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Ich denke an Lot, ich denke an Bruce Willis
Ich öffne die Tür, aber ich sehe kein Gesicht, sondern eine Drohung. Sie sagt: Keine Fragen. Die in einen weiten, dunklen Mantel gehüllte Gestalt schiebt mich beiseite und blickt sich misstrausch um. “Guten Abend, Doktor Manuel”, sagt die Person, die als nächstes durch die Tür tritt. Mein Atem stockt.
Ich hätte dem Anrufer nicht glauben sollen. Ich hätte sagen sollen, es tut mir leid, aber ich bin plastischer Chirug und keine Notfallaufnahme. Meine Praxis ist für einen solchen Fall nicht vorbereitet - vor allem nicht um zwei Uhr früh.
Jetzt steht Stanislaw Dobreff in meinem Empfangszimmer. Stan "der Kahn" Dobreff, neben ihm ein ausdruckslos starrendes Muskelpaket. Meine Stimme bleibt bemerkenswert ruhig, als ich frage, was jetzt geschehen wird.
"Das hat mein Mitarbeiter ihnen doch am Telefon gesagt, Doktor Manuel. Ich halte sie für einen vernünftigen, diskreten Mann und einen guten Arzt. Sie werden also meinen Patienten behandeln. Dann werden sie mir sagen, was ich ihnen schulde. Und wenn sie ihr Geld haben, vergessen sie, dass das hier sich jemals ereignet hat."
Vergessen... Ich erinnere mich daran, wie ich das letzte mal mit Kahn in Berührung gekommen war. Ich hatte morgens um fünf meine Praxis durch die aufgebrochene Eingangstür betreten und festgestellt, dass der Dieb noch da war. Vor einem Arzeneimittelschrank lag hechelnd, zitternd und bewegunsunfähig ein Rattenmensch, ganz blutige Haut und gebrochene Knochen. "Bitte", flehte der Menschenrest, als ich mich über ihn beugte, "irgendetwas. Wenn ich morgen wieder nicht bezahlen kann..."
"Wer war das?", fragte ich damals.
"Kahn."
Das Geld, das ich ihm schenkte, konnte er mit seinen zerschmetterten Fingern kaum annehmen. Ich weiß bis heute nicht, wie er es eigentlich geschafft hat, in die Praxis einzubrechen.
Jetzt steht Kahn in meinem Empfangszimmer und verlangt von mir, dass ich mich um das kümmere, was gerade von einem zweiten Schläger in einem schwarzen Plastiksack versteckt in meine Wohnung geschleppt wird.
"Doktor Manuel - ich muss ihnen wohl kaum mitteilen, dass die Alternative zu diesem von mir favorisierten Ablauf der Ereignisse für sie unangenehm wäre. Höchst unangenehm."
Es ist kein Zufall, dass ich gerade an dieses Erlebnis denke. Inzwischen muss ich mich nicht mehr als besserer Kosmetiker herumschlagen, Lippen und Ohren aufdonnern; inzwischen leite ich die Chirugie des Maria Hilf - Krankenhauses. Ich habe mir gerade einen weißen Kittel über die frisch benutzte OP - Schürze geworfen und trete so vorbereitet auf die Frau zu, die einsam und mit abgeschlafftem Gesicht im Flur sitzt. Sie hat all die anderen fortgeschickt, die bei ihr waren, und wartet seit Stunden allein auf mich.
Auch jetzt, Jahre nach dieser Nacht, fühle ich mich immer noch nicht wirklich frei. Aber besser. Besser als damals.
Während der eine von Kahns Männern im Wartezimmer bleibt und in irgendwelchen Frauenzeitschriften blättert, hat der andere sich hier im Operationsraum vor dem Fenster aufgebaut. Unter seinem Mantel zeichnet sich eine verdammt große Kanone ab.
“Manuel, sehen sie.”
Die Gestalt liegt auf meinem Tisch. Das Plastik hebt und senkt sich leicht und unregelmäßig, also lebt die Person noch. Zumindest ein bisschen. Kahn schlägt die Plane zurück, aber nicht am Kopfende, sondern auf der anderen Seite. Er entblößt zwei nackte weibliche Beine, zieht die Plane weiter hoch. Die Plane ist von innen mit Blut beschmiert. Kahn legt die Frau bis zum Bauchnabel frei.
“Sehen sie, Manuel.”
Ich... sehe.
Es ist weniger, was ich sehe, als das Wissen, das Menschen so etwas tun können.
"Wer war das?", frage ich.
Kahn erstarrt, reagiert erst nach einem Sekundenbruchteil. Ein einziges Wort -
Die eiserne Faust, die mich im Magen trifft, ist ein freundlicher Wink. Bevor ich zu Boden fallen kann, fängt mich ein Kinnhaken auf. Tritte betten mich warm auf dem Plastikboden.
Kahn hilft mir auf. Ich keuche und schmecke mein eigenes Blut. Der Schläger, der mich eben noch verprügelt hat, steht wieder vollkommen ausdruckslos da.
"Doktor Manuel - Ich nehme an, sie haben sich versprochen. Gustavé hier hat ihren kleinen Fehler hilfreich, wenn auch ein wenig ungestüm, korrigiert. Ich hoffe, sie verzeihen ihm seine Indiskretion - wie ich ihnen ihre Verzeihen werde.."
Ich lehne mich an den Instrumentenschrank, schnappe nach Luft. Vermutlich ist keine Rippe gebrochen.
Kahn deutet auf das zerschnittene, zerrissene Stück Fleisch auf meinem Tisch. "Ihr Patient, Doktor Manuel... Sie hat eine Menge Blut verloren. Wir mussten schnell zu ihnen kommen, weil mein Hausarzt im Moment nicht in der Stadt ist."
“Ich weiß nicht, ob ich hier etwas machen kann.” Mein Kopf dröhnt weiter von den Tritten.
“Manuel”, sagt Kahn ruhig, “Sie werden. Das ist einer meiner rentabelsten Aktivposten, und nur weil irgendein bekloppter Anzugträger mit Komplexen sich nicht zusammenreißen kann, werde ich nicht-”
Er bricht ab. “Verstehen sie mich, Manuel?”
“Es tut mir leid, ich weiß noch nicht einmal mehr, ob sie durchkommen wird. Ich weiß nicht, ob ich das so hinkriegen kann, das sie wieder auf normalem Wege pinkeln kann. Ich weiß nur, dass es bestimmt nicht so sein wird wie vorher.”
“Nun, Manuel... Geben sie ihr Bestes. Solange sie diskret und professionell sind, wird sich diese Geschichte für sie lohnen. Ich lasse Marcus da draußen sitzen und sich die neuste Unterwäsche ankucken. Wenn sie etwas brauchen, sagen sie es ihm. Für morgen früh sind alle ihre Termine abgesagt. Ich komme um Punkt neun Uhr. Auf wiedersehen."
Ich bin als Arzt an vielen Verabschiedungen beteiligt. Oft folgt auf eine kurze, hektische und dramatische eine formelle. Dieses mal ist es ein wenig anders. Trotzdem gedenke ich, die Etikette zu wahren. Ich stelle mich neben die wartede Frau und senke den Blick zum Boden. Kunstpause.
Sie liegt da, atmet jetzt etwas gleichmäßiger, und ich bereite vor, was ich brauche.
Ich brauche, denke ich, Ruhe. Und Flügel.
Ich denke daran, die Polizei anzurufen. Ich denke an einige gute Freunde, die ich kenne und die vielleicht wüssten, was man jetzt machen sollte. Ich denke sogar an ein paar beschissene Filme der Marke “Was mache ich mit einer Leiche im Haus”.
Aber eigentlich ist es ganz einfach. Option eins: Ich mache meinen Job. Vielleicht kommt die Frau durch, vielleicht nicht, vielleicht sieht sie sogar wieder gut aus, vielleicht nicht, vielleicht bezahlt Kahn mich, vielleicht nicht, es ist alles das selbe. Option zwei: Ich mache irgendetwas anderes. Kahns Gorillas schneiden mich in Stücke.
Ich denke an Filme und Bücher und meine Seminare in Ethik. Ich kann nicht denken. Ich denke an Sartre. Ich denke an Bruce Willis. Ich denke an gar nichts. Ich denke, ich sollte das Geld spenden. Ich denke, die Frau ist eigentlich ganz hübsch. Mit meinem Ärmel wische ich den Schweiß von ihrer Stirn. Ich denke, sie ist jünger als ich. Ich denke, wer ihr das angetan hat. Ich denke...
Ich möchte mich betrinken. Ich möchte fort.
Im Wartezimmer sitzt ein Mann, der 120 Kilo wiegt, eine Knarre im Mantel hat und gelangweilt aus dem Fenster in die ruhige, warme Nacht schaut. Neben ihm liegt eine aufgeschlagene Autozeitschrift. Ich denke, Fliegen können- das ist Freiheit.
Direkt über dem Kopf der sitzenden Frau hängt ein Bild, dass, wie ich weiß, von einem kleinen Mädchen stammt, das ein paar Wochen, nachdem es diese Sommeridylle mit lila Kirschbäumen und einer breit grinsenden Sonne gemalt hatte, an ihrem Krebs gestorben ist. Am meisten gefallen mir die Wolken, obwohl sie grün sind und in höhe der lilanen Baumkrone schweben.
Mein Räuspern macht die sitzende Frau auf mich aufmerksam.
Die Haut besteht aus mehreren Schichten: Epidermis, Corium und Subcutis. Die Epidermis wiederum besteht aus: Stratum corneum oder Hornschicht; Stratum lucidum oder Glanzschicht; Stratum granulosum oder Körnerzellschicht; Stratum spinosum oder Stachelzellschicht; Stratum basale oder Basalschicht. Für offene Fleischwunden im Bereich der Vulva gilt, wie überall, zu beachten, dass im Corium ein dichtes Netz aus Kollagenfasern, gefüllt mit elastischem Bindegewebe, die langerschen Spaltlinien bildet, die die Richtung der geringsten Dehnbarkeit der Haut markieren. Schnitte werden bei operativen Handlungen wennmöglich entlang dieser Linien gesetzt, um hyperthrophe Narbenbildung zu vermeiden. Wenn mit der richtigen...
“Я ушиблен.”
Ich erschrecke mich, aber meine Hand, die Klinge fest in den Fingern, verrutscht nicht.
“Ruhig”, sage ich. Sie blickt mich an, Schleier, Leere. Graue Augen, das eine in einem schwarzen Kreis.
“Боль.“
Ich kann kein Polnisch oder Ungarisch oder Russisch oder was auch immer. “Ruhig”, sage ich wieder.
“Spürst du Schmerzen?”
Ich habe ihr nur eine leichte Betäubung gegeben, weil ich nicht feststellen konnte, auf welchem Drogencocktail sie gerade steht, und nicht riskieren wollte, ihren Kreislauf endgültig zusammenbrechen zu lassen.
“Kannst du mich hören?”, frage ich und blicke ihr dabei in die Augen, während ich eine neue Spritze vorbereite. Ihre Pupillen taumeln, suchen meine, finden sie, fallen dann wieder. Betrunkene Eiskunstläufer. Balzende Schmetterlinge. Fliegen können, denke ich.
“Будете вы доктором?“, sagt sie. “Ich verstehe dich nicht”, antworte ich. “Spürst du Schmerzen?”
Sie greift nach meiner Hand. Ihre Finger sind eiskalt und ihr Puls macht mir Sorgen. Ich umschließe ihre Hand mit meiner. “Es wird alles gut”, sage ich. Wische ihr den Schweiß von der Stirn.
“Я не могу чувствовать мои ноги. Будете вы доктором?“
Ich lächele sie an. Lächeln ist ein universales Signal; jedes Baby weiß, wenn jemand lächelt, ist er ein Freund, jemand, der den hilflosen Neuankömmling beschützt gegen die Welt. “Es wird alles gut”, sage ich. Sie erwidert mein Lächeln. “Доктор, вы поможете мне?”
Ich nicke. Was auch immer. Streichele ihre Hand.
Die Spritze wirkt hoffentlich schnell.
Bevor die Frau von dem Mittel überwunden wird, sagt sie einen Namen.
"Oно было Holzinger", haucht sie, die Pupillen verkrampfen sich, sie fällt. "Сенатор Holzinger."
Ich habe nicht hingehört. Ich bin ein diskreter, professioneller Arzt. Ich habe nicht verstanden, wie eine blutende Nutte auf meinem OP - Tisch "Senator Holzinger" gehaucht hat.
Eisenklauen klammern sich um meine Flügel.
Ich kenne keinen Senator Holzinger. Ich weiß nichts, ich weiß auf gar keinen Fall, wer das ist. Ich weiß nicht, dass Senator Holzinger einer jungen Frau, einer Prostituierten, die er von Kahn gemietet hat, unmenschliches angetan hat. Ich weiß es nicht, weil ich es nicht wissen darf.
Ich will wissen, wie es ist, fort zu fliegen, in einem Storchenschwarm, in einem Westwind. Ich denke an Bruce Willis. An Lot.
Ich weiß , dass ich viel zu viel über Vergangenes nachdenke. Eine wichtige Regel beim Fliegen ist: sich niemals umblicken. Vielleicht war es falsch, was ich eben getan habe.
Vielleicht nicht.
"Entschuldigen sie..."
Als die Frau schon lange verschwunden ist, im Tiefschlaf abgeholt von Marcus und Gustavé, weiß ich immer noch nicht, dass Senator Holzinger ist, was er ist. Weiß es. Weiß es nicht.
Kahn ist mit meiner Arbeit zufrieden. Ich sage, “eine Woche liegen, drei Wochen Ruhe, danach vorsichtig sein. Zweimal täglich zwei davon. Einmal das hier. Diese Salbe auf das blaue Auge auftragen.” Kahn fragt mich nach meiner Kontonummer. Ich nenn sie ihm, dann fahre ich fort. Reha - Gymnastik. Folgende Sportarten möglichst meiden. Und so weiter. Kahn nickt ernsthaft bei jedem Punkt. Sagt, um die Fäden müsste ich mir keine Sorgen machen, sein eigener Arzt sei bald wieder im Lande. Sagt, meine Professionalität und Kompetenz sei beeindruckend.
Ich weiß, ich sollte das Geld spenden. An Frauenhäuser, an osteuropäische NGOs. Das ganze Geld, vielleicht sogar noch etwas mehr.
"Entschuldigen sie, Frau Holzinger", sage ich. "Es tut mir leid, ihnen mitteilen zu müssen, dass all unsere Anstrengungen, den Herrn Senator zu retten, vergebens waren."
Sie blickt mich nicht an.
"Es ist vielleicht besser so", sage ich. "Es tut mir leid, wir haben unser Bestes gegeben."
Ich habe damals das Geld wirklich gespendet.
"Ihr Mann hat am Ende kaum gelitten."
Ich hoffe, sie merkt nicht, dass ich lüge.
Freiheit ist nicht loslassen. Freiheit ist, einen Schubser zu bekommen und zu fallen. Das ist die einzige Möglichkeit, um zu fliegen.
Und wirklich fliegen kann man nur, wenn man nicht mehr nach hinten blicken muss.