If you can’t walk, you have to run.
If you can’t walk, you have to run.
Wieder. Schon wieder. Schon wieder hetzte Jara die Straßen ihres monotonen Viertels entlang. Haus an Haus, Minigarten an Minigarten, geputzte Fassaden, ein paar wenige mürrische Gesichter hinter den blitzsauberen Fenstern und den Rüschengardinen.
Schon seit sie vor einer halben Stunde losgelaufen war, wollte Jara nur noch Tränen auf ihrem Gesicht spüren, sich aus vollem Lauf auf eine Wiese am Flusshang werfen, dort liegen bleiben und an nichts mehr denken müssen. Stattdessen hastete sie kopflos die Gassen entlang, getrieben von diesen unsäglichen Gedanken und den lebhaften Bildern in ihrem Kopf.
Kurz nach ihrem Aufbruch wäre sie fast mit voller Absicht gegen einen Laternenmast gelaufen, wenn nicht zuerst einer ihrer schweren Schuhe ungebremst mit diesem zusammengestoßen wäre. Der heftige Aufprall brachte sie wieder halbwegs zur Besinnung und sie lief weiter.
Ab und zu schloss Jara die Augen, in der Hoffnung, dass der Film vor ihrem Gesicht dadurch verschwinden würde. Den Gefallen tat er ihr natürlich nicht, sondern trat noch deutlicher hervor, und mit jedem Detail sah sie den vergangenen Vormittag und fühlte sich dabei, als würde ihr ein Messer in den Magen gestoßen und dort langsam hin- und hergedreht.
Wie in einem Kinderkarussell kreisten die Sätze in ihrem Kopf, von denen sie jedes Mal an Tagen wie diesen geplagt wurde:
„Wozu hast du dir Hoffnung gemacht?“
„Wieso bekommst du den Mund nicht auf?“
„Das kann doch nicht so schwer sein.“
„Richtiger Zeitpunkt – richtiger Ort – gelähmtes Hirn“
„Warum ich?“
„Warum er?“
Und auf dem selben Jahrmarkt lief gleichzeitig ein zweites Karussell, das ihr die Bilder der verpassten Chancen zeigte und sie all die nichtgesagten Sätze hören ließ. Immer schneller wirbelten die Drehscheiben, bis alles zu einem riesigen Farbenwirbel verschmolz und sich schließlich die Bestandteile lösten, ineinander krachten und miteinander friedlich im Chaos versanken.
Ungefähr zeitgleich erreichte Jara die Brücke über den Landgraben und wechselte innerhalb von wenigen Millisekunden von gehetztem Lauf zu völligem Stillstand.
Wasser. Fließen. Ruhe. Sie wusste nicht warum, aber dieser Ort strahlte eine seltsame Ruhe aus, von der sie glaubte, dass nur sie allein diese gerade dort empfand. Sie stieß sich von der niedrigen Steinmauer ab, die wohl ein Brückengeländer ersetzen sollte und betrat den schmalen Pfad links neben dem Graben. Er war wie fast immer völlig verschlammt und die Brennnesseln wucherten am Hang wie eh und je. Wie in Trance bewegte sich Jara auf die Steinstufen zu, die hinab zum Wasser führten, überwand drei von ihnen und ließ sich knapp über dem Eis auf ihnen nieder.
Sie wusste nicht, wie lange sie dort saß und es war ihr auch ziemlich egal. Die wenigen Menschen, die vorbeikamen, interessierten sich nicht für sie, sahen sie wahrscheinlich auch nicht und sie war froh darüber. Einmal schien sich jemand zu fragen, was sie da machte, doch sie reagierte mit stoischer Nichtbeachtung.
Als sie schließlich wieder aufstand, hatte sich ein schwerer Nebel aus Wasser und Staub über den eingestürzten Jahrmarkt gelegt.