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Hydra schweigt
Leo stand am Rand der Aussichtsplattform des Köktöbe, die unter dem klaren Himmel Almatys wie ein Balkon über der Stadt hing. Ein seltener Tag, einer, an dem die Dunstglocke, die sonst über der Stadt lag, verschwunden war. So glitzerten unten die Lichter wie verstreute Sterne in der Abenddämmerung, während oben ein frischer Wind die Seidenfahnen der Touristenstände flattern ließ.
Diana lehnte am Geländer, eine Hand um das Metall geschlungen, die andere tief in der Tasche ihres Mantels. Leo sah sie zuerst, wartete ein wenig, kostete aus, was er wahrnahm. Ein Treffen nach so vielen Jahren, eine Verabredung, um die Wunden zu heilen, an einem Ort, an dem sie beide einst glücklichere Zeiten verbracht haben. Sie hatte ihn noch nicht bemerkt. Ihr Blick ging weit hinaus zu den schneebedeckten Gipfeln des Alatau.
„Ich wollte einmal Opernsängerin werden“, sagte sie plötzlich, ohne sich umzudrehen. „Bevor… alles anders wurde, bevor die Hydra aus dem Nichts auftauchte, bevor ich kämpfen musste und Köpfe abschlug, die doppelt nachwuchsen.“ Ihre Stimme war leise, fast vom Wind verschluckt, und doch lag darin ein Rest jener Kraft, die sie einst auf eine Bühne hätte tragen können.
Leo trat neben sie und für einen Moment standen sie nur da, schauten hinab auf die Stadt. Dann holte sie Luft und begann zu singen. Die hohen Wangenknochen vibrierten, die Wangen, die sonst wie verfrühter Schnee wirkten, röteten sich, ein perfektes Bild ihrer Herkunft. Ihr schönes Gesicht reckte sich dem Himmel entgegen und schien nach den Weiten der großen Steppe zu suchen.
Diana sang keine vollständige Arie, aber Töne peitschten durch den Abend wie klares Wasser in einem reißenden Fluss. Zauberflöte, die Königin der Nacht: Der Hölle Rache kocht in meinem Herzen. Leos Herz rast. Ein paar Passanten blieben stehen, einer hob sein Telefon, niemand sprach. Die Melodie stieg, schwebte, fiel zurück wie Schnee, und Leo spürte wie die Befreiung von Diana auf ihn übersprang, erinnerte sich an die Liebe, die sie empfunden hatten.
Als sie verstummte, atmete der Berg mit ihnen. Unten rauschte das Leben weiter, doch hier oben war es, als hielte die Welt für einen Augenblick den Atem an.