Im Auge des Betrachters
Heute jährte sich das Ereignis zum fünften Mal. Aus den Rinnsalen der Vorfreude in den vergangenen Wochen und letzten Tage war ein Strom gewaltiger Antriebskraft geworden. Gespeist aus Wünschen, Erinnerungen und neuen, ganz anderen Vorstellungen als bisher.
Er fühlte sich so belebt wie selten zuvor, sein Tatendrang ließ ihn immer wieder alles überprüfen. Natürlich lag alles an seinem Platz, wie jeden achtundzwanzigsten Februar in den letzten Jahren.
Doch diesmal war noch einiges Neues dazugekommen und gerade deshalb machte es ihm besonderes Vergnügen, alles immer wieder abzutasten, in die Hände zu nehmen, es zu streicheln und liebevoll wieder hinzulegen.
Seit einer Stunde lief er mit einem nicht enden wollenden Lächeln in diesem Zimmer herum, suchte nach möglichen notwendigen Verbesserungen und fand wie gewohnt nichts. Alles war perfekt.
Sie konnte kommen!
Und sie kam, genau in diesem Augenblick klopfte es.
Sofort verließ er das Zimmer, ging mit seinem Lächeln auf den Lippen zur Tür und bat sie herein. Sein Lächeln übertrug sich auf dieses schüchterne, fast ängstliche Wesen. Beschwingt durch die ihn überrollende Woge seiner Gefühle führte er sie an die kleine Bar, sie stießen die vorbereiteten Gläser fast zärtlich aneinander und tranken.
Er war glücklich und sein Glücksgefühl wirkte ansteckend. Denn auch sie lächelte noch, während sie langsam zu Boden glitt und das Bewusstsein verlor.
Doch die Frage in ihren Augen, die kurz darin aufblitzte, als sie schon am Boden lag, verriet schon ein wenig von der Furcht auf das, was sie erwartete.
Zärtlich hob er sie auf und trug sie in das vorbereitete Zimmer. Ganz sacht legte er sie auf den Boden, sah sich sein Werkstück kurz noch einmal an und ging sich umziehen.
Bevor er das Zimmer wieder betrat, ließ er die tiefroten Wogen der Freude durch seine Gehirnzellen tanzen, er pumpte sich voll mit Verlangen, Begierde und Trieb.
Einmal ließ er noch einen Gedanken an die vergangenen Jahrestage zu, aber auch dieser diente nur der Steigerung seiner Wolllust.
Bisher hatte er es nur gewagt, solange sie bewusstlos waren. Doch heute würde es anders sein. Es würde so sein, wie es schon immer hätte sein sollen, das hatte er endlich erkannt.
Sie würde wach sein wenn er begann und sie konnte schreien so viel sie wollte. Aus diesem Zimmer würde kein Laut dringen.
Zum ersten Mal würden die Kommentare gehört, die er während seiner Arbeit von sich gab. Er würde sein erstes wirkliches Meisterwerk schaffen. Dieses von Hügeln, Spitzen und Wölbungen arme verunstaltete Wesen sollte bald seinen Vorstellungen entsprechen.
Er betrat das Zimmer, schloss die Tür, nahm das Skalpell zärtlich in die Hand und sah das langsam aufwachende Wesen voller Liebe an. Vielleicht, so überlegte er kurz, sollte er jeden achtundzwanzigsten Monatstag zu einem Feiertag machen. Doch dann wurde er endlich Gottes Schnitzer, denn er machte sie alle gleich, perfekt, symmetrisch.