Ich kann es
Der Fernseher lief, doch es kam nichts, was ihn interessierte. „Warum ist mein Leben
nur so ermüdend?“ fragte er sich. „Noch nicht einmal der vermeintliche König der Unterhaltungsindustrie ist dazu im Stande, mich zu erheitern.“
Er beschloss, seine abgetragene Cordhose und seine Stoffjacke, deren Reißverschluss er aufgrund der vielen Jahre, die sie ihm treu zur Seite stand, nur noch mit Mühe schließen konnte, anzuziehen. „Morgen geh ich mir neue Klamotten kaufen“, dachte er. Und kaum war der Gedanke laut ausgesprochen, da geriet er auch schon wieder in Vergessenheit, denn wirklich Wert auf sein Äußeres legte er schon lange nicht mehr. Mindestens aber schon seit dem Zeitpunkt, da ihn seine Frau verlassen hatte. Sie begann ihn zu lieben wie er war und hörte auf ihn zu lieben wegen dem, was er war. Sie verließ ihn ohne große Reden zu schwingen und mit der Zeit verblich für beide die Erinnerung an den anderen, wie das mit Kreide auf die Straße gemalte Herz für die große Liebe im Kindesalter.
Nachdem es ihm dann endlich gelang, den Reißverschluss seiner Jacke zu schließen, verließ er sein Ein-Zimmer-Apartment und begann ziellos durch die Gegend zu trotten. Zwar war er sich über das Ziel seines Spaziergangs bewusst, doch über welche Umwege er seine Stammkneipe „Chez Boozaulay“ erreichen würde, überließ er seinen niederen Instinkten, denn er wusste, dass sein Unterbewusstsein ihn auf jeden Fall dort landen ließ, selbst wenn er dermaßen in Gedanken versunken war, dass er kaum noch was von den schäbigen, rußgeschwärzten Häusern und allem, was in und um dieselbigen geschah, wahrnahm. Er war sogar dazu im Stande, sich den Straßenverkehr zu einer Philharmonie „zurechtzudenken“, die mit Engelstrompeten und Teufelsposaunen aus Stahl den Walkürenritt schmetterte. Denn trotz seiner ruhigen, introvertierten Art liebte er die donnernden, schweren, schmetternden Klassikkompositionen von Wagner. So ritt er nun mit den Walküren durch sein Viertel und fand sich plötzlich im „Chez Boozaulay“ am Tresen wieder.
„Trinkst‘n, Stu?“ fragte ihn Ivan der Wirt, von dem man aufgrund seiner mächtigen Statur und seinem überdimensional großen Kopf annahm, er könnte es leicht mit einem ausgewachsenen Grizzly aufnehmen. Und das musste wahrscheinlich in dieser heruntergekommenen Beiz auch sein, wollte man seine Ruhe vor besoffenen Arschlöchern, die sich wichtig machen mussten um Aufmerksamkeit zu erhaschen. Ivan lächelte nie. Er war starr wie Eis. Trotzdem fand Stu ihn auf seine Art sympathisch, auch wenn ihm bewusst war, dass sie niemals Freunde werden würden. Immerhin gab Ivan ihm was er wollte, solange er zahlen konnte. „Gib mir‘n Bier und irgend‘nen billigen Fusel, der mich vergessen lässt“ erwiderte Stu. Ivan gab ihm zu seinem Bier einen Wodka. „Is‘ aus meiner Heimat, hilft da Tausenden oder wahrscheinlich eher Millionen, zu vergessen“. Stu bedankte sich mit einem kaum zu erkennenden Kopfnicken, trank den Wodka mit einem Zug aus und kippte noch im selben Augenblick einen großen Schluck Bier hinterher.
Ein anderer Gast, den Stu bisher nicht wahrgenommen hatte, fragte ihn, ob er auch von der Arbeit komme und nun trinkt um sich zu entspannen. „Nein, erstens arbeite ich nicht, zweitens bin ich immer entspannt“ antwortete Stu knapp und hoffte, damit seinem Gegenüber sein Desinteresse an einem Gespräch vermittelt zu haben. Der ließ jedoch nicht locker. „Na warum trinkst‘n dann? Irgend‘nen Grund musste ja wohl ham!?“ Stu hasste solche Gespräche, die ja sowieso nur in der üblichen Phrasendrescherei enden. Also überlegte er kurz und antwortete: „Weil ich’s kann!“ Der andere Gast sah ihn verdutzt an, bezahlte und verließ mit einem verachtenden Kopfschütteln das „Chez Boozaulay“.
Ab diesem Zeitpunkt munkelte man, Ivan hätte nach diesem Ereignis für den Bruchteil einer Sekunde seine Mundwinkel einige wenige Millimeter nach oben gezogen, sodass ein Lächeln im Ansatz erkennbar war. Bestätigt hat sich dies jedoch nie. Stu verlangte mehr Wodka und nachdem er die Flasche geleert hatte ging er nach Hause, legte sich glücklich und besoffen ins Bett, sagte laut „weil ich’s kann!“ und schlief lächelnd ein.