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Igor, der Held
Igor, der Held
Langsam ging es voran. Viel Erde war bereits bewegt und von den lästigen Wurzeln des Gestrüpps befreit worden. Den ganzen Tag hatten er und sein Cousin Sträucher rausgerissen und Erde von der einen Stelle des Gartens zur anderen „geschubkarrt“. Igor hatte schon vor langer Zeit angefangen zu schwitzen. Jeder neue Spatenstich wurde mit einem Stöhnen ein- und von einem Keuchen begleitet.
Wie beim Frauentennis, denkt Igor und muss lächeln. Eigentlich ganz lustig, wenn man bedenkt… Frauen und Tennis, er bei der Gartenarbeit, den Spaten feste in die feuchte Erde. „Puuh“, ramm, „Uh“, wieder ein bisschen mehr Erde befreit.
Das ist mit das lustigste was ihm seit dem Vormittag eingefallen ist und niemand hat es gehört. Er hatte es auch nicht gesagt.
„Ist doch eigentlich wie Frauentennis hier, oder? Ich meine, so wie ich stöhne und so. In die feuchte Erde rammen“. Aufgesetztes Lachen. Einmal ausgesprochen ist es schon gar nicht mehr so lustig.
Folgerichtig hört sein Cousin auf zu Schaufeln und dreht sich um. Harry ist ein Rhetoriker, das war er schon immer.
„Bist du behindert?“
Sein Cousin Harry. Frauen unter sich würden sagen fett, in der Familie heißt es gut im Futter. Gespielt lässig stützt er sich an der Schaufel ab, die er zu diesem Zweck mit beiden Händen umklammert. Seinen roten Kopf hat Harry rechts des Stils positioniert, so als würde man um eine Ecke gucken. Der Blick sagt alles. Wäre Igor nackt mit einer Erektion durch den Garten gehüpft, sein Cousin hätte ihn wahrscheinlich genauso angeschaut.
„Findest du nicht lustig? Frauen stöhnen beim Tennis auch immer wenn sie den Ball schlagen. Genau wie ich mit dem Spaten.“ Warum leugnen, er war behindert.
„Es gibt nur einen Ort an dem Frauen bei mir stöhnen. Und das ist mein Bett. Das ist alles was ich dazu sagen kann, Komiker!“, entgegnete Harry, der noch Jungfrau war.
„Ist ja auch egal.“, sagte Igor und fragte sich, warum er es überhaupt auf ein Gespräch mit seinem dicken Cousin anlegt. Seit einiger Zeit war der fast immer schlecht gelaunt. Igor dachte den Gedanken nicht zu Ende. Das mühselige Schaufeln hatte ihn zu müde gemacht. Wie lange machen Sie jetzt eigentlich schon diese blöde Gartenarbeit? Nach dem Sonnenstand die Zeit ablesen hatten sie ihm in der Schule nie beigebracht und aus Angst vor möglichen Beschädigungen, hatte Igor am Morgen davon abgesehen, seine Armbanduhr anzulegen.
„Wie lange müssen wir denn noch?“, ist somit die logische Frage.
„Bis wir fertige sind“, lautet die logische Antwort. Diesmal ohne Umdrehen. Das war es auch nicht wert.
Igor rammt den Spaten so in die Erde, dass dieser stecken bleibt. Verschnaufen. Die Sonne schaut mit ironischem Lächeln auf ihn herab. Keine Wolke am Himmel, die ihren Blick trüben könnte. Dieser Garten ist mit das Bekloppteste was er je gesehen hat. Von seinem Onkel vor zwanzig Jahren beim Poker gewonnen, war der Garten nicht mehr als ein rechteckiges Stück Wiese, inmitten einer noch viel größeren Wiese. Bis vor kurzem war das hier noch gar kein Garten. Eigentlich ist es auch jetzt noch kein Garten, es wird nur seit heute Morgen so genannt. Da hatte Igors Onkel ihnen mitgeteilt, was sie seiner Vorstellung nach heute tun sollten.
„Ihr müsste mir heute mal mein Grundstück einzäunen, Jungs.“, waren seine Worte.
„Sehr gerne Vater aber wo genau soll das denn sein?“ Der ironische Ton von Rhetoriker-Harry war nur schwer zu überhören.
„Sei mal nicht so vorlaut, Moppel! Ich werde euch das Grundstück abstecken und dann will ich, dass ihr alle zwei Meter einen Pfahl in die Erde haut. Wenn ihr damit fertig seid, könnt ihr meinen Garten einzäunen. Dafür gibt’s dann hundert Euro.“ Onkel Peter ließ seine Hände mit einer kräftigen Bewegung in seinen Hosentaschen verschwinden. Wie er so da stand, mit seinem dunkelroten Baumwollhemd und der fleckigen Jeans, sah er erschreckend verwahrlost aus. Die alte Zeit fließt durch Igors Gehirn und er sieht Bilder auf denen das noch anders war.
„Sehr gerne Vater aber von welchem Garten sprichst du? Wir stehen hier auf einer beschissenen Wiese. Weit und breit gibt es nichts außer Gras was wuchert und so.“
Warum konnte Harry seinen Vater nicht einfach machen lassen? Scheißegal ob das hier nun ein Garten war oder eine Wiese. Die hundert Euro waren schnell verdientes Geld. Vielleicht nicht so schnell wie dem armen Christian aus seiner alten Klasse überteuert Dope zu verkaufen aber immerhin. Die Arbeit war schließlich nicht illegal.
„Du musst das Potential sehen, Junge. Diese Erde steckt voller Potential! Hier wurde das letzte Mal vor hundert Jahren irgendwas angebaut. Die Erde ist voll mit Vitaminen. Kannst du sie denn nicht auch riechen? Schmeckst du sie denn nicht in der Luft? Hier werden bald die knackigsten Tomaten und saftigsten Äpfel wachsen, die deine dicken Augen je gesehen haben.“ Igor war sich nicht sicher, ob der Onkel sich einen Scherz mit seinem Sohn erlaubte, oder ob das wirklich sein Ernst war.
„Weiß Mama dass du heute Morgen nicht zum Arbeitsamt gehst?“
„So wie ich sie einschätze, nein.“
So langsam war es für Igor an der Zeit was zu sagen. Die ganze Situation wurde von Minute zu Minute peinlicher. Drei erwachsene Männer allein auf einem Acker und dann so eine überflüssige, unangenehme Diskussion.
„Ich finde es in Ordnung. Ist doch schön, Natur und so“, warf er nun ein, um des guten Friedens willen.
So wie es aussieht hatten Igors Verwandte dessen Existenz seit einiger Zeit vergessen. Für Menschen die nichts sagen ein gewöhnliches Schicksal. Erstaunte Blicke trafen ihn. Wenn die Augen seines Cousins überhaupt die Möglichkeit besaßen zu funkeln, dann taten sie das wohl in diesem Moment.
Onkel Peter räusperte sich und stapfte mit seinem Fuß auf die, offensichtlich vitaminreiche, Erde.
„Igor hat absolut Recht. So kommt ihr zwei Burschen wenigstens mal an die frische Luft. Die Bewegung kann dir nur gut tun und den Garten lass mal meine Sorge sein.“ Mit diesen Worten drehte er sich weg und stapfte zu seinem BMW.
„Dann werde ich euch mal das Gelände abstecken.“
Seit diesem Satz denkt Igor darüber nach, woran sich sein Onkel orientierte, als er, mit rotem Kopf, vier kleine Stöckchen in die Erde bohrte. Hier gab es keinen Baum, kein Haus, keine Straße. Es gab nicht einmal einen Stein, der größer war als seine Faust.
Genau daran denkt Igor auch jetzt, als er schwitzend in der Sonne steht um für einen kurzen Moment zu verschnaufen.
„Ich könnte mal was trinken. Die Sonne hat meinen Hals voll trocken gemacht.“, sagt er und als Reaktionen ausbleiben:
„Du nicht?“ Igor hat Durst aber vor allem will er der Erde und sich eine kurze Pause gönnen. Sein Cousin hört auf mit dem, was er Arbeiten nennt und versucht normal zu atmen. Offensichtlich misslingt es ihm, denn als er antworten will kommt lediglich ein Keuchen.
„Ich … huuhpooh“, macht er. Zum Glück bekommen viele Menschen eine zweite Chance. Harry war so einer. Nach ein paar Augenblicken war es soweit:
„Ja, lass uns was trinken. Ich habe Apfelsaftschorle dabei. Gläser habe ich auch.“
Die beiden Cousins gehen zu ihrem Proviantkorb, der, mangels Schatten, seit einigen Stunden in der Sonne steht, zugedeckt mit einem dreckigen (vielleicht Öl), rot-weißem Küchentuch.
„Lass doch die Gläser weg!“, entfährt es Igor, als sich sein Cousin anschickt, die gute Schorle in die Plastikbecher zu füllen.
„Nee, lass mal. Ich habe keine Lust mit dir aus einer Flasche zu trinken. Wer weiß wo dein Maul in letzter Zeit überall war. Außerdem sind wir keine Bauern.“, sagt Harry, lacht und tritt natürlich sofort den Gegenbeweis an. Igor muss schmunzeln, als er sieht wie sein Cousin die Becher so voll macht, dass bei der kleinsten Bewegung alles überschwappt. Nur Bauern schenken sich ihre Gläser randvoll ein. Nichts gegen ein volles Glas aber es gibt da gewisse Grenzen.
„Warum haben wir überhaupt nur eine Flasche dabei?“, fragt Igor stattdessen.
„Frag meine Mutter. Die ist echt fertig!“ Harry haut sich auf den Schenkel und lacht zu laut. Schenkelklopfer. Igor weiß nicht, was er darauf antworten soll und sagt einfach gar nichts. Zeit vergeht. Die Sonne steigt hoch und es wird immer wärmer.
Anstatt sich das Gras direkt vor seinen Füßen zu betrachten, schaut Igor lieber in die Ferne, in der alles zu einem grünen Teppich verschwimmt. So als könnte er den Detailreichtum der Natur nicht ertragen.
„Warum haben wir überhaupt nur Schorle dabei? Ich hätte jetzt gerne ein Bier. Zu Gartenarbeit gehört Bier!“
„Hör mir auf mit Bier! War gestern wieder in der Disko und habe übelst gefeiert.“
„Wo warst du denn? Im Algäumax?“
„Ja klar, wo denn sonst?“ Ja, wo denn sonst. Harry ging immer in den Algäumax, wenn es ihn nicht gerade in die Clubs der Großstadt zog. So gut wie jeder aus Bockhausen und Umgebung ging da hin. Igor war hier natürlich die Ausnahme. Er mochte das Publikum nicht. Die eine Hälfte sind Minderjährige, die ihren Ausweis an der Kasse abgeben müssen und die andere Hälfte sind notgeile Mittvierziger, die Universitäten (hoffentlich) nur vom Namen her kennen. Mittendrin steht Harry mit seinen Jungs aus den umliegenden Fuß- und Handballvereinen. Den ganzen Abend werden Führerscheine gewedelt, in der Hoffnung man macht Eindruck auf 16jährige Mädels, deren Mütter sie hoffentlich nicht sahen, als sie das Haus verließen. Hoffentlich für wen? Hoffentlich für die Menschheit. Hoffentlich für die Geschichtsbücher der Zukunft!
„War echt richtig fett. Ronny hat sich wieder mit dem Kanaken aus Rinderdorf angelegt. Danach gab es noch dick Bomberei vor der Tankstelle.“
Der Algäumax. Vor Mitternacht kann man sich nicht bewegen und nach Mitternacht sind die Räume durchdrungen von Parodien des Lebens. Wird das Gefühl vom Schicksal zu groß, entstehen schnell Aggressionen.
„Und wer hat gewonnen?“ Alles ist besser als diese Arbeit hier, denkt Igor und hakt nach.
„Ach weiß nicht so genau. Irgendwann kamen so ein paar Russen und dann sind wir geflüchtet. Dreckspack. Die kommen immer!“
„Integration hat bei euch nicht ganz geklappt, was?“
„Was Integration? Die ganzen Deppen sollen mal auf meine Schule kommen. Bin gespannt wie weit sie da mit ihrem Sozialscheiß kommen.“ Irgendwie hatte Harry Recht. Richtig war es trotzdem nicht.
„Ich sag es dir, Igor. Es ist Krieg da draußen. Da draußen ist ein verdammter Krieg. Ich bin kein Nazi oder so ein Scheiß aber man muss sich wehren. Ich bin ein Mann und habe meinen Stolz!“
Was soll Igor nun dazu sagen? Sein dicker, 23jähriger Cousin hatte zu viele Ghettofilme gesehen. Aber das zu sagen würde nur unnötig Harrys Stolz verletzen. Wenigstens haben Gesellschaft und Schule für ein negatives Nazibild gesorgt. Es fehlen zwar die Hintergründe, aber immerhin.
Die beiden Cousins schweigen sich eine zeitlang an. Harry zupft an seinen Socken.
„Was machen die Mädels?“ Igor war bereit für die Tiefe. Sollte er ins Wanken geraten, ein kurzer Blick auf den Spaten würde ihm Kraft geben.
Harry gluckst. Schwule glucksen und nennen es „giggeln“. Oder so.
„Ooohh maaann ich sag dir, da war wieder diese eine. Die ist da immer! Wir haben den ganzen Abend schön Vodka-Bull gesoffen und die war so richtig feucht. Ich konnte es bis hoch zur Theke riechen (Harry lacht). Hätte der Ronny nicht mit seinem Blödsinn angefangen, ich hätte die richtig gebumst!“ Harry geht in die Knie und demonstriert durch, mal ehrlich, zu weit ausholende Vor- und Zurückbewegungen, wie er sie von Hinten genommen hätte. Als weiteres Feature wedelt er mit der Hand. Das sind die Popo-Klapse. Man kennt sich ja aus.
„Beim nächsten Mal kriege ich sie. Wenn Freunde mich brauchen, lasse ich jede Schlampe stehen. Das ist einfach so.“
Igor denkt an süße Frauen mit großen Augen, langen Haaren und straffen Brüsten.
„Selbstverständlich.“, ist alles was ihm einfällt.
Das Gespräch war kurze Zeit darauf vorbei und Igor schaute wieder auf den grünen, wogenden Teppich in der Ferne. Die kurze Pause wurde mit wortloser Übereinkunft ein wenig gedehnt und Igor versank in Gedanken. Er dachte an seine intimsten sexuellen Erfahrungen, die so intim waren, dass er sie mit niemandem teilte. Er dachte an seine Pornos und daran, wie er sich minutenlang (eine Stunde) seine Penis massierte, um dann, von leisem Stöhnen begleitet, sein Sperma auf die Stelle zwischen Daumen und Zeigefinger fließen zu lassen.
In Gedanken klickte er sich durch seine Festplatte, bis er den Ordner „Technische Pumpensysteme“ erreichte, hinter dem sich 50 Gigabyte pornografisches Material verbergen. Igor hatte zwar schon hier und da mal eine Freundin gehabt, aber seine wahre Sexualität lebte er durch die Filme in eben diesem Ordner aus. Dort bekam er, was ihm nur die wenigsten Frauen real hätten geben können. Und wo finden?
Seit kurzem schaute er oft Filme mit molligen, älteren Frauen, die von jungen Russen „befriedigt“ wurden. Riesige Dildos aus Glas wurden ihnen da anal eingeführt und die Frauen wurden mit großen, schwarzen Buchstaben an Kopf, Bauch und Rücken als „SLUT“ oder „WHORE“ gekennzeichnet.
Igor durchlebte beim Betrachten dieser Filme bis dato drei Gefühlszustände, die ihn mehr oder weniger intensiv beschäftigten.
Anfangs dachte er daran, dass die Frauen, denen er da zusah, „Mamas“ waren, so wie seine. Mamas mit Kindern. Mamas die Essen kaufen mussten. Mamas deren Hoffnungen von einem besseren Leben in diesem Fick endeten.
Einhergehend mit diesem Gedanken stellte er sich vor, wie seine Mutter von zwei oder mehr Typen gefickt und gedemütigt wurde und sich ein kleiner Chinese, in seinem scheiß China, darauf einen runterholte. Das konnte er dann kaum ertragen. Typisch für ihn, dass er seinen Neigungen trotzdem treu blieb, denn er war ein Mensch.
Als er diesen Zustand überwunden hatte, war er einfach nur noch verwundert über seinen Geschmack. Geschockt war er allenfalls darüber, dass er eben nur verwundert war.
Die vierte und bis dato letzte Stufe war die, dass es ihm egal war. Er hatte sich auf der Suche nach dem Kick alles runtergeladen. Dicke, Zwerge, Kacke, Tiere, einfach alles. Überhaupt gibt es Seiten und Seiten und Seiten. Man musste sich nur kurze Zeit mit der Thematik beschäftigen und schon besaß man den Schlüssel zu einer Subkultur, die so offensiv und tabulos war, dass jeder Hippie vor Schreck erblassen würde.
Es gab auch schlimmere Neigungen als die seine, soviel hatte er bei seinen Tauchgängen im schwarzen Universum des Internets erkannt. Schlecht oder vielmehr nicht korrekt waren seine Vorlieben trotzdem. Das wusste er. Erkenntnis ist immer auch der erste Schritt zur Besserung.
Wahrscheinlich hatte er einfach zu viel Zeit.
Er war gerade dabei den richtigen Film für seine kurze Träumerei auszusuchen, als sein Cousin ihn jäh weckte.
„Lass mal weitermachen. Mein Alter kommt bestimmt bald vorbei um hier nach dem Rechten zu sehen“, sagte dieser. Kleinen Klapps auf die Schulter gab es noch dazu.
Igors Blick erhellte sich und er blickte verwundert auf seinen gut genährten Cousin und auf das Gras um sich rum. Ach so, da war ja noch was. Der Garten musste eingezäunt werden. Igor hatte nicht wirklich Lust dazu und das teilte er auch mit.
„Ich habe so keinen Bock, das glaubst du gar nicht“, war sein Kommentar.
„Denkst du ich? Das muss jetzt nun mal gemacht werden. Sind ja auch schon fast fertig.“, entgegnete Harry.
Igor war zu schwach um weitere Einwände vorzubringen. Sein Cousin beherrschte dieses „Warum?-darum!-Spiel“ auch zu gut, als das es sich gelohnt hätte. Außerdem hatte er einfach keine Lust weiter zu diskutieren. Er sagte trotzdem was, um nicht total kampflos unterzugehen.
„Ich habe gerade so schön geträumt.“
„Von was? Von geilen Tussis mit dicken Titten oder was, du alter Drecksack?“
Nein, denkt Igor. Von dicken Mamas mit Glasdildos im Arsch. Das sagte er aber nicht.
„Ja, so ungefähr.“ Die letzten schwarzen Löcher seiner Mamas verschwanden langsam aus seinen Gedanken und kehrten in die Tiefe seines Hirns zurück.
Die Arbeit ging nur schleppend voran aber irgendwann waren sie dann doch soweit, dass sie damit beginnen konnten, die Holzpfähle in den Boden zu rammen. Einige der Löcher waren nicht tief genug, sodass die Pfähle völlig unbeeindruckt wieder umfielen. Harry gab Igor die Schuld und der ließ sich das nicht gefallen.
„Ich hab hier doch fast alles alleine gemacht! Mein Löcher sind absolut in Ordnung, du Affe!“
„Ich gebe dir gleich Affe, du Penner!“
Kurz bevor die beiden Cousins Zeit dazu hatten, sich wieder zu beruhigen, hörten sie den Wagen von Igors Onkel oder Harrys Vater. Das kann man drehen wie man will, der Mann ist wohl der gleiche.
Onkel Ansoff (so wurde er von Harrys Familie genannt, aus Gründen die keiner mehr kannte) hüpfte mit seinem Geländewagen über die Wiese und machte dabei einen Lärm, dass potentielle Vögel ihr Potential verloren. Kaum angekommen sprang er sofort aus seinem Vehikel und stapfte vergnügt in Richtung der beiden Jungs. Es bleibt anzumerken, dass er nicht in seinem Garten parkte.
„Na Freunde, ihr habt hier aber schon ganz schön gerackert, was?“, war seine Begrüßung.
„Totale Scheißarbeit.“, war die Begrüßung seines Sohnes.
„Ach was. Das bisschen Schaufeln. Habt ihr gut gemacht. Mit dem Rest helfe ich euch.“
„Warum überhaupt dieser Garten bitte? Willst du hier wirklich Gemüse anpflanzen und ein Bauer werden?“ Harry sagte das Wort `Bauer` so, dass es wie `Spastiker` klang.
„Ja warum nicht? Meine Großeltern, dein Ur-Opa, waren auch Bauern.“
„Schön für sie.“
„Ach Junge, mir geht es vor allem um die Natur. Es ist schön hier draußen und man bekommt alles, was man zum Leben braucht.“
„Alles außer Geld. Das wächst nicht auf Bäumen. Hast du nicht mal daran gedacht wieder bei der Bank zu arbeiten? Du warst immerhin ein wichtiger Mann und die Arbeit war dein Leben, Papa!“
„Ich bin immer noch Banker. Dieses Geschäft verlernt man nicht.“
„Na also. Warum dann Gemüse und der Scheiß. Mama und ich wollen den alten Papa zurück. Den der für drei Tage nach New York oder London fliegt und nicht den, der seine Zeit hier auf einem Acker vertrödelt.“
Das entsprach sogar der Wahrheit. Igor wusste, dass sein Onkel früher ein hohes Tier in Frankfurt war. Er wusste auch, dass die neuere Entwicklung seines Onkels dessen Familie alles andere als recht war. Viel mehr wusste er aber nicht. Deshalb zog er es vor, auf den Boden zu glotzen und die Löcher zu inspizieren.
„Es geht im Leben nicht nur um Geld, mein Sohn. Seit meinem Studium dreht sich alles nur um Cashflows, Verschuldungsgrade, Aktienkurse und Renditen. Ich bin das einfach leid. Kannst du das denn nicht verstehen?“, Onkel Ansoff schaute seinen Sohn fragend an und wirkte zufrieden.
„Ja schön, aber was soll denn aus uns werden? Wovon sollen wir denn Leben? Wir haben Schulden!“
„Ich habe Schulden, nicht du und auch nicht wir! Ich! Wenn du so hohe materielle Ansprüche an dein Leben stellst, dann sehe zu, dass du was Gescheites mit deinem Leben anfängst. Ich bin dafür nicht verantwortlich. Nicht mehr. Ich möchte endlich etwas machen, wo ich meine Erfolge sehen und anfassen kann!“, sagte Onkel Ansoff mit fester Stimme. Nach einer kurzen Pause fuhr er fort.
„Ich habe immer nur mit Zahlen gearbeitet. Geldbeträgen, Kursen, Wachstumsraten und so weiter. Aber das ist keine reale Welt. Sie existiert nur im Computer. Eine Milliarde Euro Gewinn ist nichts Reales. Zumindest nicht für mich. Ich kann dieses Geld ja nicht mal anfassen. Jeder Apfel der vom Baum fällt ist für Gott mehr wert als diese Unsummen, die jeden Tag vom einen Computer zum nächsten transferiert werden. Und seit einiger Zeit ist er auch für mich mehr wert.“
„Du sagst mir, ich soll was aus meinem Leben machen?! Ich bin jung und habe alles noch vor mir aber du wirfst dein Leben einfach weg!“
„Du musst es ja nicht verstehen aber akzeptieren musst du es. Ich beginne meine neue Karriere hier, auf diesem verlassenen Acker, im Nichts. Der Garten ist erst der Anfang. Ich bin gerade dabei, dass umliegende Land zu erwerben. “
„Ich muss gar nichts davon akzeptieren. Mach deinen scheiß Garten doch alleine. Ich bin weg!“, waren Harrys letzten Worte, bevor er die Schaufel auf die Erde schmiss und mit glänzenden Augen davonlief.
„Heulsuse“, dachte Igor und Onkel Ansoff rief noch ein „bleib hier“ hinterher, sah dann aber schnell ein, dass das keinen Sinn mehr hatte. Kurze Zeit darauf war Harry hinter der Erdkrümmung, oder einem Hügel, (bei dem ganzen Gras konnte man das schlecht sagen) verschwunden und ließ seinen Vater und seinen Cousin alleine zurück.
Onkel Ansoff blickte Igor mit verlorenen Augen an. Einen Moment lang hatte Igor das Gefühl, sein Onkel würde sich auf ihn stürzen und umbringen. Für eine nicht messbare Zeit hatte er Todesangst, die allerdings nicht bestätigt wurde.
„Was ist mit dir Junge? Bleibst du wenigstens noch da?“, fragte der Onkel mit verwehender Stimme.
„Ja klar. Jetzt habe ich das angefangen, dann bring ich das auch zu Ende.“ Das war eine Lüge. Igor wollte eigentlich nur weg aber die Armut des Mannes und die hundert Euro ließen ihn nicht gehen. Passend zum Geld fielen ihm an die hundert Orte ein, an denen er jetzt lieber wäre aber es half ja alles nichts.
Igor blieb also und schaufelte Löcher. Die Situation schrie danach, aufgelockert zu werden.
„Harry war schon immer ziemlich aufbrausend. Das hat er wohl von dir. Mach dir da mal nichts draus, der kommt schon wieder runter.“, fiel Igor dazu ein.
„Dein Cousin ist eher „reinschaufelnd“ als „aufbrausend“.“, witzelte Onkel Ansoff und beide mussten ein wenig lachen.
So verging die Zeit. Die beiden Männer arbeiteten schweigend, weil Männer bei körperlicher Arbeit immer schweigen und der Zaun nahm Gestalt an. Er nahm Gestalt an und war schließlich fertig. Sinnlos aber fertig. So wie Autobahnteilstücke im Nichts.
(…)
„Wo ist denn der Kleine?“, wollte Onkel Ansoff abschließen wissen.
Ja, wo war ich denn? Man hatte mich vor vielen Stunden auf die Wiese gesetzt und da auch sitzen lassen. Mit meinen 10 Monaten war es mir nicht möglich, aus eigener Kraft, den Babysitz zu verlassen und so saß ich einfach da und wartete ab. Sicher, ich hätte schreien können aber das lehnte ich schon zu Beginn an ab. Brüllen und Heulen hätte der Sache nicht gedient.
Aufgedunsen, tot und nach Scheiße stinkend hockte ich nun also auf der Wiese, in meinem Tragesitz und blickte in die Ferne, auf den grünen Teppich. Dieser Zustand gefiel mir nicht aber wer ein Zeichen setzen wollte, musste nun mal leiden.
Schade, dass niemand an mich gedacht hat aber wir leben nun mal im Hier und Jetzt und nicht in der Zukunft. Wäre ja auch zu schön..