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Ihr erster Instinkt
Ihr erster Instinkt war, wegzusehen.
Er starrte sie direkt an.
„Nein,“ dachte sie „bitte nicht schon wieder“.
Doch dann straffte sie ihre Schultern und gab sich alle Mühe, dem Blick zu begegnen.
„Gut. Hier bin ich.“
Ihr Herz war am Zerspringen.
Sie versuchte in seinem Blick zu lesen und sah in Augen wie zwei blinde Spiegel, ohne Wut, ohne Vorwurf, ohne Leben.
Ein leiser Luftstoß wirbelte die trockenen Blätter auf dem bereits gelben Rasen hoch, dann war es so, als würde ein Teleskop alles scharf einstellen.
Die lachenden Stimmen der spielenden Kinder, das Bellen der Hunde und das verzweifelte Zurufen deren Besitzer dämpfe ab, trat in den Hintergrund.
Sie fühlte die glatten Holzsplitter der verwitterten Parkbank und die Luft an der Stelle, wo ihre Bluse sich bauschte, ohne die Haut zu berühren.
Die ganze Welt schrumpfte zusammen, es gab nur ihn und sie.
Er sagte noch immer nichts und sah sie nur unverwandt an.
Nach einer halben Ewigkeit räusperte sie sich mühsam.
Das Begrüßungs-Hallo kam heiser geflüstert träge aus ihrem Brustkorb.
Als habe er nur darauf gewartet, war er mit drei langen Schritten an der Bank, ließ sich niederfallen und streckte seine Beine aus.
„Geht es dir gut?“
Ihr Lungen krampften sich zu einem einzigen harten Klumpen zusammen und das Atmen fiel ihr schwer.
„Ja,“ sie sprach jetzt lauter. “Ja, es geht mir gut“.
„Hmm...“
Der Laut aus seinem Mund ließ sich nicht deuten.
„Ich werde dich nicht fragen“.
„Mich was nicht fragen?“
„Warum“.
„Warum was?“
„Warum du nicht zurück kommst“.
„Bitte...“
Die schmerzhafte Enge in ihrem Hals nahm zu, sie fühlte sich mit einem mal müde, leer, zerbrochen.
Den Mund qualvoll verzogen, sah sie ihn an.
„Bitte...es ist vorbei“.
„Ich weiß...ich weiß“, seine Stimme, rau und ungleichmäßig, als sei sie lange nicht mehr gebraucht worden, traf sie unerwartet tief, bis ins Mark.
Hastig sprang sie auf und stürmte ohne Abschied davon.
Während sie lief, konzentrierte sich der Schmerz in ihrer Magengrube. Lag wie ein Kloß im Hals.
Wenn sie es zuließ, würde er in ihr detonieren wie eine Bombe. Nur solange sie in Bewegung blieb, konnte sie ihn in Schach halten.
Er blieb einfach sitzen.
Eine heiße Träne quoll durch seine geschlossenen Lieder und ein harter, trockener Schluchzer aus den Tiefen seiner Brust kämpfte sich nach oben.
Erst dann kam das Weinen, würgend, haltlos, bis er beinahe in Tränen ertrank.