- Beitritt
- 01.01.2015
- Beiträge
- 1.085
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 33
Igel unterm Hut und Familienmagie
Im Morgennebel lässt sich Adalbert das Frühstück von einem ehrfürchtig schweigenden Spatzenschwarm servieren. Das Lagerfeuer flackert in sicherer Entfernung und wärmt ihn. Bedächtig, ja zärtlich streicht er über die noch kahlen Äste des Haselbusches, doch der Strauch will frei schwingen, entwindet sich ihm. Sein Blick fällt auf sein jetziges Zuhause - die morsche Gartenhütte in Kasulkes verwildertem Garten.
Ein leises Rascheln im Gras hinter ihm. Er legt den Kopf schief. Lauscht. Unruhig schaut sich der Waldschrat nach seinem Igel um. „Paul?“ Ein Blick unter den speckigen Lederhut, der von Morgentau benetzt auf der Wiese liegt. Kopfschütteln. Er stemmt seine Hände auf die Knie, schraubt sich hoch, wächst fast aus der Erde. Im Aufstehen greift er nach dem Lederhut und verankert die langen Beine auf dem Boden. „Paul, hast du jemanden im Garten gesehen?“ Das Geräusch eines tiefen Einatmens lässt ihn in Richtung Feuer zurückweichen und schon fliegen, begleitet von einem dreifachen Niesen, Igelstacheln durch die Luft. Einer fährt durch Adalberts Hose, einer in seine Haare, der Rest zum Glück nur ins Gras. Er tritt ein, zwei Schritte dichter ans Feuer. Erst dann nimmt er von den Spatzen die letzte Runde Körner entgegen. Ein Klatschen in seine riesigen Hände entlässt den Schwarm.
„Da hängt einer!“ Mit hysterischer Stimme, über ihre eigenen Füße stolpernd, nähert sich Laura Lane dem Waldschrat.
Adalbert hat die Frau schon gerochen. Ständig pflückt sie Kräuter ab. Heute steigt ihm der Duft von Schafgarbe in die Nase. Sie zeigt hektisch mit den Fingern in Richtung des Walnussbaumes, trippelt dabei von einem Fuß auf den anderen und merkt gar nicht, dass sich der Kräuterstrauß in ihrer Faust auflöst. Missbilligend sieht Adalbert den rieselnden Blättern hinterher.
„Was soll das Abrupfen, wenn Sie nichts damit anstellen?“ Die Lippen fest zusammengepresst, schaut er ihr ins Gesicht. „Ich denke, Sie sind Expertin?“ Schulternzuckend dreht er sich um und will in den Gartenschuppen verschwinden.
„Warten Sie!“ Laura greift nach seinem Arm. Langsam dreht sich Adalbert zu ihr um, den Blick auf ihre Hand gerichtet. Lauras Augen weiten sich, sie zieht die Hand weg. Ihr Atem geht hektisch. Dann strafft sie sich und zeigt mit leicht zitternden Fingern in den hinteren Gartenteil.
„Der Mensch dort erstickt, seine Ohren sind dunkelrot und er zuckt spastisch.“ Obwohl ihre Stimme nur dünn und stockend klingt, macht sie einen Schritt auf ihn zu. Sie legt ihren Kopf in den Nacken, um Adalbert in die schwarzen Augen zu schauen. Unbewusst reibt sie sich über die Arme, wobei noch mehr Blätter zu Boden segeln. Adalbert nickt und deutet auf die Brennnesselblätter.
„Dann sollten Sie vielleicht noch ein bisschen Weidenrinde dazutun und ihm schon mal einen Tee gegen Kopfschmerzen kochen. Ich schneid ihn jetzt runter.“ Mit diesen Worten zieht er eine Machete aus dem rissigen Rahmen der Schuppentür. Ein Schnaufen, ein tiefes Einatmen und Adalbert kann gerade noch reagieren. Er reißt die Tür auf und bringt sie zwischen sich und das deutliche Niesgeräusch. Laura schaut ihn fragend an. Bedächtig schließt er die Tür und weist mit dem Kinn auf die nun dort steckenden Igelstacheln. Lauras Augen werden noch größer.
„Paul hat ein Haltungsproblem. Also eher die Stacheln.“ Adalbert nimmt den Igel auf. „Bei der kleinsten Erschütterung verliert er sie, Niesen ist besonders schlimm." Zärtlich streicht er über den fast nackten Igel und setzt ihn sich auf den Kopf. Lederhut drüber und schon stakst er Richtung Walnussbaum. Ein Blick zu Laura lässt diese zögern.
„War da sonst wer im Garten, haben sie etwas Ungewöhnliches gesehen oder gar gespürt?“ Laura schüttelt den Kopf.
„Warum hängt er da? Mit dem Kopf im Abfall.“ Laura tritt zaghaft näher, aber Adalberts ausdruckslose Mine lässt sie verharren.
„Hat Müll in meinem Wald entsorgt. Strafe muss sein.“ Mit einem harten Schnitt durchtrennt Adalbert das Hanfseil. Der Kopf des Menschen verschwindet in einem Haufen aus verfaultem Obst, Folien und Pizzakartons. Es knackt vernehmlich, der Körper sackt in sich zusammen. Ohne Worte packt Adalbert ihn am Jackenkragen und setzt ihn auf den Müllberg.
Dem dunkelroten Gesicht entringt sich ein Schnaufen. Der Mann öffnet den Mund, schaut hilfesuchend zu Laura auf und versucht seine Stimme wiederzufinden.
„Halts Maul!“ Adalbert schüttelt ihn kräftig, so dass schimmeliger Kaffeesatz, Quarkbecher, Wurstpelle und etwas Glitschiges, stark nach Fisch Riechendes, von dem Mann herunterrutscht. „Einsammeln!“ Dabei drückt ihm Adalbert einen Jutesack in die Hand und zeigt mit seinen knochigen Fingern auf einen zweiten Sack. „Deinen Müll aus dem Stadtwald auch gleich und dann verpiss dich!“ Ohne weiteren Kommentar dreht sich der Waldschrat um. Laura macht ihm Platz, immer noch die Hand vorm Mund. Mit weitausholenden Schritten strebt Adalbert zurück zum Gartenschuppen.
Endlich geht die Sonne auf und ihre ersten Strahlen tauchen die windschiefe Hütte in ein warmes Licht, der Rauch aus dem Lagerfeuer riecht nach Kiefer. Ein Kontrollblick auf das Feuer innerhalb des Steinkreises. Adalbert zögert, dreht sich einmal um sich selbst. Ja, diese WG mit seinem abgeschiedenen Plätzchen hier im Garten fühlt sich gut an, wenn es auch kein wahrer Ersatz für seinen Wald ist. Oder für Familie. Er spürt deutlich, dass ihm nicht mehr viel Zeit bleibt.
„Frau Lane?“
Sie fährt erschrocken herum. Ihr Gesicht verliert alle Farbe, als sie Adalbert auf sich zukommen sieht.
„Kennen Sie sich mit Wäldern aus?“
Laura schüttelt ihren Kopf und versucht stotternd zu antworten. Sie weicht zurück.
„Ich will Ihnen nichts.“ Adalbert hebt die Hände und verharrt.
„Kasulke lässt mich nicht mehr an seine Bücher, letztes Mal steckten wohl ein paar Stacheln in den Buchrücken.“
Laura Lane kommt eifrig auf ihn zu. „Ich helfe wirklich gerne, was soll ich nachschlagen?“
Adalbert schaut betreten auf den Boden. „Mein Großvater hat einmal erwähnt, dass der Wald stirbt, wenn ein Waldschrat geht …“
„Oh!“ Ihr will keine Antwort einfallen.
„Ich muss wissen, wie ich es verhindern kann.“ Er wendet sich ohne weitere Worte ab. Schon halb in der Hütte, dreht er sich um, blickt angestrengt in den hinteren Teil des Gartens und flüstert: „Und welche Gefahr von einem wildgewordenen Schrat ausgeht?“
Das Knirschen von Kieseln lässt ihn Richtung Haus schauen. Adalbert hört leisen, monotonen Gesang – das wird Kevin sein. Er nutzt meist den Hintereingang, wenn er Adalbert morgens besuchen kommt. Schon ein seltsames Gespann.
„Na, pennt er noch?“, Adalbert weist mit dem Kinn auf Kevins linke Hand, die dieser fest an sich presst. Der junge Mann ist verwachsen mit der Hand eines, wenn man der Gerüchteküche trauen kann, nicht wirklich unbescholtenen Adligen.
Kevin nickt, streichelt vorsichtig über die Decke, in die er seine Hand und somit den Grafen eingewickelt hat. Leise summt er die letzten Silben: „… ob du nen Mädel hast oder hast keins.“ Mit der rechten Hand streckt er Adalbert einen Pott heißen Kaffee entgegen.
Adalberts Mundwinkel zuckt. „Guter Junge!“ Genussvoll zieht er das Aroma des Kaffees ein und setzt sich bedächtig auf den Kirschstamm.
„Ich kann Ihnen aber auch Kaffeemehl rausbringen, das Feuerchen ist doch perfekt zum Wasser kochen.“
Adalbert reißt die Augen auf. Beim energischen Kopfschütteln verrutscht sein Hut und wäre fast, mit samt des darunter schlafenden Paul, abgestürzt. Ein fester Schlag auf den Hut, das erschreckte Quicken des Igels und ein Grummeln von Adalbert zeigen deutlich, was er davon hält.
„Nee, lass mal, Feuer ist heiß!“
„Sag mal, könntest du heute mitkommen?“ Adalbert überlegt, ob Kevin ihm wirklich eine Hilfe sein wird.
„Echt? Bisher wollten Sie mich doch immer so schnell wie möglich wieder loswerden.“ Kevin grinst schief.
Dann fällt sein Blick auf die linke Hand oder besser gesagt die schwarze Decke, die diese verbirgt. „Öhm …! Und was machen wir mit Graf Gilles?“ Sein Gesichtsausdruck schwankt zwischen besorgt und bange.
„Eigentlich wär es heut gar nicht schlecht, so einen handfesten Typen wie Gilles dabeizuhaben. Sorg mal dafür, dass er noch frühstückt und dann gehts los.“
Während Kevin sich mit dem Grafen Gilles Richtung Küche bewegt, dringt das Patschen nackter Füße an Adalberts Ohren. Er lauscht. Ein leicht hohles Stampfen – Terrasse mit Holzbohlen, ein feuchtes Platschen – Natursteintreppe, harsches Knirschen – der Kiesweg. Als er den riesigen Mann vor Wochen zum ersten Mal von weitem gesehen hat, glaubte er, sein Bruder wäre erschienen, um es zu beenden. Adalbert weiß, dass nichts an dieser endgültigen Konfrontation vorbeiführt. Aber Roslav ist sein Bruder. Die Trittgeräusche werden leiser, es knackt und raschelt, abschließend das Geräusch von plätscherndem Wasser. Adalbert grinst. Er ist nicht der einzige WG-Bewohner mit dem Bedürfnis, sich nicht ständig brav auf die Toilette zu hocken. Dank der Frauen im Haus ist die Badordnung streng. Er versteht den Kyklopen gut. Allein für das allnachmittägliche Klavierspiel hat Rod einiges gut bei ihm, Bäumedüngen inklusive.
Kevin geht rückwärts vor Adalbert her, nein, genau genommen tänzelt er. Offensichtlich ist nicht jeder Teil von ihm mit dieser Fortbewegung einverstanden, denn er verzieht immer wieder schmerzhaft das Gesicht. Vielleicht hat er sich auch vor Aufregung die Hände gerieben. Das mag die linke Hand gar nicht.
„Wo wollen wir hin?“ Fast wäre Kevin über einen entgegenkommenden Hund gestolpert. Adalbert hält ihn mit festen Griff in die Cordjacke und lässt ihn nach ein paar Sekunden Schweben wieder auf den Gehweg hinunter. „Und warum gucken Sie sich andauernd um? Suchen Sie jemanden?“
Adalbert tut, als hätte er die Frage nicht gehört. „Kontrollgang!“, ist alles was Kevin zu hören bekommt.
Eine ausladende Eiche begrüßt die beiden im Königsforst. Adalbert blickt skeptisch den Hauptweg entlang.
„Pass ein bisschen mit auf, wenn du jemanden siehst, einen Großen, sag sofort Bescheid!“
Noch ein Blick zurück. Erst dann schaut er anerkennend in die Baumkrone, streichelt im Vorübergehen einen Buchenstamm, bückt sich nach einem morschen Ast und trägt ihn ins Unterholz. Ein Buchfink landet auf seinem Arm und stimmt ein Lied an. Kevins Staunen lässt den Waldschrat innehalten.
„Dies ist mein Reich …“
Lautes Johlen, Kinderstimmen und Kreischen lassen ihn verstummen. Sein Lächeln vergeht, als einige Kinder sich mit Stöckern attackieren. Es dauert nicht lange und sie schlagen aus Freude am Lärm auf die Bäume ein, zertreten dabei die Schösslinge am Grund der Stämme und wälzen sich lachend durch das nächste Gebüsch. Adalberts Augenbrauen kriechen zusammen, die Knopfaugen verschwinden fast in ihren Augenhöhlen und er stößt unwirsche Töne aus. Knapp kann Kevin dem Gefuchtel der langen Arme ausweichen, doch dann bleibt ihm der Mund offenstehen. Während Adalbert neben ihm mit seinen Händen ein unsichtbares Orchester zu dirigieren scheint, beginnen die Büsche und biegsamen Äste auszuholen. Sie peitschen durch die Luft, schlängeln sich unter den Kindern hervor und schieben diese aus dem Gehölz. Der ein oder andere Knirps bekommt bei dem Geschubse noch einen Hieb auf den Allerwertesten. Die Kinder laufen schreiend auf die Erzieherinnen zu. Kevins linke Hand zeigt ihnen hinter seinem Rücken den Mittelfinger, doch Adalbert drängt ihn in die entgegengesetzte Richtung weiter, leise vor sich hin pfeifend. Ein Zaunkönig umschwirrt seinen Kopf, landet mit einem Triller auf dem Hut und kuschelt sich in die Krempe.
Adalbert hat den Weg verlassen und führt Kevin durchs Unterholz auf eine Lichtung. Das in Hügeln gewachsene Moos strahlt Ruhe und Kraft aus. Kevin staunt, als es unter Adalberts Schritten ergrünt, sich dehnt und streckt. Die Birke in der Mitte der ansonsten baumfreien Fläche reckt Adalbert die Zweige entgegen und dieser greift lächelnd hinein. Er legt ein Ohr an den Stamm, winkt Kevin herbei, es ihm nachzumachen. Ein Rauschen, ein Plätschern, die pure Kraft des Baumes bringen den jungen Mann zum Lächeln. Selbst seine linke Hand verweilt entspannt auf dem Birkenstamm.
„Dies ist mein Wald. Oder war es …“ Adalbert wirft einen vorsichtigen Blick in die Runde, horcht.
Mit seiner hallenden Stimme fragt der Graf aus Kevins Mund: „Was ist passiert, mon amie?“
Adalbert streicht sich über die Bartstoppeln, schaut tief in den Wald hinein und drängt weiter.
„Lass uns an den Fichten noch schnell ein paar Holzbocklarven einsammeln.“
„Sammeln?“ Kevin schüttelt den Kopf. „Hatten Sie mir nicht gezeigt, wie tief sich die Mistviecher ins Holz bohren?“
„Jo, aber in diesem Wald ist das anders.“ Adalbert stapft auf einen Fichtenbestand zu. „Siehst du die toten Stämme? Seitdem ich weg bin, breitet sich diese Pest ungebremst aus.“
Adalbert legt seine Hände behutsam an einen der geschädigten Fichtenstämme. Eine große Borkenplatte ist abgefallen, man sieht Fraßgänge und totes Holz. Kevin traut seinen Augen nicht. Der Baum schüttelt sich, anders lässt sich das Vibrieren nicht erklären. Und dann muss Kevin würgen. Aus allen Löchern quellen weiße, pralle Larven. Winden sich hervor, versuchen dem Baum zu entkommen. Mit leisem Ploppen fallen sie wie Regentropfen ins Gras. Adalbert sieht eine Papiertüte aus dem Mantel und reicht sie Kevin.
„Fang an zu sammeln, Zimmer 7 wird sich freuen.“
„Nee, die sind eklig, so was fass ich nicht an.“
Adalbert runzelt die Stirn. „Graf, wie schaut’s mit Euch aus?“
Kevins Mund antwortet: „Kein Problem, C’est simple comme bonjour!“ Kevin bückt sich mit zusammengekniffenen Lippen, seine Hand öffnet die Tüte und die linke Hand beginnt die fetten Larven einzusammeln. „Immer gut einen Snack parat zu haben, ganz traue ich dem verfressenen Raum nicht über den Weg“, hallt es.
Kurz vorm Einbiegen in die Straße, in der Kasulkes Villa und somit ihre WG der etwas anderen Art liegt, passieren Adalbert und Kevin einen kleinen Park. Es ist bereits dämmerig und abseits vom Hauptweg hören sie dumpfe Schlaggeräusche. Adalbert stutzt, beginnt zu knurren und stürzt los. Kevin kommt kaum hinterher. Da sind zwei Männer und einzelne Wörter wie „Brennholz“ und „Beeil dich“, dringen an ihre Ohren. Während Kevin noch von einem zum anderen schaut, holt Adalbert einfach aus und schlägt dem ersten Mann mit der senkrechten Faust auf den Schädel. Der Typ sackt tonlos in sich zusammen. Sein Kumpel steht mit offenem Mund da, schnappt nach Luft und blickt zwischen der Säge in seiner Hand und Adalbert hin und her. Dann wirft er die Bügelsäge mit aller Kraft in Adalberts Richtung und läuft auf dem kürzesten Weg aus dem Park.
Kevin reißt dem gestürzten Holzdieb die Axt aus der Hand und fährt vorsichtig über die Schneide.
Mit hallender Stimme äußert sich der Graf. „Lass sie uns mitnehmen, die Axt im Haus ersetzt doch irgendwen.“
Adalbert zittert am ganzen Leib, schwankt, umschlingt sich mit den Armen und macht einen Schritt auf den gefällten Holzfäller zu. Und wieder zurück. Noch einen bedrohlichen Schritt. Dann endlich löst er sich aus der Trance. Mit zusammengekniffenen Augen schaut Adalbert auf das Werkzeug und erschaudert. „Sowas kommt mir nicht in die Hütte. Park sie bei dir, Graf Gilles.“
Schweigend gehen sie weiter. Nach zwei Straßen schaut Kevin zu Adalbert auf. „Ist das mit Ihrem Wald passiert? Abgeholzt?“
Adalbert kneift die Augen zusammen, runzelt die Stirn. Und schweigt. Kevin zieht den Kopf ein.
„Nein, mein Bruder hat seinen Wald verraten und verloren. Er hat nicht verhindert, dass er abgebrannt wurde.“ Schweigen. „Und dann hat er mich vertrieben.“ Ganz leise setzt Adalbert den Satz dazu.
„Ja, Familie kann man sich nicht aussuchen. Da ist mir sogar der Graf lieber.“ Grinsend versucht Kevin die trübe Stimmung aufzulockern.
„Auf Vertrauen, Hilfe und Liebe beruht die Magie der Familie, die das Recht auf Kraft und Macht über die Natur verleiht.“ Adalbert rezitiert die Sätze, wie etwas vor langer Zeit auswendig Gelerntes.
Kevins linke Hand schwingt die Axt und täuscht einen Angriff auf die Blutbuche vor, an der das Grundstück der Villa beginnt. Adalberts Blick wandert den Gehweg hoch und runter, schweift über die Sprossenfenster des Hauses. Er legt Kevin eine Hand auf die Schulter und mahnt: „Ich würde Ihnen nur ungern weh tun, Graf.“
Verlegen schaut Kevin zu Adalbert auf. „Er meint es nicht so, nie würde er diesem alten Baum etwas tun.“ Zärtlich tätschelt er die silbrige Rinde.
Adalbert mustert ernst die Buche. Ob es möglich ist, einen neuen Stammbaum zu erringen? Würde das seine Macht erhalten? Aber was passiert mit dem Königsforst? Und genügt es, seinem Bruder aus dem Weg zu gehen?
„Ich danke Euch Graf und dir Kevin. Es war gut, euch heute dabei zu haben.“
Adalberts Blick schweift durch den verwilderten Garten, an dessen Eingang sie stehen. Keiner der Büsche winkt, der Nussbaum hinten im Garten rauscht still vor sich hin, auch von den Blumen im Rasen kommt kein Willkommen. Ein tiefes Ausatmen, er fühlt sich einsam.
Doch dann klopft Kevin ihm im Vorbeigehen auf den Arm und mit der tiefen Stimme des Grafen sagt er: „Gerne wieder, auf uns kannst du dich verlassen.“ Verwirrt und kopfschüttelnd starrt er den beiden hinterher, als sie durch den Hintereingang verschwinden.
Gedankenverloren stapft Adalbert auf seine Gartenhütte zu und bleibt überrascht stehen, als er einen irritierenden Geruch wahrnimmt. Mit zusammengekniffenen Augen schleicht er näher. Noch einmal tief einatmen und den Geruch prüfen: Äpfel mit Zimt und einem Hauch von Marzipan, das ist garantiert nicht Roslav.
Auf dem wackeligen Dreibein sitzt Laura Lane vor der Hütte und blättert vorsichtig in einem Buch. Einem sehr großen und anscheinend sehr alten Buch. Als er sich räuspert, versucht sie erschrocken aufzuspringen, stolpert, verharrt halbsitzend und hält mit großen Augen das Buch fest. Adalbert winkt ab. „Bleiben Sie sitzen!“
Laura atmet auf. Sie öffnet den Mund und schließt ihn wieder.
Adalbert schaut sie skeptisch an, unentschlossen, ob es eine gute Idee war, ausgerechnet die seltsame Kräuterkundige mit ihrem Halbwissen in die Bibliothek zu schicken. Andererseits, sie ist ihm immer offen begegnet, nie ablehnend. Und ein gesundes Maß an Angst hat noch niemandem geschadet.
„Was gefunden?“ Im Vorbeigehen greift er nach der Rosenschere, die auf einem Dachbalken liegt. Er kann jetzt nicht stillstehen. In langsamen Schritten umkreist er den knorrigen Apfelbaum neben der Hütte. Immer wieder wirft er fragende Blicke zu Laura Lane und analysiert gleichzeitig das verwachsene Gestrüpp aus alten Ästen und wilden Wassertrieben. Laura folgt ihm mit den Augen. Adalbert setzt an einem Büschel aus engstehenden Zweigen an und entfernt alle, außer einem dicken, der nach außen ragt. Dann setzt er zum Einkürzen des Hauptastes an, zögert und schaut noch einmal zu Laura. „Nun?“
Sie atmet noch einmal bewusst ein und beginnt zu berichten. „Es gibt so gut wie nichts über Waldschrate und ihre Macht. Ich habe auch online recherchiert, genaugenommen sind es alles Sagen und Überlieferungen.“
„Unsere Allehrwürdigen wussten Geheimnisse noch zu hüten.“ Mit der Rosenschere in der Hand zeigt er auf das Buch.
„Ja, hier im Waldmagie-Buch gibt es einen kurzen Bericht, dessen Glaubwürdigkeit aber nicht geprüft werden konnte.“
„Lassen Sie hören!“ Adalbert konzentriert sich wieder auf den Apfelbaum, kommt aber näher an Laura heran, um kein Wort zu verpassen.
„Es ist extrem verschroben geschrieben, aber zusammengefasst heißt es wohl, dass es nur einen Meister oder Hüter des Waldes geben kann. Die völlige Macht erhält ein Waldschrat erst, wenn der vorherige Hüter nicht mehr unter den Lebenden weilt.“
Adalbert erblasst sichtlich.
„Wollen Sie jemanden umbringen?“
„Nein, ich nicht! Gibt es nur diesen Weg?“
„Hier steht noch was von ‚Nicht selbst Hand anlegen‘, aber eindeutig mit demselben Ergebnis.“
Mit dem Einsammeln und Aufschichten der bisher abgeschnittenen Äste und Zweige neben der Hütte drückt sich Adalbert vor einer Reaktion. Doch dann lässt es sich ins Gras sinken. Sofort kommt Paul unerwartet schnell auf ihn zugelaufen und stupst die Manteltasche, auf der Suche nach einem Leckerli, an. Lächelnd reicht Adalbert ihm einen schrumpeligen Apfel.
Er schaut zu Laura, jetzt in Augenhöhe mit ihr.
„Steht da irgendetwas von einem neuen Revier, wie man ein neues Reich erobert, friedlich?“
„Nein! Hier gibt es nur noch ein Zitat: ‚Auf Vertrauen, Hilfe und Liebe beruht die Magie der Familie, die das Recht auf Kraft und Macht über die Natur verleiht‘ Als sie zu Adalbert sieht, merkt sie, dass er die Worte tonlos mitspricht. Er lässt den Kopf sinken.
Laura steht vorsichtig auf, den wertvollen Band fest im Arm. Kurz zögert sie, verabschiedet sich dann aber doch und geht in Richtung Villa.
Sie ist schon fast außer Hörweite, als ein leises „Danke!“ zu ihr hinweht.
Kevins Stimme schallt durch den Garten. „Adalbert, Besuch für Sie, vorm Haus!“ Er setzt Paul vorsichtig unter seinen Hut und wirft im Vorbeigehen die letzten Äste unter den Hasel. Dann schlendert Adalbert zur Straße.
Mit festen Schritten tritt er in die Auffahrt. Und bleibt wie festgewachsen stehen.
Ohne die hochgewachsene Gestalt, einen wesentlich älter wirkenden Waldschrat, aus den Augen zu lassen, winkt Adalbert Kevin ins Haus. Der junge Mann zögert, schaut fragend. Unwirsch wird er von Adalbert weggeschickt.
„Roslav!“ Adalbert nickt seinen Bruder knapp zu. Beobachtet ihn.
„Na, da hast du es dir ja bequem gemacht? War nicht einfach, dich aufzuspüren.“ Roslav zeigt spöttisch auf die Villa.
Die beiden Waldschrate umkreisen sich vor dem Durchgang in den Garten. Die Fliederbüsche an der Grundstücksgrenze peitschen unruhig mit den Ästen. Die Gänseblümchen ducken sich ins Gras.
„Was willst du noch?“ Adalbert knurrt regelrecht.
„Oh, das weißt du. Du musst gehen, weit weg und vor allem für immer!“
Adalbert schüttelt langsam den Kopf. „Es ist mein Wald.“
Roslav grinst und nimmt lässig die goldene Taschenuhr ihres Vaters aus der Jackentasche. Ein knapper Blick nach der Uhrzeit. „Ich bin der Ältere, ich habe mehr Macht. Allerdings wird der Königsforst erst auf mich hören, wenn du verschwunden bist oder einfach … tot.“
Adalbert strafft sich. „Du bist mein Bruder!“
Der winkt ab. „Familie wird überbewertet.“
„Nein, unser Glaube an solche Werte wie Familie hat uns erst die Macht gegeben, die Natur zu verstehen und zu lenken.“
Erstaunt schaut Roslav ihn an. „Glaubst du die alten Mythen wirklich?“
„Warum machst du denn keinen Wald mehr glücklich, seitdem du Vater vertrieben hast?“
Roslav zuckt nur mit den Schultern. „Schluss jetzt. Du musst gehen!“
„Warum konnten die Menschen deinen Wald abfackeln?“
„Ich werde es ihnen schon noch heimzahlen. Auch Häuser brennen ganz gut.“ Er zieht ein großes Zippo aus der Manteltasche und schaut mit einem Lächeln auf Kasulkes Villa.
Adalbert ist zurückgewichen, steht jetzt in der Fliederhecke und lässt sich von den steif aufragenden Zweigen umarmen. Ohne Roslav aus den Augen zu lassen, nimmt er seinen Hut ab und setzt Paul ins Laub. Er schubst ihn geradezu in die Heckenmitte.
„Bring dich in Sicherheit“, flüstert er ihm zu.
Dann stellt er sich mit einem großen Schritt zwischen Roslav und das Haus.
„Ich werde nicht gehen! Du hast Vater dem Tod ausgeliefert, Mutter ins Exil getrieben und mindestens drei Wälder unerlaubt übernommen – es reicht!“ Seine Stimme zittert, er schwankt, aber er hält dem Blick seines Bruders stand.
Roslav zieht eine Garrotte aus Kupfer aus der Manteltasche und zeigt sie grinsend vor. Er greift noch einmal nach der Taschenuhr, kontrolliert die Zeit. Ein Blick Richtung Straße. Seine Augenbrauen zucken hoch. Sofort wendet er sich Adalbert zu und fragt: „Glaubst du wirklich, dass du alleine eine Chance gegen mich hast? Es gibt hier nur noch uns beide.“
Adalbert blickt über seinen Bruder hinweg auf den verwilderten Garten. Der Hasel an der Gartenhütte reckt sich ihm entgegen, die Knospen des Scharbockskrautes strahlen ihm zur Begrüßung gelb entgegen. Selbst der knorrige Apfelbaum hat sich nach dem ersten Schnitt seit Jahrzehnten wieder berappelt und winkt.
Sein Blick streift kurz die Villa, fällt dann auf Roslavs grinsendes Gesicht. Langsam schüttelt Adalbert den Kopf. Er will hier nicht weg. Nicht noch einmal weichen. Er holt tief Luft, setzt zu einer Rede an, als ihm ein Schmerz durch den Körper fährt. Aufkeuchend dreht Adalbert seinen Kopf zur Einfahrt, sein Blick umfasst die Hunderte von Jahren alte Blutbuche, seinen neuen Stammbaum. Was ist passiert?
Direkt am Stamm steht ein junges Pärchen, eng umschlungen und kichernd. Wieder zuckt Adalberts Körper unter den Schmerzen. Heulend dreht er sich um und hastet auf die Einfahrt, die Buche zu.
„Nein!“ Der laute Schrei lässt den jungen Mann herumschwenken, seine Freundin im Arm. In der Hand ein Messer. Und in der Rinde der Buche ein frisch eingeschnitztes Herz. Der Anblick des Messers lässt Adalbert kurz stutzen, er kennt es. Doch dafür ist jetzt keine Zeit, der Kerl zuckt nur mit den Achseln, dreht sich zurück und setzt an, weitere Zeichen in die Rinde zu schneiden. Adalbert erreicht ihn, reißt ihn zu Boden und entwindet ihm das Messer. Dabei verfängt sich die Umhängetasche des Kerls zwischen ihnen, das Mädchen springt kreischend beiseite, Menschen bleiben stehen. Auf der anderen Straßenseite lächeln sich zwei Männer zu, einer hat eine Kamera dabei und zeigt den erhobenen Daumen.
Doch nichts davon bekommt Adalbert mit. Er kniet brüllend über dem Mann, das Messer in der Hand, fuchtelt mit Armen und Händen. „Das tut weh, so weh!“ Das tiefe Dröhnen seiner Stimme lässt alle erstarren. „Ich werde dir zeigen, wie es ist, wenn man jemandem etwas einschnitzt.“ Er senkt das Messer, der Kerl am Boden schreit heulend auf und seine Freundin wimmert.
Zischelnd ruft Roslav ihm: „Ja, Bruder! Zeig´s ihm, mach ihn platt“, hinterher. Roslav kommt näher, passt aber auf, dem Kamerateam nicht die Sicht zu verstellen. Ein kurzes Winken des Reporters bestätigt, dass es perfekt ist.
Das Kreischen des jungen Mannes will nicht verebben, er versucht rückwärts zu entkommen. Seine angewinkelten Beine scharren fruchtlos auf dem Boden.
Jetzt baut sich Roslav im Sichtbereich der Kamera auf und beginnt laut auf Adalbert einzureden. „Bleib ruhig!“ und „Wir dürfen Menschen nicht verletzen.“ Er streicht kurz seine Haare zurück, ein Blick zu den Reportern. Dann packt er Adalbert am Ellenbogen. Reißt dessen linken Arm mit Schwung nach hinten, sodass er auskugelt. Den überlangen Arm am Ellenbogen gegen sein Knie drückend, schaut er triumphierend Richtung Kamera. Doch Adalbert ignoriert das Knacken der Knochen, als der Arm unter dem Gegendruck bricht. Roslav wirft mit Schwung die kupferne Garrotte um Adalberts Hals und versucht das zweite Ende zu fassen. Adalbert wütet noch immer über dem jungen Mann. Dessen Kreischen ist zu einem Wimmern verhallt, seine Beine zucken unter Adalberts Druck.
Mit den Worten: „Lass ihn am Leben!“, reißt Roslav seinen Bruder von dem Baumschnitzer herunter, darauf bedacht, den Blick auf den blutigen Körper nicht zu verstellen. Er stutzt. Da ist kein Blut. Der Kerl hält eine zerschnittene Ledertasche im Arm, streichelt mit verheultem Gesicht darüber und jammert immer wieder die Worte „Meine Buckle, meine Buckle …“
Roslavs Gesicht läuft rot an. „Mach den Typen kalt, verstoß gegen alle Gesetze …“ Er spricht schnell, gestikuliert, reißt Adalbert das Messer aus der Hand. Wutschnaubend fährt er dem am Boden liegenden Mann durchs Gesicht. Kreischen, Blutspritzen und das arrogante Tönen Roslavs Stimme: „So macht das ein echter Waldschrat“, bringen alle Umstehenden zum Verstummen. Niemand reagiert, alle schauen geschockt zu.
Dann kommt das Leben zurück.
„Hör auf du widerwärtiger Kretin oder dir fehlt alsbald ein entscheidender Körperteil.“ Die hallende Stimme des Grafen begleitet das Schwingen der Axt, die bedrohlich nahe an Roslavs Kopf vorbeizischt.
„Messer fallen lassen! Hände hoch!“ Irgendjemand muss die Polizei gerufen haben. Das Fernsehteam auf der anderen Straßenseite kann sein Glück kaum fassen, so viel Monsteraction gab es schon seit Monaten nicht.
Nur Adalbert rührt sich nicht. Ein Arm baumelt ungelenk an der Seite, am Hals tiefe Strieme von der Garrotte. Sein Blick schweift zwischen dem blutenden Baumschnitzer, seinem immer noch schreienden Bruder und dem Fernsehteam auf der anderen Seite der Straße hin und her.
Immer wieder öffnet er den Mund, setzt zum Sprechen an.
Kevin tritt vorsichtig näher. „Adalbert?“
Keine Reaktion.
„Adalbert!“ Kevin schüttelt die linke Hand.
„Freund Adalbert!“, dringt die Stimme des Grafen endlich zu Adalbert durch. Dieser steht auf, schlurft, ohne etwas wahrzunehmen hinter Kevin her in den Garten. Niemand traut sich, ihn aufzuhalten.
Kevin bleibt stehen und schaut ihm hinterher. Er hört nur ein leises „Familie ist nicht alles!“