Ich heiße Mara
Ich höre die Tür ins Schloss fallen. Endlich ist mein Vater aus dem Haus. Die leuchtenden Ziffern des Radioweckers zeigen 10:43 an. Wow. Er hat es heute tatsächlich geschafft, sich vor 12 Uhr aufzurappeln und einkaufen zu fahren und das an einem Montag – dem für gewöhnlich schlimmsten aller Wochentage. Der „Hausherr“, wie er sich zu nennen pflegt, ist seit 3 Monaten arbeitslos. Ein Ende seiner beruflichen Krise ist noch nicht in Sicht. Aus diesem Grund arbeitet meine Mutter nun fast ununterbrochen sieben Tage pro Woche, um die Familie irgendwie über Wasser zu halten. Dad nimmt sich seither um den Haushalt an. Doch leider eher schlecht als recht: Es fällt ihm schwer, seine momentane Situation zu akzeptieren und anstatt sich für einen neuen Job zu bewerben oder zumindest zu versuchen, den Haushaltspflichten auch nur annähernd nachzukommen, suhlt er sich in Selbstmitleid und verbringt die meiste Zeit im Bett oder auf der Couch vor dem Fernseher. Doch jetzt ist er weg, meine Schwester auf der Uni und meine Mutter schon seit 6:30 im Büro – ich habe das Haus für mich alleine.
Die ziehenden Bachschmerzen, die mich ab und an heimsuchen und mir wieder einmal einen freien Schultag eingebracht haben, lassen Gott sei Dank nach und ich schleiche auf Zehenspitzen aus meinem Zimmer und hinein ins Bad. Wieso ich mich trotz Abwesenheit meiner Familie nur auf Zehenspitzen fortbewege weiß ich nicht genau. Vielleicht einfach eine Vorsichtsmaßnahme – man kann ja nie wissen. Ich schließe die Tür hinter mir ab – noch eine Vorsichtsmaßnahme. Langsam streife ich mir die Socken von den Füßen, ziehe mein Pyjama-Shirt und die lange Jogginghose aus und entledige mich schlussendlich auch meiner Boxershorts. Mein ganzer Körper beginnt zu zittern, zum einen vor Kälte und zum anderen vor Aufregung, doch das ist mir egal. Erst jetzt taste ich nach dem Lichtschalter. Ein Knips und die beiden Lampen an der Decke leuchten auf. Meine noch etwas müden Augen brauchen einige Sekunden, um sich an das grelle Licht zu gewöhnen, doch dann sehe ich mich klar und deutlich im Spiegel. Von Kopf bis Fuß betrachte – nein, analysiere ich meinen nackten Körper. Meine schulterlangen braunen Haare, die großen dunklen Augen, meine schmale Nase, die etwas spröden Lippen, der penibel glatt rasierte, zierliche Oberkörper. Würde man nur die obere Hälfte meines Körpers betrachten, könnte ich tatsächlich für ein Mädchen gehalten werden. Klar, ich habe keine Brüste und nicht wirklich weibliche Rundungen, aber von einer maskulinen V-Form meines Oberkörpers oder sonstigen männlichen Zügen fehlt ebenso jede Spur. Sagen wir, ich sehe aus wie ein 11-jähriges Mädchen vor der Pubertät. Doch leider zeichnet sich von meiner Hüfte an abwärts ein anderes Bild ab: Schuhgröße 45 tragende Füße, maskulin wirkende Beine und ein Penis, der zwar ebenso perfekt rasiert, aber trotz allem nicht zu übersehen und Teil meines Körpers ist. Teil meines 16 Jahre alten männlichen Körpers.
Verdammte Scheiße! Die Bauchschmerzen melden sich zurück und zwar stärker als je zuvor. Der ziehende Schmerz durchstößt meinen Unterbauch wie ein kraftvoller Blitz, dessen enorme Helligkeit jedes menschliche Auge binnen Millisekunden erblinden ließe. Ich krümme mich immer mehr, in der Hoffnung, den Dämonen, die sich gerade über meine Eingeweide hermachen, irgendwie entkommen zu können, doch vergebens. Schließlich sacke ich völlig zusammen und sinke zu Boden. Wie ein kleines Häufchen Elend liege ich nackt auf den kalten Fließen: Die Arme um meine zitternden Beine geschlungen. Wimmernd und flehend, der Schmerz möge endlich an Intensität verlieren. Nach einer gefühlten Ewigkeit beruhigt sich mein Bauch wieder – die Dämonen kriechen in ihre dunklen Höhlen zurück, der Blitz hat meinen Körper verlassen.
Ich rapple mich vorsichtig auf und lehne mich sitzend gegen den Heizkörper, dessen angenehme und wohltuende Wärme sich in mir auszubreiten beginnt. Meine erschöpften Augen schweifen durchs Badezimmer: Die verstaubte Toilette, das fast leergeräumte Handtuchregal, die viel zu selten zur Anwendung kommende Waschmaschine. Alles in allem ein eher trostloses als interessantes Abbild eines Raumes. Doch da fällt mein Blick auf den Schmutzwäsche-Container, der vor Kleidungsmassen beinahe zu zerborsten droht. Unter dem schmuddeligen schwarzen T-Shirt meines Vaters blitzt das türkisfarbene Sommerkleid meiner Schwester hervor. Wenn ich mich recht erinnere, hat sie es vorgestern erst getragen. Die weißen Punkte, das Herz-Dekolleté, der fließende Übergang zwischen dem eng anliegenden oberen Abschnitt und dem ausgestellten Faltenrock, die dünnen Träger, die sich sanft um die Schultern schmiegen – mit einem Wort: traumhaft. Engelsgleich schwebt meine Schwester regelrecht durch den Tag, wenn immer sie sich dieses Kunstwerk eines Kleidungsstücks überstreift.
Wie fremdgesteuert beginnen meine Hände in der Wäschetonne zu wühlen. Mit einem Ruck liegt das Objekt meiner Begierde vor mir. Als ich etwas tiefer in die Weiten des Schmutzwäsche-Behälters eindringe, ertasten meine vor Aufregung zitternden Finger den Verschluss eines BHs. Völlig gedankenlos und von plötzlicher Ekstase getrieben lege ich ihn mir um. Er zwickt ein bisschen, sitzt aber nahezu perfekt. Bis auf die leeren B-Körbchen-Cups natürlich, doch die werden kurzer Hand mit Klopapier ausgestopft. Ich greife nach dem Sommerkleid und schließe die Augen. Behutsam ziehe ich es mir über den Kopf. Jetzt nur nichts kaputt machen. Der Stoff fühlt sich leicht und weich an, fast wie Seide. Ich atme tief ein – das Kleid duftet noch immer nach dem Parfüme meiner Schwester – frisch und blumig. Nur noch der Reißverschluss und – ja, ich stehe fertig eingekleidet inklusive BH vor dem Spiegel. Vorsichtig und beinahe in Zeitlupengeschwindigkeit öffne ich die Augen. Lässt man die Unterschenkel und Füße außen vor, steht nun wahrhaftig ein zierliches schüchternes Mädchen im Badezimmer. Ein braunhaariges Mädchen mit B-Körbchen im wunderschönen Sommerkleid. Begeistert betrachte ich das Spiegelbild. Mein Spiegelbild. Aber es reicht mir nicht.
Mit zittrigen Fingern öffne ich den Hängeschrank über dem Waschbecken. Wie ein Detektiv auf der Suche nach dem entscheidenden Hinweis durchstöbere ich den mir darbietenden Inhalt. Nagellackfläschchen in den verschiedensten Farben, Abschminktücher, eine Nagelfeile und … ein Lippenstift in goldglänzender Hülle. Vorsichtig nehme ich die Kappe ab – der pinkfarbene Lippenstift kommt zum Vorschein. Hunderte Male habe ich meine Schwester bereits dabei beobachtet: Wie eine begnadete Künstlerin ihren Pinsel zielsicher über die Leinwand zieht, taucht sie ihre Lippen Strich für Strich in ein kräftiges Pink – jedes Mal makellos. Mein Herz schlägt mir bis zum Hals. Ein kalter Schauer läuft mir über den Rücken und erschüttert meinen ganzen Körper. Trotz der mich zur Gänze einnehmenden Nervosität versuche ich, es ihr gleich zu tun. Ich setze in der Mitte der Oberlippe an und ziehe den ersten Strich. Um nicht in Unsicherheit und Zweifel zu geraten, ziehe ich sofort den zweiten Strich auf der anderen Seite. Zum Schluss die Unterlippe. Ich trete einen Schritt zurück und betrachte mein Werk. Die Linienführung ist sicher noch ausbaufähig, aber für den ersten Versuch absolut zufriedenstellend. Die Farbe steht mir. Meine Lippen wirken voll und weich. Ich habe Blut geleckt – ich nehme all meinen Mut zusammen und durchforste erneut den Make-Up-Bestand meiner Schwester. Schnell werde ich fündig: Eyeliner und Wimperntusche. Auch was die künstlerische Verschönerung von Augen angeht, habe ich durch das genaue Studieren der Technik meiner Schwester schon einiges lernen können, hoffe ich zumindest. Sie hat über die Jahre ihr Augen-Make-Up immer mehr verbessert und mittlerweile bis zur absoluten Meisterklasse perfektioniert. Ein Blick ihrerseits und man schwebt im siebten Himmel. So behutsam wie möglich hebe ich mein linkes Augenlid hoch und starte den ersten Versuch, einen möglichst geraden Lidstrich zu zeichnen. Er ist geglückt. Voller Freude über mein bislang verstecktes Schmink-Talent mache ich weiter. Ich bin wie im Rausch. Raum und Zeit verschmelzen miteinander, alles um mich herum ist vergessen. Es gibt nur mich, den Spiegel und die Werkzeuge meiner Kunst.
Als nach meinen Lippen nun auch meine braunen Augen im neuen Glanz erstrahlen, krame ich noch Bürste und Blumenhaarspange hervor. Frisch gekämmt bildet die Blume in meinem Haar den krönenden Abschluss. Es ist vollbracht. Die Verwandlung ist vollendet. Aus dem Spiegel strahlt mir ein bezaubernd schönes Mädchen entgegen. Ein Mädchen mit sanften Gesichtszügen, vollen Lippen, glänzendem Haar, langen Wimpern und einem wunderschönen, perfekt sitzenden Sommerkleidchen. Ein engelsgleiches Geschöpf. Ich. Mein wahres Ich.
Durchflutet von Freude und Ekstase macht sich ein Bedürfnis in mir breit: Ich will tanzen und die ganze Welt an meiner zauberhaften Verwandlung teilhaben lassen. Ich will mich nicht länger verstecken. Ich will mein wahres Ich nach außen tragen. Ich will ich sein. Ein 16-jähriges Mädchen. Mara.
Ich stürme aus dem Badezimmer. Dort ist nicht genug Platz für all die positive Energie, die aus mir herausbricht wie ein Schmetterling aus seiner zu eng gewordenen Puppe. Wie ein kleines Kind springe und hüpfe ich im Wohnzimmer herum und fühle mich zum ersten Mal rundum wohl in meiner Haut. Doch mein Freudentanz ist nur von kurzer Dauer, denn plötzlich höre ich den Haustürschlüssel, der im Schloss umgedreht wird. Mein Vater ist vom Einkauf zurück. Den habe ich völlig vergessen. Er darf mich so nicht sehen. Nicht jetzt. Nicht heute. Nicht wenn sonst niemand im Haus ist, um mir Beistand zu leisten. Ich suche fieberhaft nach einem Ausweg aus der mir bevorstehenden Misere, doch ich bleibe stocksteif im Wohnzimmer stehen. Ich habe die Fähigkeit, meinen Körper aus eigener Kraft zu bewegen, verloren.
Polternd und stöhnend bewegt sich mein Vater, beidseitig bepackt mit schweren Tüten, die Treppen hinauf.
„Manuel? Manueeeel? Wo bist du denn, mein Sohn? Hilf mir doch die Einkaufstaschen auszuräumen!“, ruft er im Befehlston.
Ich antworte nicht. Ich mache keinen Mucks, stehe weiterhin wie versteinert mitten im Raum und erwarte das mir drohende Schicksal. In diesem Moment erklimmt Vater die letzte Stufe und betritt außer Atem das Wohnzimmer. Er schaut mich an. Mustert mich von oben bis unten. Sein vor Anstrengung verzerrtes Gesicht zieht sich zu einer wütenden Fratze zusammen. Mit einem Ruck lässt er die vollen Tüten zu Boden fallen und der überwiegende Teil des Einkaufs verteilt sich im Raum, als wollte er sich aus dem Staub machen, um den nun folgenden Wutanfall nicht mitansehen zu müssen.
„Was ist denn in dich gefahren, Manuel?! Bist du völlig bescheuert?!“, schreit mich mein Vater an.
Ehe ich die Möglichkeit habe, mich zu erklären oder auch nur in irgendeiner Weise zu rechtfertigen, brüllt mein Vater weiter: „Du warst ja von Anfang an eine Enttäuschung, aber das schlägt dem Fass den Boden aus! Was soll dieser Tussi-Auftritt? Bist du schwul oder was? Mach deinen Mund auf, verdammt nochmal!!!“
Meine Stimmbänder lassen mich im Stich und ich bringe nur ein zitterndes Flüstern heraus: „Nein … ich, ich bin nicht…ich bin nicht schwul. Ich bin ein M…“
„Ja, was bist du? Was bist du?! Ein Mädchen?! Dass ich nicht lache! Du bist kein Mädchen!“, schneidet mir Vater das Wort ab.
Sein Kopf hat sich rot gefärbt. Er kocht vor Wut. Gerade als ich erneut zu einem Erklärungsversuch ansetzen möchte, bewegt er sich auf mich zu. Wie Frankensteins Monster steht mein Vater vor mir. Schnaubend wie ein provozierter Stier. Jederzeit bereit zum Angriff. Er krallt sich die Blumenhaarspange und reißt sie mir ohne Rücksicht auf Verluste vom Kopf.
„Neeeeeeeein!“, kreische ich voller Entsetzen.
Ich spüre, wie mir die ersten Tränen in die Augen treten. Kochend heiß kullern sie meine Wangen hinunter. Doch mein Vater bleibt eiskalt.
„Na, verläuft deine Schminke? Zerfällt deine makellose Kostümierung langsam? Merkst du endlich, was für eine Scheiße du gebaut hast? Du bist ein Mann, verdammt! Ein beschmierter, in ein Kleid gepresster Mann!“, brüllt er mir erneut ins Gesicht.
Da fasst er mir mit seinen prankenähnlichen Händen ins Dekolleté und zieht mit einem Ruck das gesamte Klopapier aus dem BH.
„Hör sofort aaaaauf!“, schreie ich mir die Kehle aus dem Hals und versuche, mich vor meinem wildgewordenen Vater in Sicherheit zu bringen.
Doch es ist zu spät. Er bekommt das untere Stück des Kleides zu fassen und reißt es mir mit all seiner Kraft vom Leib. Ich stolpere und stürze zu Boden.
„Steh auf, Sohn! Steh auf! Zeig mir deinen Schwanz!“, fordert mich mein Vater mit provokanter Stimme auf.
Doch ich bleibe liegen. Ich bleibe völlig entblößt und gedemütigt auf dem kalten Boden liegen. Ich, das Mädchen gefangen im Jungenkörper. Ich, Mara.