- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 3
Hotel s (~s; ~s) (gr.) Gasthaus
Es ist schon ein seltsamer Gedanke, dass sich so viele fremde Menschen zusammen unter einem Dach versammeln. Die sich nicht kennen, sich vielleicht nicht einmal untereinander verständigen können. Sie alle kommen und bleiben. Manche für nur eine einzige Nacht, andere für eine Ewigkeit. Viele bringen Taschen voller Gerümpel mit. Dinge, die sie während ihres kurzen Aufenthaltes gar nicht brauchen werden. Keuchend schleppen sie dann ihre Koffer zur Rezeption, sehnsüchtig umherblickend, ob da jemand ist, der sie von ihrer Qual erlösen könnte. Aber die Ankunftshalle ist umhüllt von einem dunklen Schleier, von der Nacht, die in das Gemäuer dringt. Niemand ist da. Nur eine goldene Tischlampe, die den Tresen in schummrig, weiches Licht taucht.
„Hallo? Ist da jemand?“ Die Worte lösen sich nur zaghaft von den Lippen, krallen nach ihnen, wollen wieder zurück. Doch schon hallt das Echo von den schwarzen unsichtbaren Wänden wieder. Sie können nicht mehr zurück. Und ein Kopf taucht im vagen Lichtschein auf.
„Ja?“ Ein Krächzen, das die Stille durchschneidet. „Was wollen Sie?“
Ein Seufzen antwortet, Zeichen der Erleichterung. „Ein Zimmer bitte.“
„Ein Zimmer?“ Das Gesicht schwebt näher an den Tresen heran, eine leblose Fratze zeichnet sich im Schimmer der Tischlampe ab. „Wollen Sie das nicht alle?“
Unsicheres Lachen.
Und schon ist man Gast. Willkommen oder nicht. Der Name, er steht nun unauslöschlich in dem Buch mit dem schwarzen Ledereinband. Jenes Buch, dessen Inhalt aus Hunderten, aus Tausenden von Namen besteht. Jeder akribisch mit unterschiedlichen Daten versehen. Ein Tagebuch. Ein Tagebuch des Hauses.
Mein Name steht auch irgendwo zwischen den Zeilen. Vergessen in der Unendlichkeit, gefangen für die Ewigkeit. Ich kann ihn nicht mehr herausnehmen. Selbst wenn ich wollte.
Während den kurzen Tagen, die dort scheinbar das ganze Jahr ausfüllen, war die Ankunftshalle nur für einige Stunden in dumpfes Licht getaucht. Zu dieser Zeit saß ich zumeist auf einem Sessel, dessen Lehne auf die fortwährend dunkle Nische der Rezeption zeigte. Die Tischlampe dort brannte Tag und Nacht und die Dunkelheit änderte sich nie. Ich saß dort und blickte aus dem hohen Fenster, das mir gegenüber lag. Beobachtete, wie die Laubblätter ihre Farbe veränderten. Wie das saftige Grün gelb wurde. Dann rot, dann braun. Bis es schließlich, von einer Windböhe getragen, wiegend zu Boden glitt und eine kahle Stelle am Ast hinterließ.
Ich beobachtete, wie eins nach dem anderen allmählich starb und der Baum nackt und einsam auf dem Platz vor dem Haus hinterblieb. Ich beobachtete, wie der Regen die Blätter fort schwemmte und wie der Schnee sich unaufhaltsam auf alles niederlegte. Und während ich all das beobachtete, sah ich im Fenster die neuen Gäste ankommen. All ihre Gesichter, von der Scheibe reflektiert. Nie sprach ich ein Wort mit ihnen.
Bis auf dieses eine Mal. Da gesellte sich plötzlich ein hochgewachsener Mann zu mir, ließ sich mit einer Tasse brühenden Tee auf die Couch neben meinem Sessel nieder und schaute dabei verträumt auf die weite Schneelandschaft vor uns. Er lächelte und während seine linke Hand die Untertasse ausbalancierte, fuhr er mit der Rechten grazil die zerbrechlich Tasse zu seinem Mund.
Ich beobachtete ihn, hoffte, dass meine Augen gleichsam nichts davon verrieten. Wollte diesen Fremden nur ansehen. Ansehen und mir ausmalen, welcher Weg ihn zu diesem Hotel geführt hatte. Sprechen, das wollte ich nicht. Nie hätte ich mit ihm reden wollen. Doch er ließ mir keine Wahl.
Mit einem Kopfnicken wies er auf das Weiß vor uns. Er stellte seine Tasse samt Teller auf einen kleinen Holztisch und sagte: „Es ist schön dort draußen, nicht wahr?“
Ohne weiter nachzudenken nickte ich. „Ja.“ Gab ich zurück, unbewußt, was ich da gerade tat. Dieser Fremde. Er war hier, in diesem Haus, mir so nahe und sprach. Mit mir. Zuviel!
„Der Schnee, er ist selten so weiß.“
„Ja.“ Hörte ich mich sagen. Was tat ich da? Ich spürte, wie sich bereits die anderen Gäste hinter unseren Rücken versammelten. Sie starrten uns an. Ihre Blicke, ich spürte sie durch das weiche Polster hindurch. Sie bohrten sich in meinen Rücken, durch meinen Körper, zu meinem Herzen. Ich fröstelte. Alles Fremde! Fremde in einem Haus. Keine Verbindung. Nie hatte es eine gegeben. Und nie würde es eine geben.
„Ich würde gerne einmal hoch, ans Kap, nur um zu sehen, wie weiß er noch werden kann.“ Der Fremde hüstelte. Straffte dann seine Haltung und nickte wieder hinaus. „Der Schnee.“
Ich zuckte gleichgültig mit den Schultern. „Ich weiß nicht.“
Die Blicke, sie drangen nun durch mein Herz hindurch, kämpften sich ihren Weg hinauf in meinen Kopf. Ich mußte etwas unternehmen. Bald schon würden sie keine Fremden mehr sein. Würden meine Gedanken erkennen und auf sie antworten wollen.
Ich blickte zu Boden, musterte den Teppich unter meinen Füßen. Ich fragte mich, warum ich Schuhe trug. Er sah so weich und flaumig aus. So, als fühle er sich ganz warm und wohlig an.
„Warum sind Sie hier?“
Ein Blitz durchfuhr meine Adern, ließ mein Herz für eine Sekunde aussetzen, das Blut gefrieren. Ich hob meinen Kopf und blickte zur Seite, sah ihn an, den Fremden, dort neben mir und wünschte ihm die Pest an den Hals. Hinter mir spürte ich Unruhe. Bewegung. Es konnte nicht mehr lange dauern. Ich mußte das alles beenden. Jetzt. Sofort. Ein für alle mal. Sie waren schon zu weit vorgestoßen.
„Ich wohne hier.“ Antwortete ich in einem Atemzug. Der Mann, er schenkte mir keinen Blick, zu fasziniert war er von dem, was dort draußen das Schwarze seiner Pupillen erblassen ließ. „Ich wohne hier. Hier fühle ich mich zu Hause. Das ist mein zu Hause.“ Meine Stimme zitterte. Mein Oberkörper war leicht nach vorne geneigt, meine Fußsohlen berührten beide den Boden. Fluchtvorbereitung. Ich ballte meine Fäuste. „Mein zu Hause.“ Wiederholte ich bestimmt. Es klang viel zu offensiv. Viel zu deutlich.
„Ach ja?“
„Ja.“ Es mußte schnell gehen. Instinktiv begann mein Körper sich auf die nächsten Minuten vorzubereiten.
Nein! Diesmal würde ich nicht wegrennen! Diesmal nicht. Verteidigen würde ich mich. Mit einem gezielten Angriff. Kurz, dass alles ganz schnell vorbei sein würde. Das die Leute, die Masse hinter meinem Rücken wieder verschwinden, der Fremde neben mir mich in Ruhe lassen würde, dass ich wieder hier verharren konnte, alleine und friedlich.
„So?“ Noch immer kein Blick. Warum sah er mich nicht an?
„Haben Sie etwas dagegen?“ fragte ich leise. Warnend. Hinter mir ertönte unruhiges Gemurmel. Sie waren nervös. Nicht mehr lange würden sie dort stehen bleiben.
„O nein. Selbstverständlich nicht.“ Wehrte der Fremde ab. „Ich frage mich nur, wie man ein Hotel sein eigen nennen kann.“
Mein Herz pochte. Es war soweit. Die Geräusche wurden lauter.
„Eher meines als Ihres!“ rief ich und sprang auf. Ich wirbelte herum und sah in all die Gesichter. Zwanzig Augenpaare, die mich fixierten, mich als ihre Beute wahrnahmen. Nur auf einen günstigen Zeitpunkt warteten, um sich auf mich zu stürzen. Aber ich hielt ihren lüsternen Blicken stand.
„Ja!“ rief ich erneut. „Eher mein Eigen, als das eure!“ Mein Zeigefinger fuhr sorgsam durch ihre Reihen. So als könne er sie von weiteren Bewegungen abhalten.
„Aber wir wollen Ihnen doch gar nichts wegnehmen.“ Ich wirbelte herum. Der Mann, er hatte wieder seine Tasse in den Händen und schlürfte genüßlich daran. „Niemand will Ihnen etwas wegnehmen.“
„Ach ja?“
„Ja.“
„Ihr seid alles Fremde!“ Wütend funkelte ich ihn an, während ich zu allen sprach: „Glaubt nicht, dass ihr es euer Eigen nennen könnt! Niemals!“
„Destina.“
Bei dem Klang meines Namens fuhr ich erschrocken zusammen.
Nur das Buch kannte meinen Namen.
Niemand sonst.
Ich schaute mich um.
Das Gemurmel war verebbt. Stille hatte sich über den Saal gelegt, schien als unsagbare Last über unseren Häuptern zu liegen, bereit sich zu erbrechen, uns darunter zu vergraben. Ich spürte das Pochen an meinen Schläfen, das Fließen meines Blutes, das Schlagen meines Herzens. Nein, nein, ich wollte es nicht hören.
„Destina, hier ist kein Fremder. Hier bist nur du.“ Dann endlich wendete mir der Mann sein Gesicht zu und starrte mich mit farblosen Augen an. „Sieh hin!“ Und alles was ich darin erkannte, war mein Gesicht. Ich schrie. Blickte in all die Gesichter. In jedes einzelne. Und immer in meines.
„Was ist das?“ schrie ich und presste meine Hände gegen meine Schläfen. Ich sah mich um, sah zu dem Mann. Er war aufgestanden, gesellte sich zur Menge. Sie sahen alle so anders aus und hatten trotzdem soviel Ähnlichkeit mit mir. Und dann erkannte ich es. Mein Unterbewußtsein, es hatte es schon immer gewußt. Jetzt ließ es auch mich daran teilhaben.
Ein Hotel, es ist wie ein Körper.
Wenn man Glück hat, ist man der einzige Gast darin.