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Ich bin kein Laternenpfahl
An seiner ersten Gruppensitzung musste er den andern Teilnehmern darlegen, wie es zum Konflikt am Arbeitsplatz kam. Seine Frau bestand darauf, dass er sich helfen lasse, da er zunehmend deprimierter wurde. Frau Rettich bot ihm an, in ihre Therapiegruppe Selbstfindung zu kommen.
«Ich», begann er, doch versagte ihm die Stimme. Ein erneuter Versuch löste nur einen krächzenden Laut aus. Die anderen Teilnehmer grinsten hämisch. «Nur zu, Herr Müller. Wir sind hier ganz unter uns, es gibt also kein Grund für Hemmungen. Atmen Sie tief durch», rief ihm Frau Rettich zu. Ihre Augenlider zuckten. Schon bei ihrem ersten Zusammentreffen irritierte ihn dies.
Es erschien ihm plötzlich sinnlos, eine Chronologie der Ereignisse vorzutragen, weshalb er seine Arbeit aufgegeben hatte. Sie würden ihn nicht verstehen, seine Gefühle nicht akzeptieren. Vor Sitzungsbeginn hatte er bemerkt, dass hier eine zynische Stimmung herrscht. Ein Gedanke, den er seit kurzem hegte, schien ihm nun naheliegender. Da Unruhe aufkam, begann er aus dem Stegreif zu reden. «In einen Laternenpfahl werden Erwartungen gesetzt. Er soll Licht spenden, die Nacht erhellen, und den Leuten ihre Furcht vor der Dunkelheit nehmen. Auch soll er sich seiner Umgebung anpassen und einfügen. Den Verkehrsteilnehmern hat er einzig zu dienen.
Fest einbetoniert in den Boden, muss er den Witterungen und anderen Widrigkeiten trotzen. Manchmal dient er Betrunkenen als Haltestange, um dann weiter zu wanken. In der Nacht gewinnt er je nach Lage gar den Status eines Standplatzes, wenn eine Prostituierte in seinem Scheinwerferlicht sich präsentierend an ihn anlehnt.
Jedoch widerfährt ihm auch Übles. Nicht durch die Prostituierten, diese schätzen ihn, wenn auch nur bis das Geschäft zustande kommt. Es sind Männer, die ihn in der Nacht bei ausbleibendem Verkehrsaufkommen für ihre Notdurft benutzen. Sie peilen ihn an, als ob er ein Pissoir wäre, zurückschreckend, wenn sie fälschlich zu nah standen. Hemmungslos kopieren sie Hunde, welche ihre Markierung an ihm deponieren. Nächste Hunde kommen, schnuppern daran und heben dann selbst ihr Bein.»
Die Gruppenteilnehmer mokierten sich mit leisen Zwischenrufen und tuschelten.
«Ich bin kein Laternenpfahl, bei dem jedermann sein Bein heben kann», brüllte Müller.
Die Teilnehmer grölten und klopften Sprüche. Einer stand auf und hob das Bein. Aus dem Stimmengewirr heraus hörte er klar die Worte: «Der spinnt doch.» Müller spürte, dass eine Situation einzutreten drohte, wie die vor der er geflüchtet war. Hilfe suchend blickte er zu Frau Rettich, welche jedoch bemüht war, die einzelnen Kommentierungen herauszuhören.
Nach einer Weile erhob Rettich laut ihre Stimme. «Wir haben die Selbstdarstellung von Herrn Müller gehört. Welche Deutungen könnt ihr ihm dazu geben? Beginnen Sie Herr Kluge.»
Kluge grinste, er war am längsten in der Gruppe und wusste, was Rettich erwartete. Sie schätzte seinen Sarkasmus. «Ich verstehe nicht, warum Müller daran Anstoss nimmt, wenn Prostituierte sich an ihm anlehnen. Ich wüsste schon, was da zu tun ist. Man kann das gute Stück nicht nur zum Pinkeln einsetzen.» Einige Teilnehmer lachten lauthals, einzig Frau Nowotny warf Kluge einen bösen Blick zu. Sie gab sich stets als emanzipiert.
Rettich deutete grinsend an, dass Kluges Bemerkung ihrer Provokationstherapie entspricht. «Das verkümmerte Selbst muss zerschmettert werden, um aus den Trümmern ein gesundes, straffes Selbstbewusstsein aufbauen zu können,» stachelte sie die Runde an.
Demonstrativ erhob sich Frau Nowotny. «Ich denke, Müller hat zu Frauen ein gestörtes Verhältnis. Auch diese Damen darf man nicht mit einem Laternenpfahl gleichsetzen, an dem jeder dahergelaufene Hund sein Bein heben kann. Dies finde ich äusserst diskriminierend.» Ihr Gesicht zeigte eine trotzige Röte. «Es scheint mir er verdrängt etwas, vielleicht den Wunsch selbst an einer solchen Stelle zu stehen und begehrt zu sein, ohne zu begreifen, was diese Frauen durchmachen.» Ihre Worte stachelten die Runde zu weiterer Häme an. Müller war erschrocken, dann kam ihm Wut auf.
«Ist es solch verzweifeltes Identifikationsverlangen, das Sie verspüren, Herr Müller, wie die eines Kastraten der nicht mehr Funktionstüchtig ist?», bemerkte Frau Rettich trocken. Müller, dem es untersagt war, etwas zu sagen, bis alle Teilnehmer ihre Deutungen abgegeben hatten, spürte, wie seine Wut in bare Verzweiflung umschlug. Rettich wusste doch, was ihm widerfahren war, ihr hatte er es in präziser und ausführlicher Schilderung demutsvoll anvertraut. Innerlich schrie er auf.
Herr Gebhard, dessen therapeutische Erniedrigung vor einem Jahr erfolgte, war noch befangen. Zugleich sehnte er sich nach Anerkennung und Lob durch Rettich. «Ich habe keine Erfahrung mit Prostituierten» äusserte er. «Aber es war wohl nicht intelligent, mit einem Hund zu einer zu gehen. Es ist voraussehbar, dass es Probleme gibt, wenn er dann muss.» Prustendes Gelächter breitete sich aus. Gebhard überlegte, wie er seine Deutung vertiefen könnte. «Dass Müller sich Prostituierten nun aufgrund dieses Erlebnisses verweigert und sich mit einem Laternenpfahl identifiziert, ist Folge der Abwehr seines Sehnens nach Potenzfähigkeit. Aber wenn er Prostituierte ablehnt, sind da ja nur noch Männer und Hunde, die mit ihm verkehren.»
Rettich war von den demütigenden Worten teilweise angetan. «Ich sagte es Ihnen doch Herr Gebhard, auch Sie werden wie neugeboren. Einen kleinen Grundstein haben Sie eben gelegt.» An Müller gewandt bemerkte sie: «Erkennen sie die Sternstunde, der Sie beiwohnen.»
Frau Rief hob die Hand. «Ich denke, … ähm …, ich habe gehört, so etwas gebe es wirklich. Aber ich finde es ekelhaft.» Sie rang nach Worten. «Knapp verstehe ich es, wenn ein Mann seine Triebe nicht im Griff hat, einen Aderlass braucht, er ist eben ein Mann. Dann aber wenigstens normal.»
Kluge rief mit übertrieben hoher Stimme: «Igitt, igitt.»
Rief lief rot an. Ihr war klar, dass dies keine Deutung war. «Müller fehlt noch die Einsicht, dass er sein fehlgeleitet triebhaftes Denken zerstören muss, um es neu aufbauen zu können. Verdrängen ist nutzlos, da es sich in anderen Artungen wieder manifestiert.» Rettich nickte ihr leicht zu.
Frau Deblinger war stets um unterwürfige Korrektheit bemüht. «Was ist nun eigentlich Sache? Ach ja, die Hunde und ihre Feuchtgebiete. Vielleicht sollte man um die Laternenpfähle eine Stacheldrahtabgrenzung ziehen, damit sie nicht benässt werden. Sie würden dann auch weniger rosten. Anderseits muss man ja auch an das Wohl der Hunde denken, wo sollten sie denn, wenn sie da nicht mehr dürfen? Allerdings stimme ich Nowotny zu, dass die Frauen, mit denen sie verkehren, den gleichen Anspruch auf Respekt haben, wie alle anderen. Auch fände ich es angemessen, wenn dieser Verkehr nicht in einem Pissoir stattfinden müsste.» Die letzten Worte von Deblinger liessen die Runde zu ungehörigen Bemerkungen und Lachern ausarten. Rettichs Lippen spitzten sich, ihre Augenlider zuckten, sie schien zu überlegen, ob sie Deblinger nun tadeln oder loben soll.
Herr Koch erhob seine Stimme. «Ich denke, er verdrängt einfach eine misslungene Erfahrung, da er Prostituierte wertschätzt und zugleich erniedrigt. Vielleicht erwartete er romantische Liebe und erhielt nur eine Dienstleistung, weshalb er jämmerlich versagte. Also, ich hatte auch schon mal Verkehr mit einer Prostituierten», bemerkte er süffisant, «damals im Militärdienst. So besonders war es nicht, eine kurze Sache für einen gehobenen Preis. Ich bin der Meinung, Müller sollte seinen inneren Schweinehund überwinden, sich keine weiteren Gedanken darüber machen, es ist nicht der Rede wert.» In der Runde wurden nun über Kochs Erlebnis Witze gerissen.
«Lassen Sie romantische Illusionen sausen, zerstören Sie regredierende Empfindungen, um zu Realität und Potenz zu finden, Herr Müller», warf Rettich ein.
Herr Rieser, dessen Interpretation als Letzter ausstand, sprach mit nasaler Stimme. «Ich finde es eigentlich nicht schicklich, meine persönliche Meinung über Prostituierte öffentlich zu äussern. Nun denn, es ist zu bedenken, dass diese Berufsgattung gute Steuerzahlerinnen erschliesst, und dazu noch die Hundesteuer. Berechnet man zudem die Ausnutzung des Laternenpfahls, so ist es betriebswirtschaftlich interessant, die Amortisation wird dadurch erheblich verbessert. Von dem her, ist es ein vernachlässigbar klitzekleiner Kostenfaktor, wenn die Hunde der Damen sich ein Vergnügen daraus machen, ihn als ihr Revier zu markieren. Es ist ihr angeborenes Sozialverhalten, das sie ausleben. Also sollte man im Interesse des Gemeinwohls darüber hinwegsehen, wenn der ureigene Zweck für weitere Bedürfnisse beansprucht wird.» Rieser rang sich zwanghaft die Hände und setzte nochmals an. «Ein Laternenpfahl hat also durchaus seinen Wert für das Allgemeinwohl. Ich denke, Müller wollte wohl eher sagen, ich bin keine Prostituierte. Wobei denen ihren Nutzen abzusprechen, ist ebenso vermessen.»
Rettich griente zufrieden.
Müller hatte mit Anspannung gewartet, endlich reden zu dürfen. Doch nun fühlte er sich erniedrigt und war sich nicht mehr klar, was er selbst vorgetragen hatte.
Nach einem Seufzer begann er. «Die Beziehung zwischen meiner Frau und mir ist völlig intakt, deshalb bin ich hier. Ich meine, sie wollte, dass ich meine Situation kläre, darüber spreche, damit ich es verarbeiten kann.» Er zögerte. «Mit Prostituierten habe ich keine Probleme, auch nicht mit Laternenpfählen, Hunden oder Pissoirs.» Tränen stiegen ihm in die Augen, als er überlegte, wie er das Missverständnis klären könnte. «Ich habe meine Arbeit von einer Stunde auf die andere hingeschmissen, da meine Kollegen mich nicht akzeptierten und gemein waren. Dies ist eigentlich die Sache. Der Laternenpfahl war nur ein Gleichnis, das ich mir nicht von jedermann ans Bein pissen lasse.» Müller fühlte sich erleichtert, jetzt müssten sie es begreifen.
Frau Rettich setzte zu sprechen an, als sie sicher war, dass Müller nichts weiter erklären würde. «Herr Müller, Sie haben nun hautnah erlebt, was Sie mit unpräziser Artikulation auslösen. Die anderen konnten Ihre Aussage weder verstehen noch nachvollziehen, Ihr Verhalten nicht deuten und stellten auf die effektiv geäusserten Worte ab. Dass ein Zuhörender hierbei zu eigenen Assoziationen kommt, das Wahrgenommene aus seiner Perspektive interpretiert, ist nur normal. Wenn Sie also äusserten, ‚ich bin keine Prostituierte’, so fragt man sich warum sagt der das, wenn er es nicht doch ist? Oder steht dahinter ein verdrängter Wunsch, der sich nach Realisierung sehnt? Hierin müssen Sie zu sich selbst finden, sich eingestehen, nach was Sie eigentlich dürsten. Sonst bleiben Sie der Täter und andere werden zu Opfer.»
Müller, der sich kurz vor einem Nervenzusammenbruch wähnte, wollte aufstehen und einfach davonlaufen, doch die Beine versagten ihm den Dienst. «Ich war das Opfer und die anderen die Täter», sagte er unter Tränen. «Sicherlich hätte ich es den Arbeitskollegen vielleicht besser erklären sollen, warum ich nach Feierabend nicht die Zeit hatte, mit ihnen regelmässig ein Bier trinken zu gehen. Aber dies gab denen trotzdem nicht das Recht, mich anzufeinden, mich zunehmend auszugrenzen und zu diffamieren. Ich setzte die Priorität auf meine Frau, welche nach einem Unfall an den Rollstuhl gebunden ist, und für die ich eine Stütze bin, wenn ich heimkomme. Sie hat durchaus Verständnis, wenn es mal später wird. Aber ich möchte selbst entscheiden, was, wo und wann ich will. Ich denke, es wäre eben Prostitution gewesen, wenn ich gegen meinen Willen die Bedürfnisse der anderen befriedigt hätte.»
«Warum sagten Sie dies nicht gleich, Herr Müller, nun verstehen wir Sie alle», bemerkte Frau Rettich. «Die Grenzen zwischen Opfer und Täter sind sehr fliessend, da das Opfer durch sein Verhalten nicht selten der Auslöser ist. Sie müssen lernen, die Sache direkt zu benennen und auch gut zuhören, was die andern sagen. Nur so ist eine klare Verständigung möglich. Sie müssen den renitenten Täter in sich eliminieren, wenn Sie nicht prädestiniert sind, die Opferrolle lustvoll wahrzunehmen. Ihr falsches Selbst beginnt zu bröckeln, doch noch sind kraftvolle Hammerschläge vonnöten, damit Sie zu einem reifen Menschen werden können.»
Müller bäumte sich mit letzter Kraft nochmals auf. «Ich verstehe Sie nicht, Frau Rettich. Wenn ich das Opfer bin, kann ich doch nicht der lüsterne Täter sein?»
Frau Rettich war über die neuerliche Entgegnung verärgert, ihre Lider zuckten. «Herr Müller, ich habe Sie in diese Therapiegruppe aufgenommen, weil ich den Eindruck habe, dass Sie zu Ihrem wahren Selbst finden müssen, ehe Sie mit anderen Personen konfliktfrei umgehen können. Aber dies ist nur durch Einsicht möglich, an der sie noch schwer arbeiten müssen. Den Erfolg sehen sie an den andern Gruppenteilnehmern. Deren Deutungen zeigten, wie diese Selbsterfahrungsreife sich entwickelt je länger man daran arbeitet. Warten Sie ab, in einigen Jahren sind Sie dann auch soweit und müssen sich nicht mehr mit einem sich prostituierenden Laternenpfahl vergleichen.»