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Ikarus
Schließlich steht schon in der Bibel geschrieben: „Wer auf Träume hält, der greift nach dem Schatten und will den Wind haschen.“
Folgende Geschichte handelt von einem solchen Lehrer. Seinen Träumen und dem Streben nach dessen Erfüllung. Allerdings entstehen dabei Konsequenzen, welche amüsant wie traurig zugleich betrachtet werden könnten. Die Leseart überlasse ich Ihnen dabei höchstselbst.
[/SUP]
Die Seifenblase platzt
Einige Plätze sind leer, die meisten Schüler legen ihre Köpfe auf die Handflächen.
Der Herr Lehrer schreibt an die Tafel 'IKARUS' und fragt:
„Meine Damen, meine Herren. Wer weiß etwas darüber?“
„War das nicht so ein Pleitegrieche?“
Da lacht Gustav, jedoch Ioannis nicht.
„Was für Pleitegrieche? Verpiss dich, du Pegidawichser.“
09:05 Uhr. Klassenzimmer der 10 b)
Der Herr Lehrer schreibt an die Tafel 'WER WAR IKARUS?' und setzt sich auf seinen Stuhl, schlägt seine Zeitung auf. Nach sieben Minuten steht er auf.
„Meine Damen, meine Herren. Die Handys nun weg. Gibt es irgendwelche Erkenntnisse?“
„Ein ungarischer Bushersteller heißt so.“
„Die Gleitschirm-Flugschule Interlaken auch.“
„Beim Online-Designshop Ikarus gibt es einen 5 Euro Gutschein, allerdings nur diese Woche gültig.“
„Schick den Link mal die Whatsapp-Gruppe. Ich brauch noch ein Geschenk für meine Alte.“
11:30 Uhr. Klassenzimmer der 10 c)
Einige Schüler tragen Sonnenbrillen, Badehosen und Handtücher liegen aus.
„Meine Damen, meine Herren. Es gibt eine Geschichte, die beschreibt das Scheitern eines Sohnes, welcher gegen den Rat seines Vaters handelte, ...“
„Amena koi. War bestimmt so 'ne deutsche Kartoffel. Alle keinen Respekt mehr von den Babas, wallah!“
„Ach, halt die Schnauze Ahmet. Wer will schon werden, was sein Alter ist?“
Seife wischen, die Herausforderung
was ich denke,
bevor ich gehört habe,
was ich sage?“
E. M. Forster[/SUB]
Es war Nachmittag. Der Herr Lehrer saß auf einer Bank. Da kam ein Vogel geflogen, setzte sich auf die Lehne schaute zu unserem Protagonisten. Dieser begann:
„Was ist das für ein Leben, kleiner Freund? Da studiere ich Philosophie, Geschichte, Theologie. Und nun lehre ich Schüler, die nicht begreifen, vielleicht gar nicht können, geschweige denn wollen.“
„Was das für ein Leben ist? Davon weiß ich nichts. Ich genehmige mir nur eine Pause und ruhe an diesem Platz.“
„Ach, wäre ich nur ein Piepmatz wie du. Dann müsste ich nicht hier bleiben und wäre endlich frei.“
„Ach, hätt´ ich nur so viel Zeit zum Denken wie du. Dann müsste ich keine Nester bauen, Vögel suchen und Eier brüten. Ach, wäre es schön, nicht ständig um die Welt zuziehen und endlich frei zu sein!“
„So lass uns tauschen, ich fliege fort und du löst die Probleme meiner Gedanken!“
„So würde ich es machen, doch hörst du nicht? Die Küken zetern und wollen Würmer, die ich erst noch finden muss.“
Da flog der Vogel von dannen und der Herr Lehrer saß und dachte nach. Nach einiger Zeit lief er nachhause, grübelte weiter und fasste einen Entschluss.
„Ich werde die Kinder nicht erreichen, doch zumindest kann ich es probieren.“
Und nahm er ein Blatt und fing zu schreiben an. „Die Geschichte Ikarus`, neu, modern und frisch für die Generation Z.“ Er schrieb sich in einen Fluss und ließ sich treiben. Am Ende kamen zehn Seiten heraus und er hörte schon den Applaus der Schüler. Welch schönes Gleichnis ihm da gelang. Und wenn es nicht die Jünglinge begeistern sollte, dann zumindest die Literaten. Ja, ein Autor wollte er werden, einer der großen. Wofür hatte er sonst seinen Intellekt?
Das Blasen pusten - Euphorie entfacht Auftrieb
Euphorisiert ging der Herr Lehrer in das Wirtshaus „Bier bei Frank.“ Er wusste nicht viel, wie er immer zu sagen pflegte, aber eines war ihm klar: Der Tresen beschreibt den besten Ort, um Frauen kennen zu lernen. Schließlich gehen die ungeduldigen, trinkfesten, feierwütigen Weiber zur Bar und holen sich ihren Cocktail selbst. Der Herr Lehrer sitzt immer dort. Süßliche Mixgetränke und Frauen gab es bei Frank aber noch nie.
„Ein großes Bier, bitte!“
„Hier. Ihr großes Bier.“
Ein fremder Mann erscheint und setzt sich neben unseren Protagonisten.
„Hallo, wer sind Sie?“
„Herbert vom Haibach, ehemals Fischer. Und selbst?“
„Ich bin Lehrer und bald anerkannter Autor.“
„Welche Schriften haben Sie veröffentlicht?“
„Veröffentlicht noch nicht, aber erstellt.“
„Dann sind Sie kein Autor.“
„Doch, ich habe ein Gleichnis erschaffen, das seines Gleichen sucht.“
„Dann sind Sie eben ein Schriftersteller, aber noch lange kein Autor. “
„Ich habe eine Geschichte zu Papier gebracht, also bin ich ein Autor. Heute suche mir meine Muse und Sie? Warum sind Sie kein Fischer mehr?“
„Wer in so vielen Gewässern der Welt gefischt hat, wie ich, der weiß, alle Fische sind irgendwie ähnlich.“
„Aha, was sind Sie denn?“
„Durstig. Letzten Freitag bin ich aufgewacht und verspürte großen Drang. Da trank ich ein Bier. Drei, vierzehn. Ich blieb einen Tag der Arbeit fern, mittlerweile wurde mir gekündigt. Meine Frau hat mich verlassen, die Familie verstoßen. Aber jetzt ist mir klar: Ich bin durstig.“
„Dann trinken Sie.“
Zehn Bier später. Beide gemeinsam, lautstark grölend:
„Am Zentralfriedhof is' Stimmung, wia's sei Lebtoch no net wor.
Weu olle Tot'n feiern heite seine erscht'n hundert Johr“*
Und die Blase beginnt zu fliegen
Am folgenden Morgen trommelte, pochte, polterte und klopfte es. Da genehmigte sich der Herr Lehrer einen Tag Urlaub, schrieb ein Exposé, vervielfältigte seine Manuskripte und versandte sie an sämtliche bekannten Magazine, Zeitungen und Verlage. Auf nach Bremen!
Sie fliegt und steigt, wächst und gedeiht.
es kämpft der Mann, und alles will er wagen.“
J. C. F. von Schiller
Oh du fröhliche, wieder eine Unterrichtssequenz. Ich halte mich kurz, versprochen. Denken Sie sich das Setting einfach selbst.
Irgendwann. Klassenzimmer der 10 a)
Der Herr Lehrer teilt Blätter aus.
„Wer möchte lesen?“
„Dä äh Dad war ein Nachfahre ....“
„Gibt's das nicht in 'ner modernen Version?“
„Nein, aber bald. Auf dem Markt wird etwas erscheinen, welches die Grundfesten der Literatur erschüttern wird. Und zwar aus der Tinte meiner Feder.“
Gustav lacht, Ioannis auch.
„Lesen Sie den Text im Stillen. Damit wäre das Thema beendet. Nächste Woche geht es um eine neue Episode. Denken Sie daran, der Ikarus ist prüfungsrelevant!“
Irgendwann. Klassenzimmer der 10 b)
Der Herr Lehrer teilt Blätter aus.
„Lesen Sie den Text im Stillen. Damit wäre das Thema beendet. Nächste Woche geht es um ein neues Thema. Denken Sie daran, der Ikarus ist prüfungsrelevant!“
Irgendwann. Klassenzimmer der 10 c)
Der Herr Lehrer teilt Blätter aus.
„Lesen Sie den Text im Stillen. Damit wäre das Thema beendet. Nächste Woche geht es um ein neues Thema. Denken Sie daran, der Ikarus ist prüfungsrelevant!“
„Wir haben von Ihren weltbewegenden Ergüssen gehört. Nicht, dass sie sich da überspritzt haben, Herr Lehrer!“
Ja, so lief das. Stunden, Tage, Wochen. Der Unterricht wurde zur Qual, doch ich möchte Sie nicht weiter damit beschäftigen. Unserem Protagonisten war es egal, weshalb es uns auch nicht kümmern sollte. In einigen Monaten würden die Verlage mit Aufträgen nur so winken, da würde er dann gar nicht mehr zu unterrichten brauchen.
Blasen platzten, immer.
den lehrt mir – schneller fallen!“
Nietzsche[/SUB]
„Wir haben Ihre Geschichte gerne gelesen, doch verlegen werden wir sie nicht.“ Die wenigen Antwortschreiben der Verlage machten den ehemaligen Herrn Lehrer sehr verlegen.
Es war Nachmittag. Der Herr Lehrer saß auf einer Bank. Da kam ein Vogel geflogen und setzte sich neben unseren zweifelnden Mann. Er sah ihn an und sprach:
„Hast du nun den Schülern den Ikarus beigebracht?“
„Ich habe sie lernen lassen, auf selbständige Weise.“
„Doch siehst du nicht zufrieden aus.“
„Ich habe das Lehren aufgegeben.“
„Aber nein, du siehst nicht zufrieden aus!“
„Ich dachte ich sei ein Autor.Ich habe eine Geschichte geschrieben, sie ist gut. Doch keiner will sie verlegen.“
„Und weißt du jetzt, wer du bist?“
„Ein Autor, der kein Autor ist. Ein Geisteswissenschaftler ohne Wissenschaft, ein Philosoph ohne Philosophie. Und doch, bin ich ein Nichts, oder nicht?“
„Du hast studiert, gelehrt, geschrieben und weißt doch nicht wer du bist. Sei unbesorgt: Wer nichts ist, kann alles werden."
Einen Moment raschelten die Blätter, die beiden schwiegen, bis der Vogel in die Lüfte stieg..
„Sieh nur: Der Herbst ist ins Land gezogen. Mein Gefieder sehnt nach Wärme. Weißt du jetzt, dass du Frei bist?“, sprach er und flog davon.
Abends, da setzte sich der alte Mann an seinen Computer, durchforstete das Internet, registrierte sich in einer Schreibwerkstatt, stellte seinen Text zur Diskussion und enthob sich seines Stuhles.
Seife wischen, das Problem erkennen
[SUB]
wir müssen's wieder probieren und dann wieder probieren,
ich mein, was kann passieren?
Außer, dass wir wieder verlieren und dann wieder verlieren."
Prinz PI[/SUB]
Wenn Sie sich mich nun fragen würden, warum ich Ihnen dies alles erzähle? Meine Antwort wäre folgende: Wegen der Pointe! Und falls Sie erwidern möchten;
tausend Worte seien für eine Pointe zu viel. Dann sei Ihnen gesagt, mir ist das egal.
Denn nun sind wir beim Schluss. Der Herr Lehrer hat seinen Urlaub beendet und mit
seiner beruflichen Tätigkeit weiter gemacht. Und damit endet die Geschichte,
einer letzten Unterrichtssequenz:
Irgendwann, vielleicht im Klassenzimmer der 10 a)
Der Lehrer kommt in die Klasse.
„Wo waren Sie im Urlaub?“
„Ich bin geflogen. Weit fort, hoch hinaus und wieder zurück.“
„Wir dachten schon, Sie wären wie diese Germanwings-Maschine, irgendwo abgestürzt.“