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Ich hänge
Am Anfang durchbricht der Wagen schleudernd die Leitplanke.
Einen Moment lang steht das Automobil in der Luft, es zieht im Bauch, dann beugen sich zwei Tonnen Stahl einem Naturgesetz. Wir fallen.
Den Aufschlag habe ich nicht mitbekommen. Ich vermute, dass sich mein Bewusstsein kurzzeitig ausgeschaltet hat. Jetzt bin ich wieder da.
Und ich hänge.
Überschlagen sieht der Wagen sicher nicht mehr so gut aus.
Ein schöner Wagen. Doch das ist jetzt nicht mehr wichtig. Der Gurt hält mich in der Luft. Deswegen bin ich noch nicht aufgeschlagen, mit dem Kopf auf die Dachbespannung. Sie spannt sich über mir auf, ist aber gravitativ gesehen unter mir und riecht noch immer nach Wildleder.
Wenigstens das kann ich noch: riechen. Ich sehe nicht nach oben, oder nach unten, wie auch immer...
Ich weiß dass ich nur zersplittertes Glas und aufgeplatzte Airbags zu sehen bekäme. Das will ich nicht. Jetzt nicht mehr. Meine Beine sind eingeklemmt, jedenfalls kann ich sie nicht bewegen. Ich stecke fest.
Ich hänge.
Es ist mir nicht lieb, aber es ist mir recht hier zu sterben. Kein besonderer Anlass, außer dass ich unterwegs gewesen war, zu einer Hochzeit. Mein kleiner Neffe. So klein ist er gar nicht mehr.
Seine Eltern sind so stolz auf ihn. Ich auch...
...dass hier keine Leute sind, die drumherum stehen und gaffen, dafür danke ich.
Da sind nur welche, die in der Kirche sitzen. Sie gaffen nicht, sie schauen und staunen.
In feinen Anzügen hocken sie mit verzückten Gesichtern auf den Holzbänken. Es riecht nach Weihrauch und Glück. Sie werden mit Reis werfen, nicht mit Glassplittern. Ein stolzer Schwiegervater wird die Braut nach vorne führen. Da wird kein Patenonkel kopfüber hängen. Es wird nur Freudentränen geben, später ist immer noch Zeit für Trauer. Weiße Blumen, rotes Blut, alles verschwimmt vor meinen Augen, vermischt sich. Es regnet rosarote Blüten, es tropft heraus.
Ein Röcheln nach Luft, zweimal ‚Ja’, sanft gehaucht in das Gesicht des geliebten Menschen. Ich lächle. Meine Augen werden feucht, dann kommen die Ringe. Das rinnende Blut am Arm herab, der schlaff und gebrochen herunterhängt. Hier breche ich ab. Nur warme Freude und ein langes glückliches Leben, ich wünsche euch alles Gute!
Es ist richtig so, denke ich, nicht zu feierlich, nicht zu früh, spontaner Abgang nach fünfundvierzig Jahren.
Es klingt fast logisch, wie geplant oder vorherbestimmt. Ja, ich durfte sogar den Wagen wählen. Ich hatte die Wildlederausstattung genommen und Beifahrerairbag. Eine gute Wahl, ein guter Tag.
Zum Glück, es ist kein Beifahrer da, um leblos in den Seilen zu hängen - in den Gurten - oder letzte Gebete zu sprechen.
Das würde mich sehr belasten, vielleicht sogar vom Tode abbringen. In der Innentasche ist das Handy, ich hätte es sicher benutzt...
Wenn man will, kann man eine Ordnung erkennen in seinem Leben. Es ist keine gerade Straße gewesen, vielmehr eine Wüste, ohne zu wissen wohin es geht. Es ging immer weiter, scheinbar ohne Ziel. Doch hat letztendlich alles hierhin geführt, an diesen Ort, mein Ziel.
Zu diesem Unfall, der eigentlich ein Fall gewesen war.
Einen Sturz als Unfall zu bezeichnen ist gravitatorisch falsch. Ob es dieses Wort gibt und wie es richtig heißt, darüber mache ich mir nun wirklich keine Sorgen mehr...
Ich habe keine Schmerzen, was auch ärgerlich gewesen wäre, so kurz vor dem Ziel, und dumm. Dass es ein Ziel ist, schon immer das Ziel gewesen ist, wird mir erst jetzt so richtig klar.
Ich glaube, es ist besser so, dass es erst am Ende hell wird in unserem Kopf. Würde es eher geschehen, noch wenn wir mitten im Leben stehen, wir könnten an nichts anderes mehr denken, würden nichts mehr tun als warten.
Das ist meine letzte Aufgabe, jetzt. Ich warte.
Ich hänge.
Die Sekunden verstreichen, ich höre nichts, ich sehe etwas tropfen, vielleicht. Es könnte Kühlwasser sein, oder Bremsflüssigkeit.
Vielleicht auch Benzin, es ist ja egal. Der Wagen hat nicht begonnen zu brennen. Ich erinnere mich, der Tank würde nicht explodieren, trotz des hohen Sturzes.
Das funktioniert nicht, technisch. Nur in Actionmovies passiert so etwas. Aber ich habe seit acht Monaten keinen Film mehr gesehen. Woher hätte ich wissen sollen wie das geht... explodierend draufgehen?
Ich werde ganz einfach warten und verbluten, die Kälte kommt schon, ein wenig. Es ist, als hätte man im Winter die Heizung runtergedreht, draußen liegt Schnee, man kann es riechen, fast.
Es ist kein richtiges Riechen, eher ein Fühlen, frisch und feucht. Sonst rieche ich nichts mehr.
Hier unten sieht mich niemand, das Auto ist schwarz, zwischen den Felsen und Bäumen, hinter und unter sonstwas.
Wer weiß wo ich liege?
Der Begriff "draufgehen" schwimmt mir als Gedanke im Kopf herum. Er ist nicht sehr angebracht, in dieser Situation. Es ist vielmehr ein Abhängen was ich hier tue... ich hänge herum. Alles was bleibt ist Galgenhumor und ein paar verschwommene Tropfen, die am Gummi hinunterperlen, dort wo eben noch die Scheibe war. Sie dienen mir als Zeitmesser.
Am Galgen hängt man ja auch... Die Kraft für Wortspiele verschwindet langsam, auch alles andere, alles wird dumpfer mit den Tropfen, kein Zeitgefühl mehr.
Ob nun Stunden oder Sekunden, das spielt keine Rolle, ich höre nichts mehr und sehe kaum etwas, außer Schatten die sich nicht bewegen.
Immer langsamer kriechen die Gedanken, klebrig, halten sich an Dingen fest die es bald nicht mehr geben wird. Das ahnen sie und scheinen Angst zu haben die Bedeutung mit ihren Definitionen zu verlieren. Das Festhalten, ein letzter Abschied.
Dann kommen Bilder die leichter sind als Worte, sie fallen nicht schwer, sie halten sich nicht fest, brauchen keine Definition. Sie fliegen, sie sind frei.
Es wird nicht kalt, nur kühl.
Es ist nicht leer, nur hohl.
Ich bin nicht schwer, ich hänge nur, ich hänge...
...und beginne zu träumen...
...es ist leicht, es ist bunt
...und Finsternis lag über den Tiefen und der Geist Gottes schwebte über den Wassern
...das sehe ich und fliege mit den Bildern davon...