Was ist neu

Hunger

Seniors
Beitritt
18.08.2002
Beiträge
1.978
Zuletzt von einem Teammitglied bearbeitet:

Hunger

Mutti hat heute in der Schule auf mich gewartet. Ich habe mich sehr gefreut.
"Hast du heute dein Pausenbrot gegessen?", fragt sie mich auf dem Weg. Ich bin mir sicher, dass sie sich die Antwort schon denkt. Daher schüttele ich nur den Kopf. Mutti seufzt; ich habe ein schlechtes Gewissen.
Als wir in die Hauptstraße einbiegen, fallen mir die grauen, traurigen Gesichter der Erwachsenen auf. Sie sind mir oft aufgefallen, ganz besonders hier. Vielleicht, weil hier so viele sind, und manchmal sieht es so aus, als ob die Menschen voreinander davonlaufen. So viele Gesichter lachen nicht, obwohl es eben zu regnen aufgehört hat und die Sonne scheint. Ich lächel zu einer Frau mit einem Hund auf dem Arm, aber die blickt auf einmal woanders hin.
"Pack nun endlich deine Stulle aus und iss sie!", sagt Mutti verärgert. "Du hast den ganzen Tag nichts gegessen, stimmt's?"
"Das ist ja gar nicht wahr, es gab zu Mittag Grießbrei!"
Ich nehme unwillig meine Mappe ab und packe das Pausenbrot aus. Warum hört Mutti nie zu? Ich würde Mutti erzählen, dass wir heute in Lesen über die Armut in der Welt gesprochen haben, und dass viele Menschen kein Geld für ein Essen haben. Aber ich halte den Mund.
"Und nun nicht so langsam, wir kommen sonst zu spät!" Wir wollen nämlich zum Onkel Doktor. Heute morgen habe ich Mutti gefragt, ob er mich wieder pieksen wird, aber sie hat nein gesagt.
Mutti reißt mir die Tasche aus der Hand und hievt sie mir auf den Rücken. "Jetzt aber schnell!", sagt Mutti wieder. Jemand lächelt mich an. Ich schneide ihm eine Grimasse.
Ein Mann lehnt da an der Hauswand. Er hat eine blaue Jacke an und sitzt ganz krumm und lässt seinen Kopf hängen. Vor ihm liegt eine kleine, flache Tasche. Wir nähern uns und ich sehe Münzen darin, und ein Schild steht davor, mit Buchstaben darauf; nur das H, das G und das E kenn ich schon. Ich bleibe stehen und schaue den Mann an und dann sieht der Mann zu mir. Sein Gesicht ist so dünn, dass, wo ich Wangen habe, bei ihm nur tiefe Höhlen sind.
Dann zerrt mich Mutti am Arm. Ich habe meine Stulle nur einmal angebissen, aber ich will sie ihm schnell schenken. Ich recke mich nach hinten, denn Mutti hat mich weiter gezogen. Der Mann streckt seine Hand nach der Stulle aus. Er bekommt sie zu fassen, aber dann verliert er sie und die Stulle fällt in eine Regenpfütze.
"Junge, was fällt dir ein?!", herrscht mich Mutti an, "Was hast du dir dabei gedacht? Ich stell mich morgens hin, mach dir ein Pausenbrot und du hast nur Blödsinn damit im Kopf! Weißt du, andere Kinder bekommen nichts zu essen, gar nichts! Du hast nur Dummhei..."
Ich höre nicht mehr hin.
Ich weine.

[highlight]Lizenz: CC BY-SA 3.0 DE (s. Profil)[/highlight]​

 

Hallo FloH,

in gelungener Kürze reißt du wichtige Themen an: Die mangelnde Kommunikation der Menschen, die Fehlinterpretation von Verhalten, Mitleid mit dem Mitmenschen.

Die Kombination der Themen ergibt ein unschönes Bild von einer Welt in der ein Kind in seinem Verhalten etwas Gutes tun zu wollen, missverstanden wird. Eine Welt, in der die Hektik der Erwachsenen dominiert. Das hat mir recht gut gefallen. Ich denke aber, dass die Thematik noch mehr hergeben könnte, wenn der Text nicht eine Begebenheit schildern würde, sondern die Begebenheit, im Sinne einer Initiation des Kindes in die raue Wirklichkeit, ein plötzliches Bewusstwerden letztlich tragischer Dinge.

Noch eine Kleinigkeit: Es gibt ziemlich viele Satzanfänge mit „Ich“.

L G,

tschüß Woltochinon

 

Danke auch dir, Wolto. :)

Ich denke aber, dass die Thematik noch mehr hergeben könnte, wenn der Text nicht eine Begebenheit schildern würde, sondern die Begebenheit, im Sinne einer Initiation des Kindes in die raue Wirklichkeit, ein plötzliches Bewusstwerden letztlich tragischer Dinge.
Die Begebenheit sollte ein plötzliches Bewusstsein letztlich tragischer Dinge schildern? Hm, die Geschichte schwerer machen als beabsichtigt mag ich nicht. Die Diskrepanz zwischen der Welt der Kindmenschen und der vieler erwachsenen Menschen, denen das Wasverbindet erfolgreich herauserzogen worden ist, ist für mich tragisch genug, weitere Substanz wäre zu viel für so eine einfache Geschichte ;). Allerdings, muss ich sagen, wurmt es mich schon ein bisschen, dass einige den Text als Momentaufnahme befinden.

Noch eine Kleinigkeit: Es gibt ziemlich viele Satzanfänge mit „Ich“.
Diese Kleinigkeit gehört mit zu meinem Versuch nachzuempfinden, wie Erstklässler reden. ;)


FLoH.

 

Hi FLoH,

ja, auch ich finde es schön, dass mal wieder eine Geschichte von dir kommt. :)

Die ersten zwei, drei Sätze hatte ich noch Probleme mit diesem kindlichen Stil. Es kann gut sein, dass ich mich erst einmal "einlesen" musste. Denn im Nachhinein finde ich natürlich genau einen solch kindlichen Stil den passendsten für die Geschichte.

Mit dem Alter des Kindes hatte ich keine Probleme und brauche das auch nicht genauer. Ich hatte von Anfang an auf die entsprechende Altersstufe getippt bzw. ein solches Kind vor mir gesehen. Welches 13- oder 14-jährige Kind würde sich freuen, wenn die Mutter es von der Schule abholt? In dem Alter findet man das eher peinlich. ;)

Okay, mir hat die Geschichte auch gut gefallen, ohne jetzt der wahnsinnig-super-duper-innovative-hastenochniegesehn-Wurf zu sein. Witzig finde ich, dass eine Aussage der Geschichte (die ich jedenfalls rauslese und als eine der zentralen erachte; kann mich auch täuschen) in den anderen Kommentaren noch gar nicht angemerkt wurde.

Die Mutter zerrt den Jungen mit sich, fort von dem Bettler, schimpft mit ihm, weil er so was "Dummes" mit seinem Essen anstellen will, während woanders Kinder hungern. Genau das ist die Passage, die deine Geschichte für mich doch zu etwas Besonderem macht. In fremden Ländern hungern die Kinder - das wird dem Jungen vorgeworfen und immer wieder als Argument missbraucht. Jedem kommen dabei Bilder aus dem Fernsehen in den Kopf, oder nicht? Sicher denkt auch die Mutter in dem Moment daran. An Äthiopien, Bangladesh, Peru - an alles, was schön weit weg ist. Aber das Elend und den Hunger vor ihren Augen nimmt sie nicht wahr. Für mich ist damit eine der Aussagen deiner Geschichte: Für manche Menschen sind die Bilder aus dem Fernseher viel näher und viel realer als das, was unmittelbar um sie herum geschieht. Traurig.

 

Hallo FloH!

Schön, wieder einmal eine Geschichte von Dir zu finden! Der Schreibstil passt m. E. gut zu dem Jungen, aus dessen Sicht diese Geschichte kommentiert wird. Was den Befund der Momentaufnahme betrifft, so sehe ich dies nicht negative Wertung, sondern als bloße Feststellung, da dem Kind in dem beschriebenen Moment mehrere (prägende) Dinge bewusst werden.
Da ist zunächst einmal der ernste, beinahe feindselige Gesichtsausdruck, den die meisten Menschen zur Schau tragen, bis das ihnen entgegen gebrachte Lächeln schließlich aufgegeben wird. Dann die ungerechtfertigte Behandlung durch die Mutter, die nicht zuhört und ständig in Eile ist. Als Krönung dann noch die versuchte Hilfe, die nicht ankommt, sondern sogar noch zur Fehlinterpretation führt.

katzano schrieb:
Für mich ist damit eine der Aussagen deiner Geschichte: Für manche Menschen sind die Bilder aus dem Fernseher viel näher und viel realer als das, was unmittelbar um sie herum geschieht. Traurig.
Genau!


Lieben Gruß
Antonia

 

Katzano und Antonia, lieben Dank!

@Katzano:

Okay, mir hat die Geschichte auch gut gefallen, ohne jetzt der wahnsinnig-super-duper-innovative-hastenochniegesehn-Wurf zu sein
Och Menno! Ne, Spaß, bin froh, dass die Geschichte angekommen ist. Und das nach zwei Jahren Pause.

Interessante Interpretation, die ich selbst gar nicht so im Kopf gehabt habe beim Schreiben (ich hoffe, ihr schaut mich jetzt nicht schief an oder so; aber wenn man eine Geschichte einmal in die Freiheit gelassen hat, kann man nunmal nicht mehr kontrollieren, was sie in den Köpfen der Leser anstellt). Aber wo du das sagst ... klar, kann da mitgehen. Danke sehr!

@Antonia:

Na gut, ist es eben eine in etwas Handlung eingefasste Momentaufnahme ;).


FLoH.

 

Hallo FLoH,

bereits während der ersten Zeilen hatte ich Angst vor dem unweigerlich auftauchen müssenden moralischen Zeigefinger. Der kam aber nicht, sondern der moralische Vorschlaghammer. Eine durchaus schöne Momentaufnahme, aber leider ohne viel Inhalt und ohne viel Neues. Irgendwie hatte ich bei „FLoH“ mehr erwartet, als einen kurzen Abriss über Richtig und Falsch. Der Vorschlaghammer trifft, aber Kopfschmerzen hab ich davon keine bekommen, um mal in gaaaaanz tollen ;) Metaphern zu reden *g*.
Bleibt das Endfazit: Nett zu lesen, aber ich befürchte, dass die Erinnerung an diese Geschichte gleich schon wieder verschwunden ist. Sry

Einen lieben Gruß...
morti

 

Der Vorschlaghammer trifft, aber Kopfschmerzen hab ich davon keine bekommen, um mal in gaaaaanz tollen Metaphern zu reden *g*.
Sorry. Gut, dass du dich davon erholt hast, von Vorschlaghammern wird man normalerweise so schnell nicht wieder wach. ;)

Aber sei dir dennoch gesagt: Was für dich hier Moral ist (die Gut/Böse-Unterscheidung halt ich übrigens generell für unvorteilhaft), ist für mich einfach Verzweiflung an der Welt der Erwachsenen, die uns dazu bringt, dieselben Fehler immer und immer wieder zu machen. Du ziehst die Ethik heran, ich das Gefühl, dass ich oft hatte, als ich klein war und ich mich fragte, in welch krankem Film ich mal wieder war. Der Protagonist ist Klein-FLoH nachempfunden, obwohl ... ich litt ehrlich gesagt nie so souverän wie hier.

Tut mir leid, wenn dir meine Geschichte nicht so gefallen hat, nun, sie kann auch nicht jedem gefallen.


FLoH.

 

Hi Zerbrösel-Pistole,

Nachdem du - glaube ich - mein aller erster Rezensent hier auf kg.de warst
Echt? :hmm: Sorry, ich find leider keine Rezension von mir auf eine deiner Geschichten. (Oder hab ich sie wieder löschen lassen, das Massaker kommt mir irgendwie bekannt vor?)

Tschui auch, dass du dich nicht revanchieren konntest, muss ich wohl noch lernen, schlechte Geschichten zu schreiben, um das gerechte Gleichgewicht wieder herzustellen? ;)

Danke auf jeden Fall für deinen Kommentar. Cool, dass du dich darin wiederfinden konntest. Die Message hast du damit keineswegs pervertiert, zumal ich sie schon als reines Gefühl bzw. als Erinnerung an ein Gefühl intendierte und nicht als eine imperative Moral.

Komischerweise bin ich nicht der Meinung, dass deine Geschichte schneller vergessen ist als andere, für gut befundene Geschichten hier im Board.
Das freut mich :).


FLoH.

 

Neue Texte

Zurück
Anfang Bottom