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I guess we’re all in trouble huh?

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10.08.2022
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I guess we’re all in trouble huh?

Weiße, dichte Flocken fallen vom Himmel. Sie sind so dick, dass sie eigentlich nicht wie Flocken, sondern wie großzügig abgerupfte Zuckerwattestücke aussehen. Sie fallen schnell aus den Wolken und verlangsamen dann ihr Tempo je näher sie auf die Erde zufallen. Auf Augenhöhe ist es fast so als würden sie wieder nach oben schweben, so langsam neigen sie sich dem Boden zu. Dieser wiederum ist inzwischen mit einer zarten Schneedecke bedeckt. Vielleicht ein Zentimeter, aber das reicht, um die Stadt in Watte einzupacken, um die Geräusche rundherum zu dämmen und das Gefühl entstehen zu lassen, dass nun alles leiser und sanfter ist. Selbst die Luft und Paulinas Kopf. Zumindest ein wenig.

Zu Hause hatte sie es nicht mehr ausgehalten, sie musste dringend raus. Eigentlich geht sie am liebsten nachts vor die Tür, denn, wenn sie nachts durch ihr Viertel läuft, fühlt sie sich zumindest ein Stück weit eins mit der Welt. Das dichte Schneetreiben heute hat einen ähnlichen Effekt. Es sind nur vereinzelt Menschen auf der Straße, ohnehin kann Paulina nicht besonders weit schauen, der Schnee verhindert ihr die Sicht.

Sie hat keine Mütze auf, daher ist ihr Haar bereits nass und klebt an ihrem Kopf. Auf einzelnen nassen Strähnen liegen die dicken Schneeflocken. Sie sieht verwildert aus. Ihre Augen sind groß und wirken traurig und auf eine Art zu schnell und zu langsam gleichzeitig. Sie läuft weiter. Ohne Ziel läuft sie die Straßen entlang.

„Du kannst nicht immer vor allem wegrennen“, hallen Michaels Worte in ihren Ohren nach. Und „wenn du jetzt gehst“, „ja dann was? Was Michael?“, hatte sie geantwortet. Wütend hatte sie vom Schuhezubinden hochgeschaut, direkt in seine Augen. Müde sah er aus. Kraftlos. Ein Teil von ihr wäre gerne auf ihn zugegangen, hätte ihn in den Arm genommen und gesagt „Alles wird wieder gut“. Aber der Teil war klein und flüchtig, in dem Moment war sie nämlich vor allem eins: wütend. Wütend im Kopf, der sich heiß und kalt zugleich anfühlte, wütend im Bauch, in dem eine Art Strudel wütete, wütend auf der ganzen Haut, die zu brennen schien. Michael lehnte resigniert an der Wand und schaute sie einfach nur an. Sie spürte seinen Blick auf ihren zittrigen Händen, die versuchten die zweite Schleife zu binden. Ihre Wangen wurden rot. Sie hasste es, wenn er sie so beobachtete. Energisch stand sie auf, Michael ignorierend, nahm den Schlüssel vom Schlüsselbrett, öffnete die Haustür, um sie dann fest zuzuschlagen. Kein einziges Mal sah sie dabei zurück. Sie rannte die Treppen hinunter und erst vorm Haus angekommen, blieb sie kurz stehen und atmete einmal tief aus.

Inzwischen ist sie beim Schweizer Platz angekommen. Sie merkt, wie sie etwas außer Atem ist. Unter dem Dach von Müller tummeln sich die Menschen, die auf den Bus warten. Warme Dampfblasen um sie herum vom Atmen. Schnell geht sie vorbei und stellt ihre Musik noch etwas lauter. Es wird wieder leerer auf dem Gehsteig. Sie beruhigt sich ein wenig. Mit schnellen Schritten läuft sie in Richtung des Mainufers. Wie war das heute nur schon wieder so aus dem Ruder gelaufen, fragte sie sich. Und kannte die Antwort. Die Antwort war nämlich sie selbst.

„Ich verstehe einfach nicht, warum du nicht mitwillst“, hatte Michael sie vorhin gefragt, als es um den Spieleabend mit ihren Freunden ging. „Weil ich keine Lust habe, weil ich müde bin, weil es mir zu anstrengend ist, weil ich alleine sein will“, hatte sie trotzig entgegengesagt. „Aber Linchen“, - eigentlich mochte Paulina es, wenn er ihren Spitznamen sagte, aber heute regte es sie nur noch mehr auf – „meinst du nicht, was würde dir guttun mal rauszukommen?“, fragte er beschwichtigend. Pause. Sie antwortete nicht. Demonstrativ zog sie an ihrer Zigarette, die sie in der Küche am offenen Fenster nach draußen hielt. Eine neue Angewohnheit von ihr, die Michael bislang stillschweigend hingenommen hatte. Wie so vieles. Immer noch Stille. Darin war Paulina gut, Stille erst herbeizuführen und sie dann auszuhalten. Michael seufzte erschöpft und fragte dann: „Wie lange soll das noch so weitergehen?“. Pause. Rauchen. „Ich hab dich etwas gefragt“, sagte Michael, nun hörbar genervt. „Ich weiß aber nicht, was ich sagen soll“, entgegnete Paulina patzig. „Dann versuchs doch wenigstens!“. Und da war er, der Punkt an dem Paulina innerlich ausflippte. An dem sich die Wut so rasend schnell in ihrem Körper ausgebreitet hatte, dass sie keinen Einfluss mehr hatte. Als wäre etwas in ihrem Kopf gekippt. „ICH WEIß ES NICHT!!“, schrie sie verzweifelt, ließ die Kippe unachtsam aus dem Fenster fallen und stürmte in Richtung Flur und Garderobe. Fluchtinstinkt.

Das Mainufer ist wie ausgestorben. Zwei Jogger sind schemenhaft in der Ferne zu erkennen, ein Obdachloser liegt zusammengerollt in mehreren Schlafsäcken auf einer Bank. Paulina geht an ihm vorbei. Sie beschleunigt ihre Schritte. „I guess we’re all in trouble, huh? Black clouds are upon us. And it’s doomsday on the other side of town”, tönt es aus Paulinas Kopfhörern. Einen Weltuntergang konnte sie gerade gut gebrauchen, denkt sie. Dann aber bitte auf der richtigen Seite der Stadt. Sie kommt bei einem Kiosk vorbei, der von außen geschlossen aussieht, aber die Tür geht auf. Wohl von Kundschaft überrascht bei dem Unwetter, kommt der Verkäufer, etwas verschlafen und sein Gesicht reibend aus dem Zimmer hinter der Verkaufstheke. Paulina scannt derweil die Ware. Hauptsächlich Bier aus allen Gebieten Deutschlands, einige Softgetränke, Zeitschriften und Süßigkeiten. Ein kleiner Stand mit Wein. Zielstrebig läuft sie auf diesen zu. Weißwein, vier verschiedene Sorten. Schnell vergleicht sie die Prozentwerte und nimmt den mit den 13,5%. Trockener Riesling. Doch die Marke ist ihr egal, auf den Alkoholwert kommt es an. Sie kauft zwei Flaschen – praktisch, dass man jetzt überall mit dem Handy bezahlen kann, denn ihr Portemonnaie hat sie natürlich nicht dabei.

Als sie das Kiosk verlässt und wieder in die kalte Luft nach draußen und in das Schneegestöber tritt, fühlt sie sich schon um einiges ruhiger. Allein die beiden Flaschen zu halten, gibt ihr Sicherheit. Sie öffnet eine direkt, setzt den Flaschenhals an und zählt: „Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben, acht, neun, zehn“. Zehn Schlucke. Ekel macht sich in ihr breit. Sie hasst den Geschmack von Wein inzwischen. Doch sie reißt sich zusammen, setzt erneut an: „Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben, acht, neun, zehn“ – „11, 12, 13, 14, 15“. Atmen. Sie muss aufpassen, dass ihr nicht gleich alles wieder hochkommt. Zufrieden sieht sie, dass sie weit über die Hälfte des Flascheninhalts geschafft hat. Sie geht ein paar Schritte und setzt sich auf die nächste Bank. Sie macht sich vorher nicht die Mühe, die Sitzfläche abzuwischen, mit dem Ärmel ihrer Jacke die Schneeschicht zumindest wegzuschieben. Schnell breitet sich die Nässe auf ihrer Hose aus. Egal. Sie trinkt den restlichen Inhalt der Flasche und so langsam wird es nebelig in ihrem Kopf. Steigt eine angenehme Wärme hoch und mit ihr ein Gefühl von Geborgenheit. Sie schaut auf ihr Handy, keine Nachricht von Michael, kein Anruf. „Er hat mich aufgegeben“, schießt es ihr durch den Kopf. Und direkt danach: „Zurecht!“.

Das mit dem Alkohol war in den letzten Monaten ein Problem geworden. Das mit dem nicht mehr rausgehen natürlich auch, dass sie auf nichts mehr Lust hatte, den Haushalt links liegen ließ und sich erst recht. Dass sie eigentlich nur noch im Bett liegen wollte. Michaels Überforderung und ihre Wut. Und dann aber noch der Alkohol. Wie oft hatte sie Michael versprochen, damit aufzuhören? Wie oft hatte er ihr geglaubt und wie oft hatte sie ihn danach jedes Mal enttäuscht? Erst letztens kam er in ihr Schlafzimmer, der Blick fragend, irgendwie an die winzig kleine Hoffnung klammernd, er gäbe für die vier kleinen Sektflaschen in ihren großen Manteltaschen eine Erklärung. „Ja, und?“, war sie direkt auf Angriff übergegangen. Michael war – so hatte sie es in Erinnerung – ein kleines Stück in sich zusammengefallen und ging dann wortlos aus dem Zimmer. Später erzählte er ihr, dass er nach Kleingeld für den Lieferanten gesucht hatte. Sie sagte weiterhin nichts und dann taten sie beide so, als wäre nichts passiert. Nur dass Michael die Flaschen ausgekippt hatte, ärgerte sie insgeheim.

Sie raucht und trinkt nun abwechselnd. Paulina konzentrierte sich schon immer am liebsten nur auf eine Sache. Beim Essen zum Beispiel isst die erst die Kartoffeln, dann die Möhren und dann das Steak. Oder andersherum. Bei Milchschnitte, erst die Schokoladenränder, dann den weißen Schaum. Deshalb also auch jetzt: entweder trinken oder rauchen. Inzwischen ist sie vollkommen durchnässt. Ihre Jacke ist nicht wasserdicht und so breitet sich nun auch an den Armen Wasser aus. Ihre schulterlangen Haare sind nun so durchnässt, dass kleine Tropfen von ihnen abgehen und ihr in den Schoß fallen. Ihre Wimpern sind mit Schnee bedeckt, die Schuhsohle durch. Sie weint. Ihre Tränen fühlen sich in dem kalten Gesicht warm an. Mischen sich mit den Schneewasserrinnen. Ihre Schultern sind ganz gebeugt, beinahe kauernd sitzt sie auf der Bank. „Was für ein verschwendetes Leben“, denkt sie sich, „gescheiterte Existenz“. Sie ist nun sehr betrunken. So betrunken, dass sie die Buchstaben auf ihrem Handy nur noch verschwommen wahrnehmen kann. Michael ruft an. Durch das nasse Display und ihre vor Kälte tauben fingern, schafft sie es nicht den Anruf entgegenzunehmen. Erst beim fünften Anlauf klappt es. „Wo bist du?“, fragt Michael. Und sie hört, wie besorgt er ist. Trotz ihres betrunkenen Kopfes. Aber es macht nichts mit ihr. Sie atmet ins Handy. „Linchen, wo bist du? Komm schon, ich hole dich ab!“, sagt Michael. „Mainufer“, gibt sie kleinlaut zurück.

Als sie beide wieder zu Hause sind, geht Lina baden. Michael sagt, er will regelmäßig nach ihr schauen, damit sie in der Badewanne nicht einschläft und ertrinkt. Paulina ist alles egal. Das Baden tut ihr gut, ihre Haut ist knallrot, das heiße Wasser, das auf ihren eingefrorenen Körper trifft, fühlt sich im ersten Moment wie eine Verbrennung an. Ein Schmerz, der hinterhältig ist und tief geht. Sie mag das. Am liebsten würde sie weitertrinken. Ganz in nebliger Hitze versinken. Ihr Kopf ist nun weich wie Watte, trotz Kopfschmerzen, ihr geschundener Körper fühlt sich leicht an, trotz der Schmerzen. Irgendwann holt Michael sie und bringt sie ins Bett. Dort macht sie sich ganz klein. Michael umarmt sie, ihr Kopf liegt an seiner Brust. Sie ist warm, sein Herz schlägt beruhigend. Er streichelt ihr über den Kopf. „Ist schon gut“, sagt er. Paulina weint lautlos. Ihre Wut ist verblasst, an ihrer Stelle ist nun Traurigkeit und Leere. Und Michaels warme Brust, ein Stück Geborgenheit, die ihr Herz aufsaugt wie ein Schwamm. „Ich brauch ihn so sehr“, denkt Paulina. Ihre Lippen bleiben stumm und sagen stattdessen: „Ich schaffe es, versprochen“. „Ich weiß“, entgegnet Michael und streichelt weiter ihren Kopf. „Aber du“, sie setzt noch einmal an, „ich glaube, ich brauche Hilfe“. „Ich weiß“, sagt Michael wieder. Und in dem Moment ist auf einmal kurz alles gut, ihr Kopf ist so ruhig wie schon lange nicht mehr, „ich liebe ihn“, denkt sie noch, dann schläft sie ein.

 
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Hi Tigris8! :)

Ich steige direkt in deine Geschichte ein:

verlangsamen dann ihr Tempo, je näher sie auf die Erde zufallen.
Komma.
Auf Augenhöhe ist es fast so, als würden
Komma.
Schneedecke bedeckt
Wortdoppelung.
nachts vor die Tür, denn, wenn sie nachts
Hier kann meinem Gefühl nach das Komma weg.
Schnee verhindert ihr die Sicht.
Glaube, runder wäre etwa "der Schnee behindert ihre Sicht" oder vielleicht "vermindert".
Händen, die versuchten, die zweite Schleife zu binden
Komma.

„Du kannst nicht immer vor allem wegrennen“, hallen Michaels Worte in ihren Ohren nach.
Ich mag diese Erzählstruktur, die du wählst, das Wechseln zwischen dem Hier und Jetzt und den Rückblicken, die dazu geführt haben bzw. deiner Prot. in den Kopf schießen.

„Du kannst nicht immer vor allem wegrennen“, hallen Michaels Worte in ihren Ohren nach. Und „wenn du jetzt gehst“, „ja dann was? Was Michael?“, hatte sie geantwortet. Wütend hatte sie vom Schuhezubinden hochgeschaut, direkt in seine Augen. Müde sah er aus. Kraftlos. Ein Teil von ihr wäre gerne auf ihn zugegangen, hätte ihn in den Arm genommen und gesagt „Alles wird wieder gut“. Aber der Teil war klein und flüchtig, in dem Moment war sie nämlich vor allem eins: wütend. Wütend im Kopf, der sich heiß und kalt zugleich anfühlte, wütend im Bauch, in dem eine Art Strudel wütete, wütend auf der ganzen Haut, die zu brennen schien. Michael lehnte resigniert an der Wand und schaute sie einfach nur an. Sie spürte seinen Blick auf ihren zittrigen Händen, die versuchten die zweite Schleife zu binden. Ihre Wangen wurden rot. Sie hasste es, wenn er sie so beobachtete. Energisch stand sie auf, Michael ignorierend, nahm den Schlüssel vom Schlüsselbrett, öffnete die Haustür, um sie dann fest zuzuschlagen. Kein einziges Mal sah sie dabei zurück. Sie rannte die Treppen hinunter und erst vorm Haus angekommen, blieb sie kurz stehen und atmete einmal tief aus.
Vielleicht liegt es auch an meiner Nähe zum Thema, aber ich finde diese ganze Passage sehr schön beobachtet. Du zeigst in diesen kleinen Situationen ein feines Gespür und viel Empathie für deine Figur.
hatte sie trotzig entgegengesagt.
"entgegengesagt" weiß ich nicht. Vielleicht "erwidert" oder "entgegnet"?
„meinst du nicht, was würde dir guttun mal rauszukommen?“
Glaube, das ist wieder einer dieser Flüchtigkeitsfehler, oder? :lol:
Darin war Paulina gut, Stille erst herbeizuführen und sie dann auszuhalten.
Gute Beobachtung, guter Satz, finde ich.
dass sie weit über die Hälfte des Flascheninhalts geschafft hat.
Eher "dass sie es", oder?

Sie geht ein paar Schritte und setzt sich auf die nächste Bank. Sie macht sich
Finde ich nicht so schön, wie diese beiden Sätze gleich anfangen.

Steigt eine angenehme Wärme hoch
Der Satzbeginn klingt nicht rund für mich.

er gäbe für die vier kleinen Sektflaschen
es
zum Beispiel isst die erst die Kartoffeln
sie
Mischen sich mit den Schneewasserrinnen.
Ich versteh schon, was du ausdrücken willst, aber "den Schneewasserrinnen" klingt nicht rund, finde ich.
vor Kälte tauben fingern
Finger
an ihrer Stelle ist nun Traurigkeit und Leere
Traurigkeit und Leere?
Ihre Lippen bleiben stumm und sagen stattdessen
Wie können ihre Lippen stumm bleiben und trotzdem etwas sagen? :)

„Aber du“, sie setzt noch einmal an, „ich glaube, ich brauche Hilfe“. „Ich weiß“, sagt Michael wieder.
Eigentlich eine schöne Weise, solch eine Geschichte enden zu lassen. Zwar lassen die Worte etwas Raum für Interpretation, aber ich deute es so, dass sich Paulina professionelle Hilfe suchen möchte und das finde ich auch das wesentlich schönere Ende (auch im Hinblick auf eine Botschaft, die man an die Leserschaft aussendet).


LG, Markus

 

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