- Beitritt
- 19.05.2015
- Beiträge
- 2.599
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 15
- Anmerkungen zum Text
2024 schlüpften im Osten der Vereinigten Staaten die beiden Populationen gleichzeitig, was zuletzt unter Präsident Jefferson passiert ist.
Hochzeit der Zikaden
Die Sonne verteilt zaghaft späten Frühling über dem Park. Spaziergänger flanieren: eine Knochengestalt, die sich über den Rollator beugt, den Kopf schüttelt, ein Pärchen, das einander an den Händen hält, während die Hüften sich beim Wiegen ihrer Schritte berühren. Auf der Bank unter der Esche sitzt niemand. Das Laub des letzten Jahres bedeckt den Boden. Ich schaue zum Himmel, betrachte Wolkenformationen, die zu Dämonen und Fantasiegestalten werden, um dann zu vergehen, lasse Erinnerungen mit ihnen schweben, nahe und ferne, als ich ein Knistern wahrnehme.
Ich schaue genauer hin und sehe Blätter, die von einer unsichtbaren Kraft angehoben werden. Das Rascheln nimmt zu und ich versuche zu erkennen, welche Wesen aus der Erde hervorkriechen. Wenige Zentimeter neben meinen Beinen entdecke ich ein Insekt. Es hat leuchtend rote Knopfaugen, krabbelt vorwärts, ruckelt, wackelt, bewegt die orangenen Flügel, als wolle es probieren, ob es wirklich fliegen könnte, breitet sie schließlich aus und hebt senkrecht nach oben ab, bis ich es aus dem Blick verliere.
Andere klettern den Stamm des Baumes empor, eins balanciert auf den Holzverstrebungen der Bank und segelt davon. Ich spüre den Impuls aufzustehen, als eines auf meinem Knie landet und unentwegt weiter den Oberschenkel entlang liefe, würde ich es nicht mit der Hand wegwischen. Die Facettenaugen scheinen zu leuchten, die Maske zu grinsen. Ich bleibe sitzen, um das Schauspiel zu erleben. Hunderte, tausende Insekten kommen zum Vorschein, fliegen zum Himmel, erklettern Bäume. Ein ganz eigentümlicher Gesang setzt ein, ein Kreischen und Schreien, lauter und lauter dringt es in die Ohren, lässt keine weiteren Gedanken zu, füllt mich vollständig aus.
Erst als mich gleich mehrere Insekten mit einem Baum verwechseln, Gänsehaut auf den Armen einsetzt, das Zirpen mehr und mehr anschwillt, sich zu einem einzigen Schrei vereinigt und obendrein eins der sonderbaren Wesen den Weg unter mein Hemd schafft, schrecke ich auf, schüttle mich und eile weg von dem Ort des seltsamen Ereignisses. Nach und nach wird der Gesang leiser und verstummt schließlich ganz oder mischt sich mit dem Rauschen der Stadt. Erst als ich den Ausgang des Parks erreicht habe, bleibe ich kurz stehen, um zu überlegen, wo ich das Auto abgestellt habe. Der Himmel leuchtet in einem hellen Blau. Die Wolken sind ganz verschwunden.
Auf dem Heimweg geht mir das schöne Wesen nicht mehr aus dem Kopf. Wenngleich alle Lebewesen bei genauerer Betrachtung schön sind, selbst der Mensch.Wieder zu Hause suche ich nach dem Insekt, dem ich begegnet bin, sende Fragen in den Äther und werde schnell fündig: Singzikaden, über dem großen Meer beheimatet. Ihr Leben erwacht im Abstand der Zahlen, mit denen Menschen Nachrichten verschlüsseln, Primzahlen, 13 oder 17, je nach Population. Sie durchbrechen pünktlich nach all den Jahren die Erde und feiern ein kurzes Leben, im Grunde nur, um sich zu paaren, die Existenz der eigenen Art zu sichern, millionenfach an einem einzigen Tag. Sie haben keine Feinde.
Wer könnte sich darauf einstellen? Welche Kraft hat die Wesen mit den roten Stielaugen und den durchsichtigen orangenen Flügeln über den Ozean getragen? So rückt die Welt zusammen und Gewissheiten verschieben sich ins Nirgendwo. Wie weit wird sich der Gesang der Zikaden ausbreiten? Es gibt keine Zufälle, das Leben findet Wege. Zikaden schlüpfen nach einem festgelegten Zeitpunkt, sobald eine bestimmte Temperatur erreicht ist. Ein ewiger Zyklus, basierend auf der Klugheit der Natur, einer geheimen Macht, der wir Menschen nichts entgegenzusetzen vermögen. Sobald die Zeit gekommen ist, fliegen die Zikaden, feiern Hochzeit, paaren sich und sterben.
Zeit aus der Erstarrung zu erwachen, den Stillstand zu beenden, sage ich mir. Und dem Gesang der Zikaden folgen.