch des Verbrannten in ihr. Ich erinnere mich, dass wir in den Ford meines Vaters stiegen, ohne ein weiteres Wort gesprochen zu haben, nachdem wir vom Tisch aufgestanden waren. Als sei das das natürliche nächste Glied in der Kette der Ereignisse. Ich hibbelte im Fußraum des Wagens mit den Beinen und spürte eine Leere und Schwere in mir, die ich kaum ertrug. Ich erinnere mich, dass wir langsam durch unser Viertel fuhren, Straße um Straße. Ich erinnere mich an das orange Licht der Laternen, an den Nieselregen. Niemand von uns beiden sprach ein Wort. Wir fuhren einen kleinen Hügel hinauf und parkten auf dem Kieselsteinplatz neben dem Funkmast. Mein Vater schaltete den Motor ab. Vor uns lag unser Viertel, die Stadt: Lichter, Laternen, Dächer, Hochhäuser, das Krankenhaus. Dunkler Ackerboden am Rand.
Mein Vater griff in die Innentasche seines Mantels, blickte durch die Windschutzscheibe. Er hielt ein Softpack Ernte 23 in Händen, riss das Zellophan ab und hielt es mir hin.
»Ich weiß, dass du es willst«, sagte er und nickte auf die Zigaretten. »Greif zu«, sagte er. »Lieber hier mit mir, als irgendwo sonst.«
Ich griff nach einer Zigarette, legte sie wie eine Hostie in beide Hände und blickte sie an, als hätte ich nie zuvor eine Zigarette gesehen. Aber ich konnte nicht aufhören, an all das Blut zu denken, von dem mein Vater mir erzählt hatte. Dass der Mann in dem Blut gelegen wäre. Dass es beim Reinigen seiner Waffe passierte. Dass er sich ein Loch ins Gesicht geschossen haben soll. Dass er in all dem Blut gelegen war. Dass ihn seine Frau gefunden hätte.
Ich erfuhr, dass der Mann einundsechzig war. Er hatte vor vier Monaten erst wieder geheiratet. Man wusste von seinen Depressionen. Der Arbeitslosigkeit. Mein Vater und er; wenn ich heute an diese Männer denke, dann denke ich an zwei stille, nachdenkliche und höfliche Männer, die sich im Pulk fremder, lauter Menschen nach drei, vier Flaschen Bier in der Stehkneipe gegenüber vom Lederwarengeschäft durch eine Art natürliche Anziehung finden und fortan beisammen bleiben.
In der Dunkelheit des Wagens sah ich den Blick meines Vaters; die müden, abgeschlagen Augen; die Härte und Strenge seines faltigen Gesichtes. Er sah durch die Windschutzscheibe nach draußen, hinunter auf die Stadt, und für einen Augenblick hatte ich das Gefühl, dass da etwas von ihm abfiel, dass ich etwas Weiches und Verletzliches an seinem Gesicht wahrnahm, das ich so nie zuvor gesehen hatte. Er nahm die Zigarette in den Mund, entflammte das Feuerzeug und zündete den Tabak an. Schließlich drehte sich mein Vaters zu mir, hielt mir die Flamme hin; ich erinnere mich an diesen Moment, an das Feuer, an seinen Mantel, dieses Gesicht; die Dunkelheit, die klamme Luft des Wagens; den Blick, den er mir zuwarf und mein Gefühl, Teil einer Verbindung auf Augenhöhe mit einem Erwachsen – mit meinem Vater – zu sein.
Ich hielt die Zigarette ungeschickt zwischen Mittel- und Zeigefinger, umschloss den Filter mit meinen Lippen.
»Erstmal paffen«, sagte mein Vater und blickte mich streng an. »In die Backen ziehen, so, nicht einatmen. Ja, so.«
Er ließ sich wieder in den Fahrersitz sinken. Aber selbst in dieser Situation hatte seine Haltung etwas Steifes, sein Rücken durchgestreckt. Dann sagte er: »Ich will, dass du das alles weißt. Ich will, dass du weißt, wie die Welt da draußen ist.« Er sah durch die Windschutzscheibe. »Die Welt ist furchtbar«, sagte er. »Sie ist grauenhaft. Schrecklich.« Er spitzte die Lippen. Dann biss er die Zähne zusammen, ich sah das Anspannen der Muskulatur seines Kiefers. Er aschte in die kleine Klappe unter dem Autoradio und blickte wieder durch die Windschutzscheibe hinaus in die Dunkelheit. »Die Welt ist so furchtbar, dass du es manchmal nicht aushalten wirst. Manche Leute halten es nicht aus.« Er rauchte und zog die Nase hoch. Er drehte sich zu mir und blickte mir ins Gesicht. Ich erinnere mich, wie sehr ich in diesem Moment erschrak. Wie sehr sich in diesem Moment das Bild davon, wer mein Vater wäre, änderte. In seinen Augen standen Tränen, und ich sah die Hilflosigkeit gegenüber all dem Grauen, von dem er sprach. »Ich möchte dir sagen«, sagte er, »dass die Art, wie wir leben, zutiefst krank ist. Die Welt mit ihren eigenartigen Regeln. Manche können das nicht.«
Es war das erste Mal, dass ich meinen Vater weinen sah. Er weinte auf eine seltsame Weise. Er begann, sich mit den Fingerspitzen über die Augenbrauen zu streifen. Sein Gesicht verformte sich auf eine Art, dass ich zuerst glaubte, er würde schlagartig totmüde. Er vergoss keine Träne. Sein kleiner Mund japste in einem seltsam hohen Ton nach Luft.
»Aber es gibt auch das Gute«, sagte er. »Es kommt von jedem Einzelnen. Treue. Ehrlichkeit. Mut. Fleiß. Ich glaube nicht an meine Kirche. Aber an meine Werte.«
Er sah mich an, mit gläsernen Augen, und ich hielt die glimmende, rauchende Zigarette in der Hand.
»Wenn du dich an diese Werte hältst, wird dein Leben besser. Jedes Mal, wenn du dich treu, ehrlich, mutig und fleißig verhältst, machst du dein Leben ein Stück besser. Immer, wenn du das nicht schaffst, machst du dein Leben ein Stück schlechter. Das ist das Gesetz dieser Welt«, sagte er. Er blickte in Richtung Wagendach und deutete mit dem Zeigefinger nach oben. »Nur Werte können uns retten«, sagte er. »Ich möchte, dass du dir das merkst. Ich möchte, dass du das niemals vergisst. Das Schlechte der Welt wird dich holen, wenn du das vergisst. Das gebe ich dir schriftlich.«
Wir saßen noch einige Zeit dort oben, im Ford auf dem Kieselsteinplatz des kleinen Hügels, direkt neben dem Antennenmast über unserem Viertel. Meiner Erinnerung nach rauchten wir noch drei oder vier Zigaretten. Über was wir noch sprachen, weiß ich nicht mehr. Vielleicht über die Schule. Oder über seinen Laden. Oder Mama. Dann startete mein Vater den Motor. Mit leuchtender Zigarette im Mund, den Filter zwischen den Zähnen. Seine hochgewachsene Statur. Das rabenschwarze, pomierte Haar. Die feinen, intellektuellen Gesichtszüge. Die rahmenlose Brille. Wir fuhren den Hügel im Dunkeln hinab, ohne Scheinwerfer. Als wir in unser Viertel bogen, blendeten mich die grellen Neonröhren der Straßenlaternen so sehr, dass ich mir die Augen zukniff. Die Häuser, die an uns vorbeizogen, das Licht, das aus ihren Fenstern brach, schienen verändert.
Ich stieg aus dem Wagen. Mein Vater fuhr in das enge Garagenhäuschen. Die Gasse zu unserem Reihenhaus gingen wir nebeneinander, ich mit wackligen Beinen. Das Nikotin hatte mein Gesicht taub gemacht. Es nieselte. Der Geruch des Verbrannten lag in der Luft. Ich erinnere mich an die großen, sicheren Schritte meines Vaters. Das Klacken der Absätze seiner Budapester. Seine Hände in den Wollmanteltaschen. Einen Augenblick blieb ich stehen und glaubte, ich hätte etwas vergessen, im Auto.
Mein Vater blieb stehen und drehte sich zu mir, ein paar Schritte vor mir, auf dem Gehweg. Ich erinnere mich, wie sehr mich dieser Augenblick schockierte. Die Laternen leuchteten das Gesicht meines Vaters auf eine Art aus, wie ich es zuvor nicht wahrgenommen hatte. Für einen Augenblick sah ich die Dinge, wie sie waren.