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Im Dunkeln
Die Tür ließ sich wie immer leicht aufschließen, schwang nach innen auf und stieß dabei gegen den Haufen von Schuhpaaren, die sich im Flur angesammelt hatten und die niemand bereit war, wegzuräumen. Erick Lindbergh lächelte, als er seine Wohnung betrat, denn nichts war schöner, als nach einem langen und ermüdendem Arbeitstag wieder nach Hause zu kommen und seine Frau in der Küche sitzen zu wissen. Als er die Tür geschlossen hatte und sich daran machte, sich seiner Schuhe zu entledigen, stieg ihm bereits der so bekannte Geruch von gebratenen Kartoffeln in die Nase und erst jetzt merkte er, wie hungrig er den ganzen Tag über gewesen war, denn er hatte während der Arbeit fast nichts gegessen.
Schnell begab er sich durch den Flur in die vom Ofen im neben anliegenden Wohnzimmer gewärmte Küche und sah schon durch die halbgeöffnete Tür den Rücken seiner Frau, die am Tisch saß und die Zeitung durchblätterte. Auf Zehenspitzen schlich er sich hinter den Stuhl, auf dem seine Frau saß und ergriff ruckartig ihre Schulter. Sie zuckte zusammen, musste dann aber laut lachen und sagte, ohne sich herumgedreht zu haben:
„Hallo Schatz, wie war dein Arbeitstag? Du hast sicher Hunger, auf dem Herd steht noch etwas.“
Erick begab sich zum Herd und öffnete die Deckel der darauf stehenden Töpfe, dabei stellte er fest, dass sich seine Nase vorhin im Flur nicht getäuscht hatte. Er nahm sich einen Teller aus dem Schrank, der sich rechts oberhalb des Herdes befand, füllte diesen soweit es ging mit Kartoffeln, die zu seinem Erstaunen noch dampften, nahm Messer und Gabel aus einer der Schubladen und ließ sich dann mit einem Seufzer gegenüber von seiner Frau am Küchentisch nieder, die die Zeitung beiseite gelegt hatte und ihm erwartungsvoll in die Augen schaute.
„Na, erzähl doch mal, was heute auf der Arbeit so vorgefallen ist“
sagte sie endlich, als ihr Mann keine Anstalten machte, von sich aus zu erzählen, sondern sich erstmal vorwiegend dem Essen widmete. Doch er unterbrach sich und blickte von seinem Teller hoch.
„Malina, du weißt doch, dass ich in meiner freien Zeit nicht gerne von der Arbeit rede, sonst kann ich keinen Abstand gewinnen. Übrigens sind die Kartoffeln sehr gut“
und wie um die letzten Worte zu unterstreichen, lud er seine Gabel mit Kartoffeln voll und stopfte sie sich in den Mund. Malina stand auf und ging in der Küche umher.
„Du hast Recht, entschuldige bitte. Seit ich wegen unserem Baby nicht mehr arbeite, habe ich einen ganz anderen Rhythmus und vergesse ständig, wie viel du leistest.“
Und sie drehte sich zu ihm, strich sich über den Bauch, der noch gänzliche Rundungen vermissen ließ und lächelte ihn freundlich an. Erick erwiderte das Lächeln, doch er musste schnell den Blick von seiner Frau wenden, weil er ihr nicht länger in die Augen schauen konnte, denn dann hätte sie bemerkt, wie aufgesetzt und unehrlich sein Verhalten schon wieder war. Er beschleunigte das Tempo des Essens und steigerte sich in etwas hinein, was er von den letzten Tagen und Wochen bereits kannte. Es war eine Art Unzufriedenheit mit seiner Situation, denn wenn er sich vorstellte, dass dieser Tageslauf die nächsten Jahre seines Lebens bestimmen würde, dann wuchs in ihm ein Unwohlsein, eine Angst vor der allzu gewissen Zukunft.
Als er sein Mahl beendet hatte, lehnte er sich zurück und stierte vor sich hin, ohne einen bestimmten Punkt mit seinem Blick zu fixieren. Malina trat an ihn heran und wollte den Tisch frei räumen, doch diese Handlung verhinderte Erick, in dem er ihr Handgelenk brutal packte und leicht umdrehte. Er sah in das erschrockene und schmerz Verzerrte Gesicht seiner Frau, die voll Unverständnis sich seinem stählernen Griff zu entwinden versuchte, doch es gelang ihr nicht.
„Lass mich los, du tust mir weh“ konnte sie gerade noch hervorbringen, die ersten Schmerzenstränen liefen schon ihre Backe herunter. Doch Erick dachte nicht im Entferntesten daran, lockerzulassen, sondern schien sich an dem Schmerz seiner Frau zu weiden.
„Weißt du Malina, dieses monotone Leben, Ehe genannt, geht mir schon jetzt furchtbar auf die Nerven. Ich will nicht schon am Abend zuvor genau wissen, wie mein nächster Tag ablaufen wird und außerdem will ich nicht für ein Kind sorgen, dass vielleicht nicht mal von mir ist. Und dann ständig deine Fragerei nach der Arbeit, du weißt doch selbst, dass nie irgendetwas vorkommt.“
Bei den Letzten Worten war es Malina gelungen, den Griff von Erick zu lockern, und jetzt riss sie sich ganz los. Tränen überströmt schrie sie: „Dann lass dich endlich scheiden“ und wollte schon in das Wohnzimmer fliehen, doch Erick hielt sie mit seinen Worten zurück.
„Du weißt genau, dass eine Scheidung unmöglich ist, ich habe deinem Vater alles zu verdanken und ich verehre ihn wie keinen zweiten. Ich weiß nichts mehr, mein Kopf dröhnt und ist leer“, dabei stand Erick auf und in der Bewegung fegte er den Teller mitsamt dem Besteck vom Tisch und der Teller zerbarst klirrend auf dem Boden. Malina schrie kurz auf und rannte dann ins Wohnzimmer, dessen Tür sie laut hinter sich zuschlug. Kaum war sie alleine und durch die Tür abgetrennt von Erick, ließ sie sich in einen der großen Ohrensessel sinken, rollte sich zusammen wie eine schlafende Katze und versuchte, ihrem immer noch anhaltendem Schluchzen Herr zu werden.
Erick indessen verweilte in der Küche und ließ sich wieder auf seinem Platz nieder. Er stützte seinen Kopf mit den Händen, idem er diese an den Schläfen anlegte und fuhr sich immer wieder unruhig durchs Haar. Jetzt war es also doch soweit gekommen, dass er Malina Gewalt angetan hatte und nichts hatte sich dadurch geändert, ganz im Gegenteil. Seine Wut und sein Unwohlsein waren noch längst nicht verraucht, sie wuchsen mit jeder Minute, in der er am Küchentisch sitzen blieb und er verstand es nicht, sie zu kontrollieren. Seine Gedanken wanderten unaufhörlich, ratterten ohne Unterlass durch sein Gehirn und ließen ihm keine Ruhe. Permanent suchte er einen Ausweg, doch fand keinen, verlief sich immer wieder in Sackgassen und wenn er dessen bewusst wurde, steigerte sich dadurch nur seine Aggression. Doch wenn es nur die Aggression gewesen wäre, die es zu bezwingen galt, dann wäre der Zustand, in dem Erick sich befand, um ein Vielfaches leichter in Wohlgefallen aufzulösen. Doch zu den Aggressionen kam ein tiefes Gefühl der Verzweiflung, der Angst und der Hilflosigkeit und dieses Gefühl trieb ihn an den Rande des Wahnsinns, ohne das er dagegen etwas hätte unternehmen können.
Während Erick also in der Küche saß und gefangen blieb in seinen Gedanken, war Malina im Schutze des Ohrensessels in Anbetracht der Situation eingeschlafen, um in ihren Träumen soweit wie möglich der Realität entfliehen zu können. Als sie aufwachte, waren ihre Tränen getrocknet und das brutale Vorgehen von Erick an ihr erschien ihr auf einmal unwirklich, als wäre es nicht geschehen. Sie war tatsächlich unsicher, vielleicht hatte sie wirklich alles nur geträumt und währenddessen geweint, was nicht selten vorkam. Mit einem noch etwas benommenem Gefühl der Schlaftrunkenheit erhob sie sich und musste sich kurz an der Lehne des Sessels abstützen, denn ihr war während des Aufstehens schwarz vor Augen gewesen. Malina konnte nicht im Entferntesten einschätzen, wie lange sie geschlafen hatte. Ihr kam es vor, als wären es mehrere Stunden gewesen, doch es konnten auch nur einige Minuten gewesen sein. Langsam, um bloß kein Geräusch zu verursachen, ging sie zur Küchentür, öffnete leise und schaute vorsichtig hindurch. Ihre Vermutung, alles sein nur ein Traum gewesen, schien sich zu bestätigen, denn Erick saß friedlich mit ineinander verschränkten Händen am Tisch und hatte die Augen geschlossen. Nichts an seinem Mienenspiel wies mehr auf die Brutalität und die Grobheit seines Vorgehens hin, Malina war es, als ob da eine andere Person sitzen würde. Sie ließ sich auf dem Platz gegenüber von ihm nieder und verrückte dabei leicht den Stuhl, woraufhin Erick die Augen öffnete. Für einen Moment erschrak Malina, doch sie beruhigte sich schnell wieder, denn der Blick von Erick ruhte so sanft auf ihr, wie sie das von früheren Tagen gewöhnt war. Als er anfing zu sprechen, war auch ihr letzter Zweifel endgültig verschwunden, denn seine ruhige und wohlklingende Stimme nahm ihrer Angst jeden Nährboden:
„Malina mein Schatz, wo warst du denn, ich habe dich überall im Haus gesucht, aber alles war dunkel. Bist du gerade erst nach Hause gekommen?“
Malina musste nicht lange zögern um zu antworten: „Nein Liebling, ich war müde und habe mich im Wohnzimmer kurz zur Ruhe gelegt, dabei muss ich eingeschlafen sein. Stell dir vor, ich habe etwas Fürchterliches geträumt.“
Erick schien erschrocken: „Komm, setz dich auf meinen Schoß und erzähle mir, was dich so verängstigt hat, du bist ja ganz blass. Ich will dich umarmen, dann werden deine Träume schon verschwinden.“
Malina kam der Forderung ohne Zögern nach, stand auf, umrundete den Tisch und setzte sich auf den Schoss ihres Mannes, der bereitwillig ein wenig vom Tisch weggerückt war, sodass Malina auf seinem Schoss genug Platz haben würde. Kaum hatte sie Platz genommen, schlang sie ihre Arme um ihn und flüsterte etwas liebevolles in sein Ohr. Doch Erick erwiderte die Umarmung nicht, hörte auch die Worte nicht, obwohl sie direkt neben seinem Ohr ausgesprochen wurden.
Wo das Messer in seiner rechten Hand herkam, konnte nur er selbst wissen. Er griff es fest am Schaft, holte kurz aus und rammte es seiner Frau tief in ihr Schulterblatt, die daraufhin laut aufschrie, aber nicht mehr die Geistesgegenwärtigkeit besaß, sich zu wehren (vielleicht war es auch schon der stechende Schmerz, der sie betäubte), denn Erick stach noch zwei weitere Male auf sie ein, bevor er sie von sich stieß. Sie knallte mit dem Kopf auf die Tischkante, fing heftig an zu bluten und fiel neben Erick auf den Boden. Obwohl Malina wahrscheinlich schon tot war, stürzte sich Erick auf die am Boden liegende und stach weiter besinnungslos auf sie ein in Brust und Bauch. Nach unbestimmbarer Zeit ließ er ab, fiel keuchend neben der Leiche zu Boden und ließ das Messer aus seinen Fingern gleiten, das klirrend auf den Küchenboden fiel und diesen mit Blut bespritzte.
Auf dem Rücken liegend und immer noch schwer nach Luft schnappend starrte Erick mit weit aufgerissenen Augen die Küchendecke an und versuchte sich damit zu beruhigen, denn er zitterte am ganzen Körper. Doch das Zittern ließ so nicht nach, nur sein Atem beruhigte sich allmählich. Er fühlte einen Adrenalinstoß nach dem anderen wie Turm hohe Wellen über seinem Körper zusammenschlagen und jedes Mal zuckte er zusammen, als sei er mit einer Nadel gestochen worden. Als er die ständigen Stromschläge, die nicht aufzuhören schienen, nicht mehr ertrug, setzte er sich auf und stützte seine Ellenbogen auf die Knie, um seinen Kopf auf den Händen ablegen zu können. So verharrte er, bis die Haltung ihn anfing zu schmerzen und er nur noch Leere und ein Gefühl von Abgestorbensein in sich fühlte.
Langsam stand er auf und betrachtete die Leiche seiner Frau von oben. Sofort verschwand das Gefühl der Leere und wurde ersetzt durch einen erbarmungslosen Messerstich, der in alle seine Glieder gleichzeitig einzudringen schien und der erste Bote seines sich noch weiter ausbreitenden Schuldbewusstseins war. Er krümmte sich, konnte die Schmerzen nicht ertragen und fing lautlos an zu weinen. Doch der Schmerz steigerte sich, die Tränen flossen schnell und unaufhaltsam und er griff die Leiche bei den Schultern, schüttelte sie, wollte sie aufrichten, als könne er sie so wieder zum Leben erwecken. Als er bemerkte, was ihm von Anfang an hätte klar sein müssen, steigerte er sich nur noch weiter in seine Bemühungen, schrie unverständliches Zeug und brach irgendwann vor Erschöpfung über ihr zusammen. Die Messerstiche hielten unaufhörlich an und zu ihnen gesellten sich jetzt die Gedanken der Schuld. Als ob er es nicht ertragen konnte, sie in sich zu spüren, sprach Erick wimmernd seine Gedanken aus, um sie so von sich weg zu Schieben:
„Was hast du getan? Du bist ein Mörder. Du hast deine Frau umgebracht.“
Dabei wurde er immer lauter, seine Stimme festigte sich, bis er am Ende schrie: „Du bist kein Mensch und dafür musst du bestraft werden!“
Dann herrschte wieder Stille, in der sich die letzten Worte ungehindert ausbreiten konnten. Zum ersten Mal nach seiner Tat konnte Erick jetzt einen klaren Gedanken fassen und der stand in unmittelbarer Verbindung zu dem, was er als letztes geschrien hatte. Seine einzige Möglichkeit, sich von den Messerstichen der Schuld zu befreien, bestand ganz einfach darin, sich selbst der Polizei auszuliefern. Dann mussten seine Schmerzen so plötzlich wie sie aufgetaucht waren auch wieder verschwinden, denn er sagte sich, dass seine Selbstauslieferung sein Gewissen verstummen lassen müsste. Er konnte die Tat, die er so sehr bereute, jetzt nicht mehr rückgängig machen, also blieb ihm nur übrig, mit den Konsequenzen zu leben. Er überlegte noch eine Weile hin und her, was aber zu nichts mehr führte und stand dann wie in Trance auf, um sich zum Telefon des Hauses zu begeben, was im Schlafzimmer des zweiten Stocks stand, um von dort die Polizei anzurufen und seine Tat zu gestehen.
Kurz bevor er die Küche zum Treppenhaus hin verließ, drehte er sich noch einmal zu seiner Frau herum, als bitte er sie um Rat, doch diese schien ihn mit ihrem Schweigen bestrafen zu wollen. Mit entschlossenem Schritt verließ Erick die Küche, begab sich über den Flur zu den Treppen, die in den zweiten Stock führten, und brachte diese mit ein paar hastigen Sprüngen hinter sich. Als er oben angekommen war und die Tür zum Schlafzimmer, die direkt links neben dem letzten Treppenabsatz lag, betreten hatte, bewegte er sich schnell zum Ehebett, ließ sich auf diesem nieder und griff nach dem Telefonhörer, der auf einem Nachtschränkchen neben dem Bett lag. Schnell tippte er die Nummer der Polizei ein und wunderte sich unwillkürlich, dass er sie auswendig kannte, doch da ertönte schon das Freizeichen. Ericks Herz schlug schneller und ihm wurde heiß, doch er legte den Hörer nicht beiseite und nach dem fünften Klingeln meldete sich eine männliche Stimme: „Polizeistation Frankfurt?“
Dann herrschte Schweigen in der Leitung, weil Erick sich nicht überwinden konnte, etwas zu entgegnen. Seine Hände waren schweißnass, sein Haar klebte in Strähnen an der Stirn und das Zittern hatte wieder angefangen, weswegen ihm fast der Hörer aus der Hand geglitten war.
„Gibt es einen Notfall? Wenn sie nicht sprechen können, dann geben sie irgendwelche Geräusche von sich, sonst können wir ihnen nicht helfen!“ sagte der Polizist routiniert, als hätte er solch eine Situation schon viele Male erlebt und wahrscheinlich war das auch der Fall. Erick hatte von den Worten des Polizisten nichts mitbekommen, sein Kopf schmerzte fürchterlich und er stand kurz davor, aufzulegen. Doch sann besann er sich eines anderen, richtete sich auf und konzentrierte sich. Seine Kopfschmerzen verschwanden augenblicklich und mit ruhiger und gefasster Stimme sprach er in den Hörer:
„Ich habe meine Frau umgebracht und will mich ihnen stellen.“
Am Atem des Polizisten, der plötzlich etwas schneller ging, merkte Erick, dass er soeben mit seinen Worten die Ebene der Routine verlassen hatte. Doch sein Gesprächspartner beruhigte sich sogleich und fragte:
„Wo befinden sie sich und wo liegt ihre Frau?“
Ohne zu zögern, weiterhin mit ruhiger Stimme entgegnete Erick:
„Ich sitze im Schlafzimmer meines Hauses, im zweiten Stock, wenn sie es genau wissen wollen. Meine Wohnung liegt in der Landsberger Straße 210. Ich bin unbewaffnet und werde auf sie warten.“
Irgendetwas, wahrscheinlich war es die Ruhe Ericks, schien den Polizist zu verunsichern, denn er fragte:
„Und sie machen auch keine Scherze? Sie wissen hoffentlich, das dass eine Menge Ärger für sie bedeuten würde.“
Erick hielt es nicht für nötig, auf die Frage des Polizisten einzugehen und bevor er den Hörer ohne Verabschiedung auflegte, entgegnete er noch:
„Meine Frau liegt in der Küche neben dem Stuhl. Beeilen sie sich.“
Nach dem Gespräch blieb er auf dem Bett sitzen und fühlte fast eine Art Erleichterung, denn das Schlimmste hatte er hinter sich gebracht und jetzt musste er nur noch auf die gerechte Strafe, die ihm ohne Zweifel bevorstand, warten. Der stechende Schmerz war verschwunden, seit er das Gespräch beendet hatte, also musste es wirklich sein Gewissen gewesen sein, dass er so beruhigt hatte. Erst jetzt merkte Erick, dass dieser Schmerz fast das einzig Ausschlag gebende gewesen war, weswegen er sich ohne große Umschweife gestellt hatte und nicht sein Verstand, der die ganze Zeit über geschwiegen hatte. Auch jetzt schwieg alles in Erick, er erlebte seine Außenwelt nur noch durch einen Schleier, der keine unmittelbaren Gefühlsempfindungen an ihn heran ließ und auch sein Innenleben schien gänzlich abgestumpft zu sein. Mit dem Mord an seiner Frau hatte er auch einen Mord an einem Teil seiner Persönlichkeit begangen und noch wusste er nicht, wie sehr er sich später durch seine Tat ändern würde. Im Moment lastete nur die Schuld auf ihm, die er in seiner Leere zwar nicht wahrnahm, da die Leere einem Schutzschild gleichkam, dass ihn von den Gefühlen der Schuld, die ihn stark überfordern würden, fernhielt und auch alle anderen Gefühle wurden als Gefahr angesehen und somit von dem Schutzschild nicht an ihn heran gelassen. So saß er wie betäubt eine Zeit lang auf dem Bett und starrte ins Nichts, bis er plötzlich Schritte auf der Treppe hörte, die ihn etwas aus seiner Lethargie aufschrecken ließen, aber nur so viel, dass sein Blick klarer wurde und sich jetzt mit großer Erwartung auf die sich gleich aller Wahrscheinlichkeit nach öffnenden Tür richtet.
„Endlich wird mir eine gerechte Strafe zuteil und ich muss mich um nichts mehr kümmern, muss mich nur noch meinem Schicksal übergeben“ waren seine letzten Gedanken, bevor sich die Tür mit einem lauten Knarren öffnete und ein noch sehr jung wirkender Polizist das Schlafzimmer betrat. Erick tat es beim Anblick dieses jungen Menschen fast leid, dass dieser sich mit seiner schrecklichen Tat befassen müsse, aber das schien unumgänglich. Bereitwillig, in Erwartung der Verhaftung und der Handschellen, die sich gleich sicherlich um seine Handgelenke legen würden, wie er es schon tausendmal im Fernsehen beobachtet hatte, stand Erick auf, tat einen Schritt auf den Polizisten zu und streckte erwartungsvoll seine Hände nach vorne. In diesem Moment hatte sich Erick mit allem abgefunden und wartete sehnsüchtig auf eine Handlung des Polizisten, die ihm seine Schuld bestätigen würde, doch der junge Mann tat ihm diesen Gefallen nicht, sondern fragte nur leise und ruhig:
„Sie sind Herr Lindbergh?“
Erick nickte kurz und war verwundert über diese Frage, denn wer solle er denn sonst sein, doch er hatte keine Zeit, darüber nachzudenken, denn der Polizist hatte ihn freundlich aufgefordert, sich doch wieder zu setzen und Erick kam dieser Aufforderung mechanisch nach. Als er sich gesetzt hatte, sagte er:
„Ich bin froh, dass sie gekommen sind. Ich werde alles gestehen und erwarte meine gerechte Bestrafung.“
Bei den Worten hatte er an den Polizisten, der vor ihm stand, vorbeigestarrt und sein Tonfall hörte sich so an, als ob er den gesprochenen Text auswendig gelernt hatte. Wieder setzte der Polizist an:
„Sie waren es also, der bei uns angerufen hat, um den Mord an seiner Frau zu melden?“ Bei dem Wort Mord zuckte Erick kurz zusammen, wurde dann aber etwas ungehalten. Warum verhaftet er mich nicht einfach? Will er mich quälen? Doch äußerlich ließ er sich nichts anmerken und entgegnete:
„Ja richtig, das war ich. Meine Frau oder besser gesagt ihre Leiche haben sie sicherlich schon gefunden.“
Nach einer kurzen Pause sprach er weiter, konnte diesmal die Ungeduld in seiner Stimme aber nicht mehr ganz so gut verbergen:
„Nehmen sie mich jetzt mit oder wie geht es weiter?“
Der junge Polizist zögerte etwas mit seiner Antwort und langsam wurde Erick unangenehm zumute, denn so langwierig hatte er sich den Prozess seiner Verhaftung nicht vorgestellt.
„J... Herr Lindbergh, die Sache ist folgende: Ihre Frau sitzt lebend bei meinem Kollegen unten in der Küche. Sie ist etwas mitgenommen, da es nach ihrer Aussage zwischen ihnen beiden eine Auseinandersetzung gegeben hat, aber...sie lebt.“
Erick konnte sich ein kurzes, sarkastisches Lachen nicht verkneifen und entgegnete schnell:
„Ich weiß, dass meine Tat menschenunwürdig war, doch sie müssen mich nicht noch unnötig quälen.“
Der Polizist hatte einen Schritt auf ihn zugetan und kniete sich nieder, so dass er sich auf Augenhöhe mit Erick befand und setzte an:
„Herr Lindbergh, ich will sie keinesfalls quälen, ihre Frau lebt, sie werden ja sehen. Mein Kollege und ich werden sie gleich alleine lassen, doch ich empfehle ihnen dringend, unverzüglich einen Arzt aufzusuchen und vielleicht sollten sie etwas weniger arbeiten.“ Als wäre es abgesprochen, klopfte es, kaum hatte der Polizist verstummt, an der Schlafzimmertür. Der Polizist ging hin und öffnete, führte ein kurzes Gespräch, von dem Erick kein Wort verstand und drehte sich dann nochmals zu diesem herum:
„Wir lassen sie jetzt alleine, Herr Lindbergh. Tun sie da, was ich ihnen gesagt habe.“ Erick wollte ihn zurückrufen, doch er kam nicht dazu, denn der junge Polizist war schon durch die Tür verschwunden und anstatt seiner stand Malina, mit verschränkten Armen an den Rahmen gelehnt, in der Tür. Sie schaute ihn besorgt an, doch Erick hielt ihrem Blick nicht stand und verdeckte seine Augen mit den Händen. Er war dermaßen aufgewühlt und verwirrt von dem Anblick seiner Frau und dem vorhergegangenen Auftritt des Polizisten, dass er nicht imstande war zu sprechen. Der stechende Schmerz war wieder da, genauso intensiv und erbarmungslos wie zuvor, doch diesmal wusste Erick nicht, wie er ihn abstellen sollte. Wer würde ihn denn jetzt bestrafen? Musste er es am Ende selbst tun? Erick hatte so sehr damit gerechnet, für seine Tat zur Rechenschaft gezogen zu werden und jetzt sollte er sie noch nicht einmal begangen haben? Seine Gedanken schafften es einfach nicht, sich auf die veränderte Situation umzustellen, er konnte sich nicht freimachen von seinem Schuldbewusstsein und aus seiner ganzen Hilflosigkeit heraus schaute er seine Frau an, die immer noch unverändert im Türrahmen stand, so als wolle er sie um Hilfe bitten.
„Erick, wir haben doch nur miteinander gestritten“ sagte sie langsam und zögernd, aber ohne Überzeugung und anscheinend merkte sie das selbst, denn sie senkte betroffen den Blick.
Erick wollte etwas entgegnen, tausende von Gedanken schossen ihm durch den Kopf, die sich miteinander vermischten und so keinen Sinn mehr ergaben, sich seiner Vernunft, die ihm zur Hilfe eilen wollte, bemächtigend und damit jegliche Antwort, die Erick für möglich erachtete, schon bevor er sie aussprach, als schwachsinnig und unangebracht zu entlarven.
„Ich...ähm..bin schuldig...Mörder!“ brachte er stockend hervor, wusste selbst, dass dies kein zusammenhängender Satz gewesen war und bezweifelte, dass seine Frau auch nur einen Bruchteil davon verstanden hatte. Er nahm sich zusammen und fixierte Malina mit seinem Blick, um sich besser konzentrieren zu können und sagte:
„Wer bestraft mich denn jetzt?“
Malina ließ darauf hin die verschränkten Arme sinken, löste sich vom Türrahmen und setzte sich neben ihn. Zärtlich strich sie ihm über die Haare und sprach dabei.
„Niemand wird dich bestrafen, du hast nichts getan, für das man dich bestrafen sollte.“ Diesmal klangen ihre Worte schon überzeugender und Erick war sofort bereit, ihr zu glauben.
„Aber ich habe es noch genau vor Augen und fühle die Schuld“ sagte er unsicher; als er die letzte Silbe ausgesprochen hatte, nahm Malina seine Hand und legte sie auf ihren Oberschenkel, den sie bewegte.
„Siehst du, ich bin noch genau so lebendig wie vor ein paar Stunden. Wenn du mich wirklich umgebracht hättest, würde ich sicherlich nicht neben dir sitzen.“
Die Schlagkräftigkeit dieses Arguments, das einfach nicht von der Hand zu weisen war, überzeugte Erick vollends.
„Dann muss ich wohl geträumt haben“ murmelte er, mehr zu sich selbst als zu seiner Frau, doch diese schien es verstanden zu haben und war offensichtlich sehr erleichtert davon, ihren Mann endlich von seinen irrigen Annahmen weggebracht zu haben.
„Ja, du hast geträumt. Du solltest weniger arbeiten und dir mal ein paar Tage Ruhe gönnen. Wenn du mit meinem Vater sprichst, wird er das sicherlich verstehen.“
Erick hatte ihr nicht mehr zugehört, denn er stellte sich die Frage, wo sein Traum angefangen und wo er geendet hatte, denn der Polizist war ja sehr real, also musste auch der Anruf stattgefunden haben. Nachdenklich fragte er Malina:
„Wie ist der Abend verlaufen? Ich will wissen, was ich geträumt habe und was nicht.“ Seine Frau war für einen Moment überrascht, dass er ihr nicht auf ihren Vorschlag eingegangen war, doch auch mit dieser Frage schien sie gerechnet zu haben und entgegnete:
„Ja, was hast du geträumt? Um offen zu sein, wir haben uns gestritten und du warst nicht besonders nett zu mir.“
Bei dem Gedanken an den Streit wich kurz das ständige Lächeln von Malinas Gesicht, als würde sie die Auseinandersetzung noch einmal erleben. Doch Erick ließ ihr die Zeit dazu nicht, denn erfragte ungeduldig:
„Und wie ging es dann weiter?“
Malina ließ sich mit ihrer Antwort etwas Zeit, was die Ungeduld Ericks noch steigerte, doch er unterbrach sie nicht und sie konnte weiter Sprechen:
„Ich bin daraufhin ins Wohnzimmer gegangen und habe mich dort etwas hingelegt. Ich hörte, wie du die Treppen herauf gingst und nahm an, dass auch du dich zur Ruhe legen würdest, denn du wirktest von der Arbeit sehr mitgenommen. Ich wollte dir deine Ruhe gönnen und schlief selbst ein. Dann wurde ich von der Haustürklingel geweckt und den Rest kennst du ja. Ich kann mir das nur so erklären, dass du hier eingeschlafen bist, deinen furchtbaren Traum hattest und direkt nach dem Aufwachen die Polizei angerufen hast.“
Malina hatte geendet und jetzt schwiegen beide, weil es nichts mehr zu sagen gab. Erick fühlte wieder die ihm bekannte Leere, die zwar nicht sonderlich angenehm war, aber im Gegensatz zu den Stichen eindeutig das kleinere der beiden Übel bildete. Er hatte seine Frau also doch nicht umgebracht, dessen konnte er sich jetzt sicher sein. Erleichterung ergriff ihn und zum ersten Mal seit langer Zeit fühlte er sich wieder hingezogen zu seiner Frau. Vielleicht hatte der Traum ja auch seine guten Seiten, vielleicht hatte er ihn die Vorzüge des Ehelebens gelehrt, die Erick auf einmal viel intensiver wahrnahm als die schon bekannten Nachteile. Er legte seinen Arm um seine Frau und zog sie sanft zu sich hin, sie legte voller Vertrauen ihren Kopf auf seine Schulter.
„Ich werde mir bis zum Wochenende frei nehmen und dann reisen du, das Kind und ich ans Meer, so wie wir beide es früher immer getan haben.“
Dem Gesichtsausdruck Malinas ließ sich, ohne eine großer Menschenkenner zu sein, leicht ablesen, wie sehr sie sich über seine Worte freute.
„Und jetzt legen wir uns schlafen, du bist bestimmt genau so müde wie ich und außerdem ist morgen ein neuer Tag, an dem für uns alles von vorne beginnt.“
Sie blieben noch eine Weile unverändert sitzen so sitzen und genossen die Zweisamkeit, die sie beide für verloren geglaubt hatten. Dann sanken sie gleichzeitig, ohne sich abzusprechen, auf dem Bett nieder, streckten ihre Beine aus und schliefen, ohne sich vorher entkleidet oder die Zähne geputzt zu haben, eng umschlungen nebeneinander ein.
Die Helligkeit im Zimmer weckte Erick, obwohl sein Schlafzimmer eigentlich auf der von der Sonne abgewendeten Seite lag. Er tastete nach seiner Frau und empfand noch immer das angenehme Gefühl von gestern Abend, bevor er eingeschlafen war. Seine Träume lagen weit hinter ihm und erschienen bereits so unwirklich, wie sie es ja eigentlich auch waren. Seine tastende Hand hatte keinen Erfolg, anscheinend war Malina bereits aufgestanden, weil sie es vor Hunger im Bett nicht mehr ausgehalten hatte.
Erick lächelte mit noch immer geschlossenen Augen; seine Ehe hatte für ihn durch den gestrigen Abend völlig neue Aspekte gewonnen, denn noch nie hatte er Malina so stark vermisst wie gestern und noch nie hatte er sich ihr so nah gefühlt wie vor dem Einschlafen. Er drehte sich weg von der Wand zur Mitte des Bettes um noch ein wenig den angenehmen Halbschlaf, der ihn wie ein dunkles Tuch umhüllte, zu genießen. Seine Hand und sein Arm baumelten, nachdem er sich umgedreht hatte, über die Bettkante und diese an sich so unbedeutende Tatsache ließ ihn abrupt aufschrecken. Sein Bett war viel größer, wie konnte sein Arm über die Kante hängen, wenn er sich von der rechten Ecke zur Mitte gerollt hatte? Er zwang sich, langsam die Augen zu öffnen und nahm zu Anfang alles nur verschwommen wahr. Doch schnell wurde ihm bewusst, dass er sich nicht mehr in seinem Schlafzimmer befand. Genau in diesem Moment erschallte laut eine kalte, bestimmt klingende Stimme, die er schon einmal irgendwo gehört hatte. Diese Stimme veranlasste ihn, seine Augen weit aufzureißen und kaum hatte er das getan, kehrte der stechende Schmerz zurück. Er befand sich in einer engen Gefängniszelle mit weißen Wänden, in der außer dem schmalen Bett, auf dem er sich mittlerweile aufgesetzt hatte, sich weiter nichts befand als ein verdrecktes Waschbecken in der rechten Ecke. Nachdem er sich einmal verwundert umgeschaut hatte, blieb sein Blick auf dem Polizisten hängen, der sich auf der anderen Seite der Gitter befand, die gegenüber von Erick lagen. Der Polizist war Erick wohl bekannt, es war der gleiche, der ihn in seinem Schlafzimmer aufgesucht hatte. Doch etwas an ihm hatte sich verändert: Seine sonst so weichen Züge ließen jede Barmherzigkeit vermissen, sie wirkten wie eine Maske, hinter der sich ein anderer Mensch versteckte. Seine Stimme ließ ähnliches vermuten; Erick hatte sie als mitfühlend und wohlklingend dezente Stimme in Erinnerung gehabt, doch auch davon war keine Spur übrig geblieben. Als der junge Polizist merkte, dass Erick ihn anstarrte, ließ er wieder seine keinen Widerspruch geltende Stimme erklingen:
„Herr Lindbergh, sind sie endlich wach?“
Ohne Erick Zeit für eine Antwort zu lassen, die er anscheinend auch gar nicht erwartete, redete er unbeirrt weiter.
„Beeilen sie sich mit dem Ankleiden, sie sind spät dran. In einer halben Stunde erwartet man sie vor Gericht. Den Mord an ihrer Frau haben sie ja schon gestanden, heute geht es vor allem darum, ob sie des Doppelmordes für schuldig erklärt werden.“