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- 13.07.2006
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Ich bin bald wieder da
Ich stehe auf dem Fenstersims und starre in die Tiefe.
Ein Sturz aus 15 Metern müsste ausreichen.
In meiner Hand zerknülle ich das Bild, das mich mit meiner Frau Greta beim Picknick zeigt. Glücklich sehen wir da aus. War das 2000? Oder 2001?
Egal, Glück ist eine Illusion.
Da unten zu liegen, zwischen Rosenstrauch und Apfelbaum zerschmettert, von meinem grauen Morgenmantel bedeckt, das wäre die Erlösung. Das wäre endlich Ruhe, Ruhe vor mir selbst.
Ich hatte jahrelang geackert für dieses verdammte Haus, für meinen guten Ruf, für Anerkennung, für… was weiß ich.
Meine Kräfte waren verzehrt worden wie Schnee in der Sonne. Hatte ich jemals soviel Kraft? Oder war alles Fassade?
Immer öfter erwischte mich die Grippe oder mein schmerzender Rücken. In der Firma wurde darüber getuschelt, was gefährlich war. Das Wort Personalabbau war in aller Munde.
Eines Tages brach ich im Büro zusammen als hätte jemand den Schalter umgelegt. Noch jetzt, vier Wochen später, kann ich kaum die Tageszeitung lesen. Nicht einmal für so etwas Simples reicht meine Konzentrationsfähigkeit.
„Das war abzusehen“, sagte Tim, mein Hausarzt und Freund.
„Überstunden ohne Ende. Zuhause der Ärger mit eurem Ältesten. Keine ruhige Minute… Was hast du denn gedacht, wie lange du das so treiben kannst?“
Ja, was hatte ich denn gedacht? Ich weiß es nicht mehr.
Wann begann meine Welt zu zerbrechen?
War es als Patrick auszog? Unser Ältester hatte die Schule abgebrochen, rauchte Joints. Oder als der Kleine, Jonathan, wochenlang die Schule schwänzte? Bin ich ein guter Vater? Nein, man schaue auf das Ergebnis…
Als ich zusammenbrach war alles, die Sorgen, die Termine, die Geldnöte, an Greta hängen geblieben.
Jetzt ist meine Frau selbst am Ende. Und ich schaffe es nicht einmal, sie zu trösten. Bin ich überhaupt ein Mann?
Der gestrige Abend gab mir die Antwort.
Wir saßen im Wohnzimmer am Kaminofen; sie auf unserem roten Sofa, ich zusammengekauert im Fernsehsessel, das Picknickbild in den Händen.
„Du bist so…“, fauchte Greta. Sie schloss den Satz nicht ab, aber ich hörte das unausgesprochene Wort laut und deutlich: Schlappschwanz. „Wann hast du mich zuletzt in den Arm genommen? Wann?“
Durch das Sichtfenster des Ofens glomm die verlöschende Glut als letzter Lichtfleck in der Dunkelheit.
„Ich kann nicht…“, begann ich, aber Greta fuhr dazwischen.
Sie schüttelte heftig den Kopf, dass ihr blonder Pferdeschwanz wie eine Peitsche ausschlug. „Ich halte das nicht länger aus, Kai.“ Sie schlug sich gegen das Brustbein. „Ich bin eine Frau, ich habe Bedürfnisse.“
Greta sprang vom Sofa auf, das schmale Gesicht rot vor Ärger. „Wo bist du überhaupt? Bist du überhaupt noch da?“ Ihre Augen wurden feucht. Sie stürzte zur Tür.
Die Glut im Ofen erlosch. Die Tür wurde zugeschlagen.
Ich saß allein in der Dunkelheit.
Sie hat recht, ich bin weit entfernt in der Finsternis.
Die Türen sind zu, der Weg führt nur noch in eine Richtung…
Jetzt hebe ich den rechten Fuß…
Nur ein Schritt nach vorne, dann ist Ruhe.
Eine plötzliche Bewegung in der Tiefe lässt mich zusammenzucken.
Es ist Jonathan, der einen Ball gegen den Apfelbaum schießt.
Er sieht nach oben, winkt mir zu. „Kommst du auch, Papa?“
Das zerknüllte Foto flattert aus meiner Hand.
Die Stimme meiner Frau hallt hinter mir durch das Haus: „Kai? Kai, wo bist du? Kai!“
Ich mache einen Schritt – nach hinten, ins Zimmer zurück.
„Nein“, flüstere ich, „Ich werde kommen. Bald bin ich wieder bei euch. Versprochen…“