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Im Bus
Nächtliche Busfahrt
Nächtliche Busfahrt
Ich sitze in einem Bus. Es ist spät abends, lange nach Sonnenuntergang. Draußen regnet es in Strömen, aber im Bus ist es trocken. Die Leuchtröhren unter der Decke tauchen alles in ein unwirkliches, weißes Licht.
Ich bin der einzige Fahrgast in diesem Bus, doch an der nächsten Haltestelle steigt ein Passagier zu. Nein, es sind zwei - eine junge Mutter und ihr kleines Kind.
Sie nehmen in einer der geräumigen Doppelreihen Platz, in der sich vier Fahrgäste gegenüber sitzen können. Ich schaue hinüber. Die Frau ist gerade mal zwanzig, und das Kind, getragen in einem Geschirr vor dem Bauch, ist wohl kaum an die Flasche gewöhnt.
Der Bus fährt wieder an, setzt seinen Weg durch die Dunkelheit und den Regen fort.
Die junge Frau nimmt das Kind aus dem Tragebeutel und setzt es auf den Boden. Es krabbelt herum, dann richtet es sich auf. Vorsichtig geführt von der Hand der Mutter macht es seine ersten Schritte. Es fängt an, herum zu tollen, läuft durch den Bus und füllt ihn mit Leben. Das Kind, nun eindeutig als Mädchen zu erkennen, beginnt zu sprechen. Zuerst nur wenige Worte, später ganze Sätze. Aus dem Rucksack, den die Mutter dabei hat, nimmt sie einige Bücher. Zunächst ein Bilderbuch mit wenigen Worten, bald verlangt sie nach mehr, nach anspruchsvollerer Lektüre. Sie liest viel, wird ruhiger, doch irgendwann beginnt sie einen Streit mit ihrer Mutter, erst leise damit es keiner mitbekommt, dann lauter und unachtsamer. Endlich beendet das Mädchen, zur jungen Frau gereift, den Streit. Sie sagt, dass sie an der nächsten Haltestelle aussteigen wird. Die Mutter ist nicht glücklich, aber ihre Tochter ist nun alt genug um ihren eigenen Weg zu gehen.
Tränen stehen in den von kleinen Falten umspielten Augen der Mutter, als sie ihrer Tochter Lebewohl sagt und sie in die Dunkelheit entläßt. Die Türen schließen sich, und die Tochter winkt ihrer Mutter noch einmal zu, als der Bus weiterfährt.
Die Mutter, nun alleine, packt die Bücher in den Rucksack und schiebt ihn beiseite, zu dem Tragebeutel, den sie schon lange weggelegt hat. Sie schaut zu mir herüber, und ich erwidere ihren Blick. Ihre Augen haben den jugendlichen Glanz verloren, und die Falten mehren sich. Ihre einst so kraftvollen schwarzen Haare werden dünn und grau, an einigen Stellen gar weiß.
Und draußen, auf der anderen Seite des Glases, zieht die Landschaft vorbei. Dunkle Straßenzüge, nur erhellt von einigen Straßenleuchten, finstere Wälder, alles gleichsam benetzt vom Regen.
Endlich kommt auch die Mutter an ihrer Haltestelle an. Sie kann sich kaum alleine von ihrem Sitz erheben, zu schwer liegt die Last des Alters auf ihr. Der Fahrer bietet seine Hilfe an, führt sie die Treppe hinunter. Dann setzt er sich wieder auf seinen Platz, und die Türen schließen sich hinter der Mutter. Sie wird von der Nacht verschluckt, und der Bus fährt weiter.
Ich blicke aus dem Fenster. Alles was ich sehe ist Dunkelheit und Regen. Tropfen, die an der Scheibe herab rinnen.