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Ikarus
Ikarus
für Panamarenko († 14.12.2019)
"Morgens fiel ein Mensch in den besten Jahren, loyaler Untertan seiner Herren und unbescholtener Bürger seines Gemeinwesens, dem Kirchgang abgeneigter Protestant, begnadeter Buchhalter seines HERrn und so weiter aus seinem Bett, ohne größer'n Schaden zu nehmen. Jedenfalls stellte er sich auf die Bettkante, breitete die Arme aus und schlug mit ihnen die Luft; dann sprang er hoch und weit ins Zimmer, um, natürlich, auf den Boden zu plumpsen.
Was tustu da?, fragte ich.
Er antwortete, dass er frei wie ein Vogel sein wolle, worauf ich sagte, Vögel seien auch nicht freier als and're Geschöpfe.
Trotzig erwiderte er: Sind Vögel nicht freier als and're Geschöpfe auch, will ich wenigstens wie'n Vogel fliegen können!, stellte sich erneut auf die Bettkante und wiederholte das Schauspiel - natürlich erfolglos.
Natürlich, sagte ich, Du bist kein Vogel und kannst nicht fliegen.
Darauf nannte er seinen Vater ungerecht: mein Schöpfer ist ungerecht, dass er nicht alle Geschöpfe mit gleichen Fähigkeiten ausgestattet hat."
"Heißt Ihr Mensch vielleicht Hamm?", fragt der Hörer den Erzähler, der gar nicht hinhört und fortfährt:
„Das Schauspiel wurd' wiederholt, bis sich der Mensch erschöpft auf die Bettkante setzte.
Er beugte sich vor, stützte seine Ellbogen auf die Knie, vergrub den Kopf in den Händen und grübelte.
Kannstu nicht fliegen, sagte ich schließlich, so lass Dich doch fliegen. Mach Dich federleicht. Oder setz' Dich in ein Flugzeug mit allem Komfort.
Er erwiderte, er wolle fliegen, nicht geflogen werden.
Ich hatte gehört, einige Kosmonauten wären im Weltraum geblieben und man müsse annehmen, dass sie entmaterialisiert worden seien. - Das könnte die Lösung Deines Problems sein, sagte ich.
Der Gedanke behagte ihm nicht: dass ich mich entmaterialisiere, soll eine Lösung meines Problems sein? Er traute dem nicht. –
Nicht wirklich, mein ich. –
Wie sonst? –
Indem Du Dich vergeistigst. –
Er staunte: was müsste ich dazu tun? –
Denken, denk ich.
Und er versuchte zu denken.
Einst war er ein großartiger Denker gewesen, einer, der mit seinen Ergüssen Bibliotheken anfiel und entjungferte. Allein, er hatte nie seine Gedanken aufgeschrieben, nicht einmal seine Gedanken geäußert, dass man sie hätte notieren können. Jetzt kreisten seine Gedanken in Soll und Haben, kontierte er werktäglich jahraus, jahrein Daten, die ihm andere Leute ins Büro hineinreichten und die von ihm an wieder andere Leute weitergereicht wurden und schrieb mit seinem Team Bilanzen.
Nun saß der Mensch auf der Bettkante, schaute vor sich hin, versuchte zu denken:
FLIEGEN GEDANKEN?
DENKEN FLIEGEN?
MACHT DENKEN FLIEGEN?
MACHT DENKEN FREI?
Kluge Menschen behaupten, Gedanken seien frei.
Aber worüber kann man schon denken? –
Er dachte ans Büro. –
Über nützliche und nutzlose Dinge kann man denken, über ziemlich alles und nichts. –
Dauert das nicht recht lang?, bemerkte er, um dann doch sehr tief zu denken.
Er hatte sich gedanklich eingegraben und verlor sich darinnen:
ES DENKT. ALSO IST ES.
ES DENKT MICH, ALSO WERD ICH
GEDACHT. ABER SOLLT ICH ES
SEIN, SO BIN ICH ES, DAS SICH
DENKT. ZUMINDEST KÖNNT ICH
MICH DENKEN. NUN: DENKE MICH!
ICH DENKE MICH. ALSO BIN ICH.
Er stockte.
Wenn's mich aber zum Besten hielte, wär' ich dann noch Gedanke? - Er zog eine besorgte Fratze: Wenn ich mich zu denken vergäße, wäre ich dann gedankenlos weniger als denkend? –
In eine gedankliche Sackgasse geraten, verwarf ers Denken.
WIE WÄR ES, WENN ICH GINGE,
STATT ZU DENKEN? SO WÄR ES:
ICH GEHE, ALSO BIN ICH,
DENN FIEL ICH AUF DIE NASE,
WÄR'S MEIN SCHMERZ, DEN ICH FÜHLTE,
UND MIR WÜRDE GEWISS: ICH BIN!
Erneut stockte er, denn der mögliche Schmerz schmerzte ihn, dass er allerlei Rumoren im Kopf hatte und auf dem Kopf eine Schlafmütze, dass es mehr in ihr als in seinem Kopf herumging.
Ein neues Projekt keimte in ihm: Bin ich kein Vogel und recht erdgebunden, so will ich mir doch einen Apparat bauen, der fliegen kann.
Er ging ans Werk, kritzelte Zahlen, rechnete nach geheimnisvollen Formeln, bastelte Flugobjekte, experimentierte, verwarf, entwickelte weiter, schindete sich und einen hoch technischen Eindruck.
Heißt er vielleicht Panamarenko?, frag' ich mich.
Irgendwann entschied er sich für ein Modell, das einer Mischung aus einem degenerierten Seepferdchen und einem Mondkalb glich.
Er rieb sich die Hände und meinte, dass das Gerät vom technischen Standpunkt aus flugfähig sein müsste.
Eigentlich aber, so sagte er sich, sei's unwichtig, ob's fliege oder nicht.
Wichtig schien ihm allein zu sein, dass es fliegen könnte.
Er war einfach erregt und suchte, sich zu beruhigen.
Was soll's!
Bau' ich eine Flugmaschine, die eigentlich fliegen müsste und dennoch nicht fliegt, so flieg ich immerhin mehr als einer, der sich in ein Jet setzt und chauffieren lässt.
Er heißt Panamarenko, denk' ich, sag' aber nichts.
Er schindete einen hoch technischen Eindruck, berechnete das Gewicht von Mann und Maschine, die zum Flug notwendige Energie, Spannweite, Propellerwirkung, Auftrieb, Kraftübertragung, zeichnete, sägte, brannte, formte, leimte, hämmerte, schraubte, verglich und schwitzte.
Er realisierte einen Flugapparat, einem dürrbeinigen Schlachtross und einer Nähmaschine nicht unähnlich. Als die Flügel angesetzt waren, geriet das Nähmaschinenross zum Pegasos.
Er betrachtete die Maschine: ich werde sie Europa nennen, auf dass sie den Stier zu neuen Gefilden trage. –
Wahrscheinlich wird sie niemand zu neuen Gefilden tragen. -
Du wirst ganz schön staunen, wenn sie trotz Deiner Unkenrufe fliegen wird.
Er setzte sich auf Europa, lief an und tat mit dem Gerät einen mächtigen Satz ins Zimmer.
Ich staunte: Europa flog!
Er jubilierte, Europa trug ihn.
Ich war sprachlos.
Jeder Beobachter wär' sprachlos gewesen, bemerk' ich, ohne den Erzähler unterbrechen zu können.
Und er rief, öffne das Fenster, ich will hier 'raus!
Da sie einige Kreise gezogen hatten, öffnete ich das Fenster.
Der Mief aus Abgasen, Schweiß und Gestank, das Gebräu des Lärmens, Plärrens und Schwätzens schlug mir aus dem Gewimmel der Ameisen in der Straßenschlucht entgegen. Nase und Ohren verschließend beobachtete ich, dass Europa und er den Weg durchs Fenster nahmen und gleichmäßig und zügig immer höher stiegen.
Mir stockte der Atem. Wird er je heimkehren?
Und ich war sprachlos."
Ich auch, denn der Erzähler unterbricht die Handlung und gibt zu, dass er mit ihm identisch sei:
„Er ist ich und ich war er, kurz: Erich.“
Der Zuhörer sagt ihm, dass er ihn damit nicht überrasche, worauf der Erzähler fortfährt:
„Je höher Europa stieg, desto wacher glaubte ich meine Sinne.
Ich schaute über die Stadt weit ins Land hinein, erkannte Neugierige, die entsetzt in die Höhe starrten, ich vernahm auch einzelne Laute, konnte aber keinen Sinn heraushören. Irgendwann erschrak ich. Europa schlingerte. Sie stöhnte, hustete, spuckte, ruckte und zuckte ...
Vielleicht bedurfte sie einiger Schonung auf dem Jungfernflug, bemerk' ich. Vielleicht war sie allergisch gegen Höhenluft und Witterungseinflüsse. Vielleicht war sie gar zum Fliegen ungeeignet, geb' ich zu bedenken. Der Erzähler ignoriert die Bedenken:
Europa sackte ab.
Stürzte um.
Unsere Körper trennten sich und
rasten mit zunehmender Fahrt
abwärts.“
Ich stell' fest, dass der Erzähler mit wachsender Unruhe redet: er hetzt. Er wird gehetzt.
„Jedes Fleckchen Erde geriet mit ander'n zur Synthese, sich verflüchtend zu neuen Synthesen. Stürzen. Nichts fühlen. Nichts denken. Stürzte gleichgültig, tanzte schwerelos. Kopfüber, kopfunter. Geblendet. Gelähmt. Stumm. Taub. Sinnenlos. Sinnlos.“
Der Erzähler schweigt einen Augenblick und erzählt dann gelassen weiter:
„Nur langsam kehrten die Sinne wieder. Durcheinandergewirbelt lagen die Knochen und kalter Wind blies durch sie. Alle Glieder schmerzten. Alt fühlte ich mich. Schrei'n wollt' ich und vernahm nur Krächzen. Ich öffnete den Mund, der nurmehr auf und nieder klappte, steif, fest und vorgewachsen war. Abtasten wollt' ich ihn, bracht' aber die Arme nicht nach vorn'. Die Füße verkrampften sich. Der Rücken war steif, als wär' er verwachsen. Den Kopf aber konnt' ich ungewohnt weit dreh'n.
Ich fragte mich, ob ich das noch wär', was ich da sah, und hörte wieder das Krächzen: ich blickte auf schmale, steife Schwingen und einen schmutziggrau gefiederten, leicht gekrümmten Rücken.“
Heißen Sie vielleicht Samsa?, frag' ich und zieh' die Frage sogleich wieder zurück, denn Samsa fühlte sich ja als ein ungeheu'res Ungeziefer.
„Automatisch hatten die Schwingen, von denen ich nicht wusste, ob sie zu mir gehörten,
geschlagen und dadurch die sausende Fahrt beendet. Mit den Schwingen, die zu mir gehörten, des' war ich mir nun sicher, bracht' ich die Luft unter und hinter mich, um erneut aufzusteigen.
Ich glaubte, die Stimme des Vaters zu vernehmen, die mich ermahnte, den mittleren Lebensweg zu nutzen und die Extreme zu meiden. Denn, so redete die Stimme,
steigstu zu tief hinab, so werden Dich die Wasser des Sumpfes beschweren, um Dich herabzuziehen, Dich zu ersäufen.
Versteige Dich aber auch nicht in der Höhe. Denn näherstu Dich der Sonne, so wird sie Dich erhitzen, und Dein Kleid wird Feuer fangen, dass es Dich hinabstürzt und es Dir den Hals bricht.“
Er solle nur seinem Vorbild folgen, und so. Ich glaub', ihn ertappt zu haben und frag', ob er nicht Ikarus heiße. Aber er erzählt weiter:
„Und ich lernte es ihm nachtun. Besonnen und kunstvoll schlug ich die Schwingen, den Flügelschlag zum Vorankommen nutzend. Ich stieg auf, dem Platz an der Sonne entgegen, den ich insgeheim meinen Platz nannte.“
Er schweigt, dass der Gast und in der Folge auch wir fragen: wo denn da die Pointe bleibe, schließlich hören wir nicht einer alltäglichen Mär zu, ohne dass uns eine Pointe geliefert wird!
„Wo die Pointe liegt?", fragt dieser Jemand und überlegt.
„Nun, ich konnte fliegen, hatt' es nur noch nicht gemerkt.
Mein Leben war bisher einförmig gewesen, also war es notwendig, dass ich es merkte.
Und so flog ich eines morgens davon.
Allein: ich war unfähig zu manöv'rieren. Abgescheuert war mein Schwanz vom vielen Sitzen.
Aber ich hab' dies Land gefunden, das mir bewohnbar erschien, und bin hier geblieben.“
Gott sei dank! meinen wir, allzu leicht wär' aus einem Jemand ein Niemand geworden, drück' mich in die Polster meines Sessels und les' weiter …