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Hunger
Mutti hat heute in der Schule auf mich gewartet. Ich habe mich sehr gefreut.
"Hast du heute dein Pausenbrot gegessen?", fragt sie mich auf dem Weg. Ich bin mir sicher, dass sie sich die Antwort schon denkt. Daher schüttele ich nur den Kopf. Mutti seufzt; ich habe ein schlechtes Gewissen.
Als wir in die Hauptstraße einbiegen, fallen mir die grauen, traurigen Gesichter der Erwachsenen auf. Sie sind mir oft aufgefallen, ganz besonders hier. Vielleicht, weil hier so viele sind, und manchmal sieht es so aus, als ob die Menschen voreinander davonlaufen. So viele Gesichter lachen nicht, obwohl es eben zu regnen aufgehört hat und die Sonne scheint. Ich lächel zu einer Frau mit einem Hund auf dem Arm, aber die blickt auf einmal woanders hin.
"Pack nun endlich deine Stulle aus und iss sie!", sagt Mutti verärgert. "Du hast den ganzen Tag nichts gegessen, stimmt's?"
"Das ist ja gar nicht wahr, es gab zu Mittag Grießbrei!"
Ich nehme unwillig meine Mappe ab und packe das Pausenbrot aus. Warum hört Mutti nie zu? Ich würde Mutti erzählen, dass wir heute in Lesen über die Armut in der Welt gesprochen haben, und dass viele Menschen kein Geld für ein Essen haben. Aber ich halte den Mund.
"Und nun nicht so langsam, wir kommen sonst zu spät!" Wir wollen nämlich zum Onkel Doktor. Heute morgen habe ich Mutti gefragt, ob er mich wieder pieksen wird, aber sie hat nein gesagt.
Mutti reißt mir die Tasche aus der Hand und hievt sie mir auf den Rücken. "Jetzt aber schnell!", sagt Mutti wieder. Jemand lächelt mich an. Ich schneide ihm eine Grimasse.
Ein Mann lehnt da an der Hauswand. Er hat eine blaue Jacke an und sitzt ganz krumm und lässt seinen Kopf hängen. Vor ihm liegt eine kleine, flache Tasche. Wir nähern uns und ich sehe Münzen darin, und ein Schild steht davor, mit Buchstaben darauf; nur das H, das G und das E kenn ich schon. Ich bleibe stehen und schaue den Mann an und dann sieht der Mann zu mir. Sein Gesicht ist so dünn, dass, wo ich Wangen habe, bei ihm nur tiefe Höhlen sind.
Dann zerrt mich Mutti am Arm. Ich habe meine Stulle nur einmal angebissen, aber ich will sie ihm schnell schenken. Ich recke mich nach hinten, denn Mutti hat mich weiter gezogen. Der Mann streckt seine Hand nach der Stulle aus. Er bekommt sie zu fassen, aber dann verliert er sie und die Stulle fällt in eine Regenpfütze.
"Junge, was fällt dir ein?!", herrscht mich Mutti an, "Was hast du dir dabei gedacht? Ich stell mich morgens hin, mach dir ein Pausenbrot und du hast nur Blödsinn damit im Kopf! Weißt du, andere Kinder bekommen nichts zu essen, gar nichts! Du hast nur Dummhei..."
Ich höre nicht mehr hin.
Ich weine.