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Ich komme aus Großvaters Land oder Wunsch, Indianer zu bleiben
Ich komme aus Großvaters Land oder Wunsch, Indianer zu bleiben
Der Startschuss ist gefallen und alle laufen wir los.
Sag ich, dass wir losliefen? Clarke geht das Rennen wie besessen an als wolle er einen neuen Rekord aufstellen! Ob er das Tempo nahezu eine halbe Stunde durchhalten wird? Ich bezweifele es.
Zu Beginn ist ein Rennen uninteressant, es sei denn, es besteht wie bei Sprintern nur aus Start und Ziel und kaum etwas dazwischen. Für uns Läufer ist wichtig, wie der tote Punkt nach vielleicht 3000 Metern überwunden wird. Das ist in vielleicht acht Minuten der Fall.
Bis dahin will ich Ihnen eine Geschichte erzählen und ich hoffe, sie langweilt sie nicht und lenkt uns nicht zu sehr vom Lauf ab. Denn es geht hier um nichts Geringeres als den Olympiasieg.
Ich will Ihnen meine Geschichte erzählen:
Ich bin Oglala und wuchs auf in der Reservation am Pine Ridge. Als ich zwölf war, starben meine Eltern, was bei mir zu Haus nicht außergewöhnlich ist bei einer durchschnittlichen Lebenserwartung von nicht einmal 45 Jahren.
Ich hatte das Glück, von einer Familie außerhalb der Reservation aufgezogen zu werden und ich nahm den Namen der Zieheltern an, denn die nahmen ihren Auftrag ernst und sie respektierten meine kulturelle Herkunft. Also passte ich mich an und suchte, ihnen ein guter Sohn zu sein. Ich hatte keine Nachteile dadurch, Eingeborener zu sein. So wurde ich Amerikaner.
Schon zu dieser Zeit schafften vor allem farbige Underdogs den sozialen Aufstieg durch Boxen. Sie boxten sich buchstäblich nach oben. Und so begann ich mit dem Training. Das sahen meine Zieheltern nicht gar so gern und ich entsprach ihrem Wunsch und hörte auf zu boxen. Stattdessen wurde ich Leichtathlet, was der Mentalität eines Dakotas näher kam als das - wenn auch - regelgerechte Prügeln.
Nun sag ich Ihnen noch, dass die Dakotas und nicht Ostafrikaner oder sonst wer aus Afrika als die besten Langstreckenläufer der Welt gelten müssten. „Müssten“, weil wir ein Manko in der Sicht der herrschenden Kulturen haben: uns fehlen der Ehrgeiz und auch das Konkurrenzdenken. Wenn wir in Wettkämpfen gegeneinander antreten, bleiben diese immer auf spielerischem Niveau. Triumphe sind eher symbolischer Art wie auch lange Zeit in unseren Stammeskriegen. Da reichte es als Held angesehen zu werden, wenn der Gegner, - der nur in seltenen Fällen ein Todfeind war, - unter Zeugen berührt oder ein Gegenstand des Gegners entwendet wurde.
Hinzu kommt, dass wir es als merkwürdig empfinden, in einem Oval zu laufen als wäre der Teufel hinter uns her. Da spielt die Laufstrecke von ihrer Länge her keine Rolle. Warum sollten Dakotas schneller laufen als Gegner, die ihnen keine Bedrohung darstellen und uns eh nicht einzuholen vermögen, wenn wir es nicht wollen?
Bis ich eben die Leichtathletik entdeckte und selbst Leichtathlet wurde. Und meine Erziehung half mir, gelegentlich meine eigentliche Mentalität zu überwinden. Dann war ich ein weißer Oglala.
Mein erster großer Auftritt sollte vor vier Jahren sein. Die Olympiade war in Europa und ich war dabei als ganz junger Kerl. Mir sind nur noch wenige Namen in Erinnerung und bei den meisten anderen müsste man in die Archive schauen. Geblieben ist die Erinnerung an die deutschen Sprinter, die mit Armin Harry als schnellstem Mann der Welt uns bis dahin sieggewohnten Amerikanern einige Niederlagen beibrachten. Vor allem aber ist die Erinnerung an die schwarze Gazelle Wilma Rudolph geblieben, die eine Kinderlähmung überwunden hatte und jetzt durch Willenskraft die überragende Sprinterin der Spiele wurde.
Und ich wollte nun meine Mentalität im 10000-Meter-Lauf überwinden. Vor allem wollte ich Olympiasieger werden.
Das müssen Sie mir glauben! Wäre ich sonst mit nach Europa gegangen?
Ich hatte gelernt, taktische Rennen zu laufen, um meine Mentalität zu überlisten. Ich lief in dem Rennen Runde für Runde vorneweg, verlangsamte oder beschleunigte, bummelte oder legte einen Zwischenspurt ein wie’s mir gerade gefiel. Kraft und Kondition hatte ich für zwei Rennen hintereinander! Für das Amerikanische Publikum schien der Sieg so gut wie sicher zu sein.
Da geschah es: Gegen Ende der zwanzigsten Runde war das Feld weit auseinandergezogen und vorneweg lief mit mir eine kleine Gruppe von Leuten. Ich weiß es nicht besser als paradox auszudrücken: die ersten wurden überrundet und ich in meiner Mentalität zog einen Überrundeten mit. Mit Beginn der zweiundzwanzigsten Runde, es war ein etwas schärferes Tempo eingelegt worden, waren wir noch vier einschließlich des Überrundeten, - der nun erstaunlicherweise mithalten konnte, - und dieser Läufer hinter mir, den ich mitzog, muss wohl gestrauchelt sein und stürzte. Der Zweite konnte dem Gestrauchelten nicht mehr ausweichen und fiel über ihn und riss gleich den nächsten mit hinab und zwar so unglücklich, dass die Spikes sich in dessen Fleisch bohrten. Ich konnte nicht so tun, als hätt’ ich nicht gemerkt, dass hinter mir etwas Entsetzliches geschehen sein musste. Denn nun schrie ein Mann vor Schmerz und Schreck und, als ich stehen blieb, mich umschaute und dann zu den Gestürzten zurück lief, sah ich, dass einer wie Sau blutete, ein anderer aber schrie.
Derweil donnerten die bis dahin unterlegenen Läufer an uns vorbei und keiner unseres Quartetts erreichte das Ziel. Es war der Sieg meiner Mentalität über die des weißen Mannes und eine weitere Niederlage für Amerika.
Drei Jahre lang sollte ich in Amerika ignoriert werden und ich besuchte zum ersten Mal seit langer Zeit die Reservation, in der ich feststellte, dass die Dakotas wieder an Selbstbewusstsein gewonnen hatten und ich sah meine alten Freunde Tatonka und Tanka, die sich Wolf und Ox nannten, wenn sie die Reservation verließen, denn außerhalb der Reservation sprachen wir Englisch oder was wir dafür hielten. Gelegentlich liefen wir nach indianischem Brauchtum gegeneinander, was ja eher ein miteinander ist. Für die beiden war ich ein Held, für patriotische Amerikaner ein Abklatsch des barmherzigen Samariters. Die meisten Menschen aber vergaßen einfach meinen Namen schon direkt nach diesen Sommerspielen.
Nach drei Jahren begann für mich eine Zeit des Erfolges und Glücks: ich konnte in Kansas promovieren und ging freiwillig zu den Marines. Ich sollte an der Qualifikation für Tokio teilnehmen und ich schaffte die Qualifikation und kam wieder bis in den Endlauf. Ich war kein Favorit, obwohl Rom noch nicht so lang zurücklag, um sich meiner nicht zu erinnern. Um es vorweg zu sagen: meine Bestzeit lag eine Minute unter der des Weltrekordhalters Clarke, einem Australier und der Favorit des Rennens. Wer nie gelaufen ist, weiß nicht, dass diese Minute mehr als eine halbe Runde Vorsprung bedeutete und damit die sichere Niederlage für mich.
Nun haben wir die siebte Runde erreicht und ich muss jetzt den toten Punkt überwinden. Spätestens ab hier fragt sich jeder Läufer, warum er sich eigentlich so schindet.
Nichts, wenn ich es recht überleg, könnt’ jemand verlocken, im Wettrennen um die Gunst der Herren dieser Welt erster oder, wie andere sagen, bester sein zu wollen. Der Ruhm, Erster unter Seinesgleichen zu sein, führt anderntags zwangsläufig zum Katzenjammer, da man es dann wieder beweisen muss, dass man Erster unter Seinesgleichen ist. Sie haben keine Ahnung, wie anstrengend es ist, jeden Tag 10000 m in einer Horde gegen die Uhr zu laufen!
Wenn ich eins in Rom gelernt hatte, dann dies: Abstandhalten zum Vordermann wie zu den Seitenmännern, es zu keiner Berührung kommen lassen. Nicht, dass ich menschliche Berührung und Nähe scheue, aber im Kampf sind sie hinderlich. Und das Prinzip werde ich durchhalten. Ich orientiere mich an Bolotnikov und Halberg. Der hat vor vier Jahren schon die 5000 Meter gewonnen. Sie werden mir verzeihen, dass ich mich ab jetzt nur noch auf meine Vorderleute konzentriere!
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Clarke führt nach zweiundzwanzig Runden und etwa 25 Minuten immer noch. Das Tempo ist immer noch sehr hoch und ihm können mit gebührendem Abstand nur ein Nordafrikaner und ich folgen, der ich eh Abstand halten will bis zuletzt. Mit Beginn der letzten Runde werde ich in einem weiten Bogen an dem Afrikaner vorbeiziehen. Ich fühle, dass ich noch Reserven habe und der Lakota in mir den Amerikaner überwindet: es gilt ein australisches Kaninchen vorm Ziel noch einzufangen. Und ich rase an dem Marokkaner vorbei und flieg auf der letzten Gerade wie ein Falke an Clarke heran. Erst hört er meine leichten Schritte (der Weiße tritt mit seinem gesamten Fuß auf und vergeudet seine letzten Reserven). Nun kann Clarke den Rhythmus meines Atmens hören. Jetzt fühlt er meinen Atem im Nacken und scheint zu resignieren, denn ich flieg an ihm vorbei, verpasse aber den Weltrekord um 10 Sekunden. Wohl nur, weil das australische Kaninchen nichts mehr zuzusetzen hatte. Was keine Schuldzuweisung ist!
Es war ein erster Triumph für die Dakotas über den weißen Mann in diesem Jahrhundert.
Tunkasila tamakoce ematanhan.
Wa lakota!“