Mitglied
- Beitritt
- 31.03.2015
- Beiträge
- 3
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 6
Im Eimer
„Ziehen Sie mich aus, legen Sie mir die Maske an, binden Sie mir die Leine um den Hals, werfen Sie mich zu Boden und lassen Sie mich auf allen Vieren hinter Ihnen kriechen.“, sagt der Mann im Anzug und dem seidenen Hemd, dessen Gesicht ganz rot angelaufen ist. „Ziag di sölber aus, du unsölbstsändigs Viehal!“ schreit die Frau den Mann aus nur wenigen Zentimetern Entfernung an, während sie ihm eine Hundemaske aufsetzt. Der Mann beginnt sofort seine Krawatte aufzufädeln und sein seidenes Hemd aufzuknöpfen - für die Manschettenknöpfe des reinen, weißen Hemdes braucht er mehrere Sekunden. Mit zitternden Händen befreit er sich von seinen Schuhen und zieht Hose und Unterwäsche über die Beine. Nun, da er nur noch Socken anhat, streift die Frau ihm ein benietetes Halsband über den Kopf und befestigt daran eine Leine aus Leder. Dann gibt sie ihm plötzlich einen kräftigen Stoß und der darauf unvorbereitete Mann fällt auf die Knie. Sie nimmt die Leine und führt den Mann über den grauen Betonboden, als würde sie mit ihm „Gassi gehen“. Sie befiehlt: „Bilingual bellen!“ und der kriechende Mann bellt bilingual, also auf französisch und deutsch: „Wuff, Wuff“ und „Wau, Wau“. Die Frau ist zufrieden.
Die Zufriedenheit wird jedoch bald von Ekel abgelöst, der ihr das Gesicht verzerrt: Nur Sekundenbruchteile nachdem sie „Sehr Brav!“ gesagt hat, versucht der Mann an ihrem linken Bein hochzuspringen, um sein pulsierendes Glied an ihrem rechten Oberschenkel zu reiben. Die Frau muss jetzt reagieren, will sie die Kontrolle nicht verlieren! Sie wirft den Mann mit einer einzigen Bewegung zu Boden, dreht ihn auf den Rücken und befiehlt ihm, liegen zu bleiben. Mit angewinkelten Beinen liegt der Mann nun auf dem Rücken und streckt die offenen Handflächen in die Luft. Er winselt, die Frau nimmt derweilen aus ihrem Gurt eine kleine Peitsche und versetzt ihm einige Hiebe. „Bösartig bist du!“ Einige Tropfen Urin tropfen aus dem Mann hinaus und ergeben dunkle Flecken auf dem grauen Boden. Die Frau führt ihn aus Angst um ihr schönes Interieur zu zwei Blecheimern, die in einer kleinen Nische stehen. Der Mann setzt sich und macht es sich bequem.
Leider hatte Herr Niemann heute schon den ganzen Tag mit Magenkrämpfen und Durchfall zu kämpfen. Den Termin abzusagen war aber für ihn nicht in Frage gekommen, zu lange schon hatte er sich auf Frau Domenica gefreut. Und Frau Domenica war schließlich fast immer ausgebucht. Die inzwischen gealterte, doch im Alter nur schöner werdende, Wiener Domina zeigt wieder einmal, warum sie bei ihrer Kundschaft derart beliebt ist. Was nämlich jetzt folgt (ja was hätten andere über Niemann gelacht!), lässt sie scheinbar gleichgültig, sie nimmt alles wahr: Die verzerrte Haltung gewindeter Gliedmaßen, den penetranten Geruch und den Lärm, wie von explodierenden Bohnen. Auf dem Blecheimer sieht Niemann aus, als hätte ihn ein Parkinsonkranker mit unruhigen Zügen dort hinaufgemalt. Nach etwa einer Stunde ist das Schauspiel zu Ende, der Eimer bis zum Rand gefüllt und Niemann fertig. Er hat soviel Körpervolumen verloren, dass er in den Eimer hinunterrutscht, so tief, dass nur noch seine Füße und sein Kopf aus dem Eimer hinausragen. Flutsch! und Niemann steckt von den Knöcheln bis zum Hals in der Scheisse. Er kann seine Arme nur langsam aus dem Flat herausbewegen und sich mit ihnen über den Eimerrand aus dem Dreck herausziehen. Dann zieht er etwas zu ruckartig, sodass er vornüber auf den Bauch fällt und der Inhalt des Eimers über seinen Rücken, in den Nacken bis in sein Haar fließt. Sein Körper hat sein altes Ich fast völlig ausgestoßen. Ein bisschen geht freilich immer noch: Der Geruch setzt seinem Magen zu, ein allerletztes Tröpfchen Gallenflüssigkeit fällt auf den Boden.
„Jetz ist da Boden erst total dreckig!“, denkt Frau Domenica. Sie schreitet ein und bricht aus ihrer Beobachterinnenrolle aus, zeigt ihre Menschlichkeit und hilft aus Mitleid. Sie schüttet Herrn Niemann das kalte Wasser aus dem zweiten Blecheimer über den Körper, um ihn von sich selbst zu reinigen. Dann gestattet sie ihm, die Maske abzulegen. Sein ausgemergeltes und ausgeleiertes Gesicht kommt zum Vorschein. Wieder Mensch geworden, begibt sich Niemann aufrecht und nicht ohne Stolz zu jener Stelle, an der er seine Garderobe abgelegt hatte.
Frau Domenica muss sich bereits auf den nächsten Kunden vorbereiten. Kurz bevor sie durch eine Türe verschwindet, die Bruno Niemann in der Aufregung gar nicht wahrgenommen hatte, kann er noch einen letzten Blick auf die barmherzige Geliebte werfen, deren Antlitz einen wohligen Schauer in ihm auslöst. Als er nach einer warmen Dusche in die kalte Nacht hinaustritt, funkeln, im Licht der Laternen, die getrockneten Tränen der Rührung auf seiner Wange. Sie funkeln schillernder, als die Diamenten im Schaufenster des Juweliers von Gegenüber, welche gemütlich das nächtliche Mondlicht reflektieren.