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Huberts Freund

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29.06.2007
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Huberts Freund

Hubert’s Freund

Hubert sitzt alleine auf der Parkbank, den grünen, zerbeulten Filzhut hat er links neben sich gelegt. Der Wind zerzaust seine Haare in alle Richtungen. Sein runzliges, wettergegerbtes Gesicht leuchtet in der Herbstsonne, die Augen hat er geschlossen. Wenn er sie öffnen würde, sähe er vor sich einen Spielplatz, lachende Kinder, die ihm hin und wieder verstohlene Blicke zuwerfen, Mütter, die mit ihren Kinderwagen auf und ab spazieren, um ihre schreienden Babys zu beruhigen. Und ab und zu auch einen Vater.
Fast alle kennen Hubert mit dem grünen Filzhut. Die Erwachsenen meiden ihn und tun ganz so, als sei er nicht da; die Kinder sind neugierig, aber scheu. Es ist nicht so, dass er komisch aussieht, dieser Hubert. Aber seit fünfunddreissig Jahren sitzt er jeden Tag auf derselben Bank, den stets gleichen Hut links neben sich, das Gesicht der Sonne zugewandt, selbst, wenn die Sonne nicht zu sehen ist. Er isst sogar dort: Jeden Mittag packt er Brot, Käse, etwas Schinken und ein Ei aus. Selbst im Winter. Dann wischt er mit seinen Handschuhen den Schnee von der Bank und schiebt ein Hasenfell zwischen seinen Hintern und das feuchtkalte Holz. Das alles ist seltsam, und alles Seltsame soll gemieden werden, denken die Erwachsenen, die hier wohnen. Die Kinder trauen sich nicht mehr, als ihm gut getarnte Blicke zuzuwerfen. Dabei hat der alte Hubert seine Gründe.
Als er noch jünger war, zuerst im Bubenalter und dann als junger Mann, zuletzt in den besten Jahren – da hatte er einen Freund. Es war nicht einer von jener Sorte Freunde, denen man im Vorbeigehen einen guten Morgen wünscht und sich nach seinem Befinden erkundigt, weil die Höflichkeit es so verlangt. Oder die einem an Weihnachten und Geburtstagen die schönsten Geschenke überreichen und einen umarmen, eben weil es Sitte ist – und in Zeiten der Not sind sie nicht da. Nein, es war ein Freund, auf den er immer zählen konnte, der zwar manchmal seinen Geburtstag vergass, der auch nicht grosse Geschenke machte, da er kein Geld hatte, aber der stets treu blieb. Wenn sie sprachen, sprachen sie nicht viel, und manchmal sahen sie sich lange Zeit nicht mehr. Aber ein riesiges, inneres Band hatte einst ihre Seelen für immer zusammen geknotet. Hubert hätte sich also nichts besseres wünschen können. Eines schönen, warmen Frühlingsabends sassen sie auf derselben Parkbank und genossen den lauen Abendwind, und sie sprachen nicht, sondern sassen nur da und lächelten, und dann öffnete der Freund doch den Mund und sagte: „Hubert, wenn ich dich einmal verlassen sollte, dann warte hier auf mich. Glaub mir, ich werde zurückkommen.“
Am nächsten Morgen war er verschwunden, und niemand hatte ein Ahnung, wohin.
Seit dem hat Hubert jeden Tag auf der Parkbank verbracht. Solange es hell war, traute er sich nicht, nach Hause zu gehen, denn je länger die Zeit fortschritt, desto mehr hatte er das Gefühl, sein Freund müsse jeden Moment auftauchen. Er kommt zurück, hat er gesagt. „Warte hier auf mich.“ Und Hubert wartete und wartete, und er wartet auch heute.
Plötzlich löst sich ein kleiner Junge aus der spielenden Menge und stellt sich, ungeachtet der misstrauischen Blicke der Erwachsenen, vor die geschlossenen Augen des alten Mannes. Als hätte der die Anwesenheit des Kindes bemerkt, öffnet er sie in eben diesem Augenblick, und vor Überraschung zucken seine Pupillen vom Kind zum Spielplatz und wieder zurück. Dem alten Hubert fällt kein Wort ein, das er hätte sagen und keine Frage, die er hätte stellen können, so überrascht ist er. Aber der Junge fragt: „Darf ich mich hier neben dich setzen?“ Hubert gibt keine Antwort, nickt nicht, sondern nimmt einfach den Hut beiseite und macht eine einladende Geste. Eine Weile sitzen sie still da. Aber nur eine kleine Weile.
„Wieso sitzt du eigentlich jeden Tag hier?“, will der Junge wissen.
„Wie heisst du?“, fragt Hubert.
„Man nennt mich Basti. Und du?“ Basti, denkt der alte Mann, das passt zu ihm. Er hat ein freches, aber hübsches Gesicht, Sommersprossen, rötlich-blonde Haare; er sieht einfach aus wie ein Basti.
„Hubert“, sagt er. „Und nun zu deiner Frage: Ich warte auf meinen Freund.“
„So lange?“
„Ja, bis er kommt.“
„Wo ist er?“
“Keine Ahnung.“
Der Junge versteht nicht ganz. Wie kann man so lange auf jemanden warten? Hubert scheint diese unausgesprochene Frage von seinem Gesichtsausdruck ablesen zu können, denn er sagt: „Wenn du jemals einen so guten Freund haben solltest wie ich, dann schwöre ich dir, dass du ebenfalls so lange warten wirst.“
„Denkst du, dass er noch lebt?“
Diese Frage erschreckt den Mann, der den Hut mittlerweile wieder aufgesetzt hat. Sein Freund – gestorben? Das hat er sich gar nie überlegt. Er hat einfach immer nur gewartet.
„Er hat gesagt, er kommt zurück. Ich soll hier auf ihn warten.“
Nun sagt der kleine Basti eine ganze Weile nichts mehr, Hubert isst sein Brot, den Käse, den Schinken und das Ei, bietet dem Jungen auch was an, aber der will nichts. Aus Höflichkeit und Respekt.
Basti sagt, er müsse gehen, sonst würde das Mittagessen kalt. Aber er macht noch keine Anstalten, aufzustehen.
„Und was ist, wenn dein Freund irgendwo steckt, wovon er nicht weg kann? Vielleicht will er ja, dass du ihn suchen kommst.“
„Hm“, macht Hubert. Das hat er sich noch nie überlegt. Basti geht. Er kommt nicht wieder an diesem Tag.
Aber am nächsten Morgen ist er sogar noch früher dort als Hubert. Er sitzt auf derselben Bank und rutscht ein wenig zur Seite, als er den alten Mann heranhinken sieht. „Und, hast du jetzt darüber nachgedacht? Wirst du deinen Freund suchen gehen?“
Hubert seufzt. „Weißt du, ich bin mir ganz sicher, dass mein Freund zurückkehrt. Nein, ich werde hier warten.“
Basti sieht ihn ungläubig an. Aber von da an sitzen die beiden jeden Tag auf der Parkbank, manchmal tobt sich der Junge aus, und dann kommt er immer wieder zurück. Als der Winter kommt, bringt er dem Alten in einem Becher Tee mit. Und Hubert kauft ihm einen grünen Filzhut. Einmal, als Hubert krank wird, bringt ihm Basti Medizin, macht seine Einkäufe und pflegt ihn, bis er wieder gesund ist. Und er verspricht ihm, auf der Bank zu sitzen und auf Huberts Freund zu warten.
Eines Tages im Frühling, als der Schnee geschmolzen ist, sitzt Hubert nicht auf der Bank. Basti findet ihn in dessen Wohnung im Türrahmen, einen Koffer in der Hand, den Hut auf den Kopf gesetzt. Er schliesst die Wohnungstür ab.
„Wohin gehst du?“, fragt der kleine Junge, der jetzt schon grösser ist.
„Ich gehe auf eine Reise.“
Hubert winkt Basti mit einer knochigen, kofferfreien Hand näher zu sich heran. Umarmt ihn.
„Gehst du jetzt deinen Freund suchen?“
„Oh“, sagt Hubert und lächelt. „Ich glaube, den habe ich gefunden.“

 

Hallo Anouschka,
hat mir gefallen! Es ist eine einfache, leise Geschichte, die berührt! Das offene Ende - toll!

Im Vergleich zu deinen anderen Geschichten, finde ich sie auch am gelungesten. Vielleicht liegt dir so etwas eher als Selbstreflektion, wo die Gefahr besteht, dass der Pathos etwas überhand nimmt - siehe "Blumengießer". Das Indirekte erreicht den Leser eher.

Seit dann hat Hubert jeden Tag auf der Parkbank verbracht
seit dem / seit damals

Diese Frage erschreckt den Mann, der den Filzhut nun wieder auf dem Kopf trägt.
Vorschlag: ..., der den Hut mittlerweile wieder aufgesetzt hat.

Aber ein riesiges, inneres Band hat einst ihre Seelen für immer zusammen geknotet.
hatte

Gruss
Kasimir

PS: Ich würde sie nach 'Alltag' verschieben lassen!

 

Hey!
Danke für den Kommentar und die Korrekturen. Toll, dass sie dir gefallen hat.:) Eine Frage noch: Wie verschiebe ich sie nach "Alltag"?

Gruss,
Anouschka

 

Eine Frage noch: Wie verschiebe ich sie nach "Alltag"?
Du musst einen Moderator der Rubrik, in der die Geschichte aktuell steht, anschreiben.

 

Hallo Anouschka,

ich habe die Geschichte verschoben und dabei auch gleich den Titel korrigiert, denn an den kommen auch nur Moderatoren. "Huberts Freund" muss es heißen (ohne Apostroph).

Auch mir hat die Geschichte ganz gut gefallen. Nicht zu lang, nicht zu kurz. Der Aufbau ist auch gelungen. Nur mit Basti habe ich ein kleines Problem: Zuerst wirkt er auf mich wie ein sagen wir mal Fünfjähriger. Aber er hat so eine Mischung aus Naivität und Frühreife, die das Alter irgendwie gar nicht fassbar machen. Wenn er schon so früh da sein kann, dass er vor Hubert auf der Bank sitzt, scheint er nicht zur Schule zu müssen. Aber würde ein Kind im Vorschulalter wirklich Fragen nach Leben und Tod stellen? Das klingt dann doch eher älter, finde ich, auch die Frage danach, ob der Freund vielleicht woanders sein könnte, wo Hubert ihn suchen könnte. Aber ich gebe zu, nicht viel Ahnung von Kindern zu haben und in welchem Alter sie wie weit / reif sind. Mir kam er mit den "Analysen" der Situation nur rationaler vor, als ich bei dem Alter (das ich mir ja auch aus den Fingern gesogen habe, denn aus dem Text geht es nicht hervor) vermutet hätte. Vielleicht könnte man hier noch etwas präzisieren: Ist Hubert Rentner? Nimmt er auf der Bank sein Mittagessen zu sich und geht Basti noch nicht zur Schule? Oder ist Hubert noch berufstätig und geht sofort von der Arbeit in den Park und isst dort sein Abendessen? Das dürfen aber höchstens zwei Sätze sein, denn zuviel Erklärung würde dem Text die Stimmung nehmen.

Ansonsten aber wie gesagt gern gelesen.

Viele Grüße
Kerstin

 

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