Ich sehe Dich
Ich sehe Dich
von Maabra
Ich sehe Dich – siehst Du mich?
Er sah ihr in die Augen. Ihre Nasenspitzen berührten sich sanft. Jede Einzelheit konnte er nun erkennen. Kein klares, kein helles, kein strahlendes Blau war die Farbe ihrer Augen. Es war mehr ein Graublau, matt und mystisch. Ein weißer Punkt schimmerte auf ihrer Pupille – ein Lichtreflex von der Lampe über ihnen.
Ich sehe Dich – siehst Du mich?
Die Menschen neigen dazu, einander oberflächlich zu betrachten. Es gibt keine blauen Augen, grüne Augen, braune Augen – es ist immer eine Komposition aus Allem. Er konnte es ganz genau sehen, so nahe war er. Ihre Regenbogenhaut war keine reine Farbfläche. Sie war unterbrochen von geschwungenen Linien und Ausläufern. Er ließ sich immer weiter in den Bann ihres Farbspiels ziehen. Sein Verstand warf die Angel in seinen Erinnerungen aus, mit einem dicken, fetten Wurm daran und – schnapp – eine prächtige Erinnerung hatte angebissen.
Schnell die Leine einholen ... Als Kind kniete er vor einem Eimer mit Wasser und beschwor mit dem Holzstiel eines Pinsels einen kleinen Strudel hervor. Dann nahm er einen Tropfen roter Farbe und ließ ihn in das Auge des Strudels fallen – in das Auge des Sturms. Die Farbpigmente bildeten geschwungene Ergüsse und veränderten sich in jedem Bruchteil ihrer Existenz. Er mischte einen gelben Farbtropfen dazu und bestaunte die Vereinigung der beiden Seelen. Sie tanzten miteinander. Vor ihm fand der Kreislauf des Lebens statt, ständiges Werden und Vergehen und er konnte einen Augenblick einfangen und konservieren. Er nahm ein weißes Blatt Papier und berührte damit vorsichtig die Wasseroberfläche, um es ihm nächsten Augenblick davon wieder zu lösen. Das Bild glich in seiner Form und Struktur der menschlichen Iris.
Ich sehe Dich – siehst Du mich?
Die roten Äderchen, die ihre weißen Augäpfel durchzogen, glichen roten Flüssen in einer Landschaft aus Schnee und Eis, die aus der Luft fotografiert wurden. Während der Außenrand ihrer Iris filigran gearbeitet war – von ihrem Schöpfer, mit unterschiedlichen Blau- und Grautönen, durchzogen von einzelnen nahezu schwarzen Strichen wie mit einer sehr feinen Tuschefeder gezeichnet, ruhte im Zentrum das Schwarze Loch. Es wollte, dass er sich fallen lässt und ins Bodenlos stürzt, das Tor zu ihrer Seele durchschreitet und sich in ihr verliert. Dabei war er schon in ihr. Sein optisches Abbild stand Kopf auf ihrer Netzhaut und wurde durch die Genialität ihres Gehirns gespiegelt – Schein oder Wirklichkeit?
Er flüsterte ihr ins Ohr: „Die Iris – auch Regenbogenhaut genannt, ist die durch Pigmente gefärbte Blende des Auges und liegt als vorderer Bestandteil der zweiten Gewebsschicht des Auges – Uvea genannt – am Übergang von der Hornhaut zur Sclera. Die Iris reguliert den Lichteinfall in dein Auge. Dies nennt man auch Adaptation. Sie trennt damit die vordere von der hinteren Augenkammer, wobei der Rand der Pupille – der Margo pupillaris –, der Linse aufliegt. Zusätzlich sondern die Gefäße der Iris das Kammerwasser ab. Die Iris setzt mit ihrer Iriswurzel am Ziliarkörper an und lässt in ihrer Mitte eine Öffnung, die Pupille frei. Deren Weite wird unwillkürlich durch die Kontraktion von Muskeln geregelt. Pupillennah führt der ringförmige Musculus sphincter pupillae über seine parasympathische Innervation zu einer Verengung der Sehöffnung, während der fächerförmig an der Hinterseite der Iris verlaufende Musculus dilator pupillae mittels sympathischer Innervation die Pupillenöffnung weitet. Beide bewirken das Pupillenspiel, die unwillkürliche Anpassung an die unterschiedlichen Lichtverhältnisse und regulieren die Lichteinstrahlung ins Auge.“
Ein Zucken riss ihn aus seinem Vortrag. An seiner Angel zappelte ein zweiter Fisch der Erinnerung. In einer Zeitschrift für Verkäufer hatte er gelesen, dass ein guter Verkäufer an dem Pupillenspiel eindeutige Verkaufssignale erkennen konnte. Geweitete Pupillen waren glasklare Kaufsignale und diese musste der Verkäufer nutzen. Er hatte seine Chance genutzt und verkauft. Katze im Sack!
Der folgende Moment war einzigartig und er kostete ihn mit jeder Zelle seines Körpers aus. Er nahm einen Stift, beschriftete ein weißes Etikett und klebte es auf ein Einmachglas, in dem vorher eingekochtes Apfelkompott gelagert wurde. Selbst gemachtes Apfelkompott … Dafür war er bereit zu sterben, allerdings nur, wenn es einen Hauch von Zimt in sich verbarg. Das Glas war mittlerweile mit farblosen, stechend riechenden Formalin gefüllt.
Vorsichtig griff er nach den beiden Augäpfeln, die er geschickt – mit aller Routine – aus ihren Augenhöhlen befreit hatte, durchtrennte bei beiden den Sehnerv mit einer einfachen Nagelschere, kappte damit die letzte Verbindung zu ihrem Gehirn, das schon vor Tagen einen Systemzusammenbruch erlitten hatte und ließ sie wie rohe Eier in das beschriftete Glas gleiten. Ein Schraubverschluss versiegelte seine Arbeit.
Er stellte das Glas, den gläsernen Sarg, wie er es gern nannte, mit ihren Augen zu den anderen in den Schrank hinter sich. Als er die Schranktür beiseite schob, strahlten ihn drei Ebenen voll mit Augen an – blaue, grüne, braune, dunkle, helle, kleine, große, klare, milchige, ... Nur noch zurechtrücken ... Damit er auch lesen konnte, wem er in die Augen sah. Er drehte das Glas bis er die Beschriftung lesen konnte: Die Tänzerin.
Er war ein Sammler. Jetzt mussten sie ihn ansehen – so oft und so lange, wie er es wollte.
Ich sehe Dich und Du siehst mich!
Pforzen, 17. November 2006
Überarbeitet am: 11.06.2008