Ich habe einen Traum
Ich habe einen Traum
Ich habe einen Traum, immer wieder den gleichen Traum. Nacht für Nacht. Eigentlich habe ich noch nie etwas anderes geträumt. In dem Traum sehe ich mich als kleinen Jungen, spielend im Sandkasten mit einer Schaufel in meiner rechten Hand, gerade dabei eine Sandburg zu errichten.
Ich bin alleine, keiner meiner Freunde hilft mir bei der Burg, dennoch habe ich in meinem Kopf schon einen genauen Plan, wie die Burg einmal aussehen wird. Eigentlich wird meine Burg gar keine Burg, sie wird ein Palast werden, ein wunderbarer Palast, so schön, dass alle Menschen ihn bewundern werden, die Türme so hoch, dass jeder ihn schon von Weitem sichten kann und ein großer Wassergraben rundherum, der meinen Palast vor ungebetenen Gästen – gar vor Angreifern – beschützen wird.
Ich beginne langsam mit dem Bau des Palastes, zuerst schiebe ich mit meinen kleinen Händen einen riesigen Hügel in der Mitte des Sandkasten zusammen, mit meinem Eimerchen forme ich seine Spitze zu einem Turm, meinem Aussichtsturm, dem zentralen Punkt in meinem Palast. Von dort will ich alles sehen können, was um mich herum passiert, die Sonne lachen sehen und die Wolken weinen, nicht zu vergessen, die stürmischen Winde und Gewitter und den Regenbogen, der am Himmel erscheint, wenn sich alles wieder beruhigt.
Um den riesigen Turm in der Mitte baue ich einen großen Platz. Mit meiner Schaufel schiebe ich die feinen Sandkörner beiseite und streiche alles sorgfältig glatt, damit meine Untertanen dort in Ruhe ihrer Arbeit nachgehen können. Ihre einzige Aufgabe wird es sein, die Eindrücke, die ich auf dem Aussichtsturm sammele, zu sortieren und auszuwerten.
Mitten auf dem leeren Platz errichte ich eine Kammer, die auf dem ersten Blick klein und unbedeutend wirkt, um die Neugierigen zu täuschen, die versuchen, in die Kammer einzudringen. Ihr Inhalt wird geheim sein, streng geheim, der Zutritt wird jedem – bei seinem Leben – verwehrt sein, niemand, nicht einmal ich selbst, wird die Kammer je betreten und ihr Geheimnis erfahren, dennoch wird das, was darin geschieht, erheblichen Einfluss auf das Palastleben nehmen, alle Untertanen und ich selbst, werden diesen Einfluss immer als oberte Entscheidungsgrundlage für unser Handeln betrachten, wenn wir auch selbst niemals verstehen werden, weswegen.
Vom Platz führt eine breite und prunkvolle Straße nach außen, deren Fahrbahnrad ich mit kleinen genauestens mit kleinen Steinchen markiere, die ich zuvor gesammelt, gewaschen und getrocknet habe, da diese Straße die einzige Verbindung meines Palastes zur Außenwelt darstellen wird und meinen Palast daher nach außen ebenso repräsentieren wird, wie die Ritter, die ich über diese Straße in die Welt schicken werde, um der Welt von meinem Palast zu berichten, um allen Menschen zu zeigen, welch unschätzbaren Wert mein Bauwerk für sie haben wird.
Mittlerweile ist einige Zeit vergangen, schnell habe ich gelernt, mit dem Sand umzugehen, doch der Junge im Traum, wird älter, ich werde älter, zwar sind seit Baubeginn erst wenige Monate vergangen, doch ist diese winzige Alterung meines Körpers schon bei flüchtiger Betrachtung leicht ersichtlich. Unbeirrt dessen baue ich weiter, alles verläuft nach Zeitplan, mein Palalst wird schon bald vollendet sein.
Bewacht wird mein Palast von einer hohen Mauer aus Stein. Die Mauer wird so hoch sein, dass sie niemals überklettert wird, der Graben um die Mauer herum, den ich mit der Schaufel aus dem Sand aushebe, wird den Schutz der Mauer ebenso erhöhen, wie die Türme, die an allen vier Ecken des Gemäuer errichtet werden. Die Mauer wird in sich geschlossen sein, von dem Durchgang abgesehen, welcher Platz für die Straße nach außen bieten soll, durch ein Eisentor – den Deckel einer alten Konserve - verriegelt werden kann – und auch wird! - und meinen Untertanen streng bewacht und kontrolliert wird: Hinein gelassen wird niemand, die Straße führt nur nach außen. Es gibt auch keinen Hintereingang, wer den Palast einmal verlassen hat – dies gilt auch für die Ritter -, wird ihn nie wieder betreten dürfen. Fremde dürfen ohnehin nicht eintreten, zu groß wäre die Gefahr, dass sie unbehebbare Schäden anrichten könnten. Weder ich, noch meine Untertanen sind dazu ermächtigt, Ausnahmen für diese Regel zu erlassen, einzig die geheime Kammer inmitten des großen Platzes – dafür wurde sie eigentlich geschaffen – hat in Ausnahme- und Krisensituationen die Befugnis, das Tor für Fremde zu öffnen, wenn gleich diese sich nur unter strenger Beobachtung im Palast bewegen dürfen und einige Zonen absolutes Sperrgebiet für sie sein werden.
Mein Palast ist noch lange nicht fertig, ich träume weiter, wie ich das oberste Gericht erbaue, dass über meine Untertanen, als auch über mich Urteil fällen wird und von der großen Markthalle, die alle Bewohner stets mit frischen Lebensmitteln versorgen wird, die ich auf eigens errichteten Feldern anpflanzen lasse. Mein geistiger Bauplan sieht ebenso Gefängnis, Musseen, Denkmäler und Badeeinrichtungen vor, die ich alle nach und nach errichten werde.
Ich baue weiter und weiter - ohne Arroganz kann ich von mir behaupten, dass ich mittlerweile ein Meister des Handwerks geworden bin -, die Ausmaße, die mein Palalst mittlerweile annimmt, sind kaum noch ersichtlich, als sich zum ersten Male die Frage aufzwingt, die ich lange ignoriert habe, wohl weil ich mich vor der Antwort fürchtete: „Warum? Warum baue ich diesen Palast? Welchem Zweck dient der Palast?“ - Der Gedanke lässt mir, von diesem Augenblick an, keine Ruhe mehr.
Mit diesem Moment verwandelte sich der Traum in einen Alptraum, jede Nacht stöhne und kreische ich schweißgebadet an genau dieser Stelle, immer an der selben Stelle, immer dann, wenn der Junge sich die Frage nach dem Warum stellt, dennoch wird mir das Erwachen vergönnt, jede Nacht wird mir der Alptraum vor Augen geführt, jede Nacht durchleide ich panische Ängste, nur weil der Junge sich vor der Antwort einer der simpelsten Fragen der Welt fürchtet: Warum?
Wie ich mich nun auch bemühe, weiter zu bauen, so misslingt mir jeder Versuch. Meine Hände zittern, wenn sie nur in die Nähe des Bauwerks gelangen, ich spüre, dass ich erst weiter bauen kann, wenn ich eine Antwort auf die Frage gefunden habe, was mir – so sehr ich mich auch bemühe – nicht ohne Weiteres gelingen wird. Ich sehe in den Spiegel, den mir meine Mutter gab, als sie mich vor langer Zeit verabschiedete, um mit dem Bau des Palastes beginnen zu können.
Vor langer Zeit? Ist das denn wirklich schon so lange her? Ich blicke in den Spiegel und merke, dass aus meinem Gesicht Haare spriesen, Barthaare. Meine Mutter meinte früher einmal, dass dies geschehe, wenn man beginnt, erwachsen zu werden. Ist es das, bin ich jetzt erwachsen? Vielleicht hat das ja etwas mit diesem Warum zu tun, dieses Erwachsenwerden. Wann habe ich meine Mutter eigentlich das letzte Mal gesehen? Und meinen Vater? Meine Schwester? Ich habe meine Familie ganz vergessen, so sehr war ich auf meinen Palast fixiert. Jetzt, wo ich nicht mehr weiter weiß mit meinem Palast, nicht mehr im Stande bin, weiter zu bauen, meine zitternden Hände mich dabei behindern, denke ich an meine Famlie zurück.
Wie von einem plötzlichen Blitz getroffen renne ich durch den Garten zum Haus meiner Eltern, klingele sturm und schreie meine Mutter an, sie habe mir nicht geholfen bei meinem Palast, irgendetwas ginge schief, sie habe mich allein gelassen, alle haben mich alleine gelassen, ich müsse meinen Palast ganz alleine errichten, niemand wolle mir helfen. Meine Schreie mussten verzweifelt geklungen haben, dennoch antwortet meine Mutter ruhig und gelassen, sie habe versucht mir zu helfen, alle haben versucht mir zu helfen beim Bau meiner Burg - Sie sagte „Burg“. Sie sagte bewusst Burg und nicht Palast, wie ich es stets zu sagen pflegte - zu helfen, doch ich habe mir nicht helfen lassen wollen. Sie sagt, sie habe ähnliche Erfahrungen gemacht, als sie anfing, erwachsen zu werden. Sie sagt, jeder mache diese Erfahrungen, wenn er anfängt, erwachsen zu werden. Es sei nur natürlich, dass man beginnt, sich zu fragen, warum man diese Burg baut, als Kind hat man einfach nur gebaut, ungeachtet der Jahre, die dabei vergingen, als Erwachsener beginne man das und noch viel mehr zu hinterfragen, alles müsse einen Grund und einen Zweck haben. Man gehe arbeiten, um die Familie zu ernähren; man gehe schlafen, um sich von der Arbeit zu erholen; man nehme Schlaftabletten, um sich noch besser zu erholen; aber auf meine eigentliche Frage, warum ich diese Burg baue, konnte sie mir keine Antwort geben. Sie warnte mich lediglich davor, meine Burg nieder zu reißen, nur weil ich nicht begreife, warum ich sie je gebaut habe. Sie konnte mich sogar dazu ermutigen, weiter zu bauen, das Zittern meiner Händer verbesserte sich wieder, so dass ich wieder baute und baute, eine lange Zeit. Diesmal lasse ich mir sogar helfen, von meinen Eltern, meiner ganzen Familie und meinen Freunden, so dass meine Mutter erstmals auch „Palast“ sagte, als seit Baubeginn rund 50 Jahre vergangen waren und erste Fassaden anfingen, zu bröckeln.
Als ich nun aus dem Traum erwache – ich habe nie erfahren, wie lange es noch dauern wird, bis der Palast in sich zusammenbricht -, stelle ich fest, dass ich mich immer noch in diesem Traum befinde und habe Angst, vor dem Moment, das Warum erfragen zu müssen, Angst, nicht mehr unbeschwert leben zu können, auf der Suche nach dem Warum. Wie schön es doch war, als Kind im Sandkasten zu spielen und Burgen zu bauen, so ganz ohne einen Grund...