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Im Gasthof zur Ewigkeit

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11.03.2003
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Im Gasthof zur Ewigkeit

Der Moment hastet stumm an mir vorbei und als ich ihn aufhalten will, verschwindet er im nachtgetränkten Wirtshaus. Mein Seufzer verebbt in den Wellen der Abwasserkanäle. Nicht eine Sekunde lang hat dieser Moment angehalten, um sich mit mir zu unterhalten. Früher einmal, da habe ich geglaubt, ihn zu kennen. Und mit ihm zusammen zu sein, eine Unendlichkeit lang.

Aber die Stunden verrannen zu schnell, als dass meine trüben Sinne sie hätten festhalten können und nun stehe ich hier, in dieser Gasse, Lärm schallt aus dem Innern der Kneipe, in deren Innern dieser Moment entschwunden war. Ich öffne die schwere Eichentür. „Zur Ewigkeit“ steht auf dem hölzernen Schild oberhalb der Tür, doch die Farbe blättert bereits ab – ist die Unendlichkeit schon vorbei? Ich zögere, will ich doch nicht einer bereits verbrauchten Ewigkeit begegnen. Schliesslich trete ich ein, huste ob dem Zigarrenrauch. Da sitzen sie beieinander, ich sehe meinen Moment, er sitzt dort, zwischen Liebe, Hass und der Wirtin, der Unendlichkeit. Ich bleibe unschlüssig stehen, doch als der Glaube röchelnd und nach Rotwein stinkend an mir vorüberwankt, mache ich einen Schritt vorwärts in die Kneipe – der Glaube öffnet die Tür und krachend fliegt sie wieder zu. Nun sitzen sie alle da, gottlos – ist doch der Glaube nach Hause gegangen. Ich stehe inmitten der Grossen.
Würden mich die Gäste nicht so sehr faszinieren, müsste ich mir eingestehen, dass ich diesen Ort widerlich finde. Aber ich beobachte Liebe, Hass, Unendlichkeit und meinen Augenblick. Sie spielen Skat. Interessiert verfolge ich ihren Zeitvertreib. Liebe verliert. Unendlichkeit gewinnt, aber nur das eine Spiel. Danach hat Hass alles im Griff und die anderen werden wütend. Mein kleiner Moment will sie überall einmischen, aber die anderen wollen zu dritt weiterspielen und keiner von ihnen mag auf das nächste Spiel verzichten. Mein Moment sitzt stumm nun da und schmollt. Nun werde ich wütend auf die anderen drei Spieler – warum nur darf mein Moment nicht spielen? Ich trete zum Skattisch.

„Was glaubt ihr eigentlich? Er will auch spielen!“

Alle blicken sie mich an, alle die grossen und berühmten Hohlheiten. Ich rede mich in Rage, will die qualmenden Spieler von der Notwendigkeit meines Moments überzeugen. Sie schweigen, was hätten sie auch zu sagen? Aber auch, als ich meine Rede beendet haben, schweigen sie mich an – als ich in ihre Augenhöhlen blicke, weiss ich auch, warum. Ich schlage blind zu, die Wirtin trifft es zuerst: Meine Faust lässt eine riesige Platzwunde entstehen. Doch dahinter befindet sich nicht das erwartete Gehirn, keine ewigen Weiden, kein Universum mit Unendlichkeit – nur Leere. Wirklich nichts. Ein wenig erstaunt stolpere ich zurück. Liebe und Hass starren mich an, doch auch hinter ihren Augen erkenne ich die Hohlheit ihrer Existenz. Sie stehen noch da, als könnten sie nicht begreifen, dass die Unendlichkeit nun weg ist und sie kein Bier mehr bekommen können.
Ehe ich erneut habe zuschlagen können, sind sie zum Hinterausgang – durch die nun leere Küche – geflohen und zurück bleibt der Qualm, der harrt noch aus, obwohl kein Bier mehr ausgeschenkt wird. Und mein Moment? Er sitzt noch am selben Ort und bleibt durstig. Ich schaue ihm nicht in die Augen, irgendwie habe ich ihn lieb gewonnen.

Mangels dritten Spielers lassen wir das Skatspiel bleiben und ich bringe uns ein Bier. Ohne zu zahlen.

 

Hallo Marana!

Wirklich seltsame Geschichte. Aber man merkt schon beim ersten Mal Lesen, dass das ein Gleichnis oder ähnliches sein muss, weil man schon in jedem Satz die Bedeutungsschwere spürt, der Text schreit förmlich danach, interpretiert zu werden.

Aber das Leichtere zuerst, ich hab ein paar Detailanmerkungen:

– ist die Unendlichkeit schon vorbei? Ich zögere, will ich doch nicht einer bereits verbrauchten Ewigkeit begegnen.
Das hast du einige Male, diese Nachsätze. Das wirkt auf mich, als würdest du unbedingt sicher gehen wollen, dass man als Leser merkt, dass ein bestimmter Satz oder ein bestimmtes Wort von Bedeutung sind und es einem ja nicht entgeht. Aber ich glaube, das ist gar nicht nötig, du opferst hier die Wirkung dem Verständnis. Aber man kann es auch ohne diese Nachsätze verstehen, wenn man sich mit dem Text beschäftigt, und das muss man ohnehin, deshalb würde ich das ersatzlos streichen.
huste ob dem Zigarrenrauch.
Hier bin ich mir nicht sicher, aber ich würde lieber den Genitiv verwenden: huste ob des Zigarettenrauches. Besser klingt es jedenfalls.
zwischen Liebe, Hass und der Wirtin, der Unendlichkeit.
Das finde ich ziemlich gut, aber es würde für mein Empfinden besser klingen, wenn der Satz nach "Wirtin" zu Ende wäre. Weil es so absurd ist eben, zwei Emotionen personifiziert neben einem Menschen sitzen zu lassen. Dadurch, dass der Wirtin dann diese abstrakte "Unendlichkeit" zugeschrieben wird, wird das irgendwie zunichte gemacht. Ich weiß auch nicht, ob du diese Unendlichkeit unbedingt brauchst, die Wirtin arbeitet schließlich im Gasthaus "Zur Ewigkeit", vielleicht kannst du das einsparen.
Nun sitzen sie alle da, gottlos – ist doch der Glaube nach Hause gegangen.
Wieder so ein Nachsatz, das wird deutlich, musst du nicht erklären, kannst du streichen. ;) Der Satz könnte nach "gottlos" zu Ende sein.
Mein kleiner Moment will sie überall einmischen,
sich
Mein Moment sitzt stumm nun da und schmollt. Nun werde ich wütend
Unschöne Wortwiederholung.
Alle blicken sie mich an, alle die grossen und berühmten Hohlheiten.
Das ist cool, weil es dem ganzen Schauspiel (Hass, Liebe, Unendlichkeit) so ein bisschen die Dramatik nimmt. Ohne dem würde es vielleicht abgedroschen wirken. Später allerdings bringst du dieses "Hohlheiten" nochmal, das schwächt dann diese Stelle. Das ist, als würdest du denselben Witz zweimal erzählen, nicht gut.
Achja und: Ich denke mal, du kommst aus der Schweiz? Weil oft ss statt ß steht.
als ich meine Rede beendet haben
habe
Doch dahinter befindet sich nicht das erwartete Gehirn,
Hm, die Geschichte steht zwar unter Seltsam, aber unplausibel finde ich das trotzdem. Nach einer Platzwunde erwartet man doch noch kein Hirn. Wenn man jemandem den Schädel einschlägt vielleicht, aber hier ...

Der Text ist wirklich schwer. Ich meine damit weniger vom Verständnis (obwohl ich jetzt nicht behaupte, alles verstanden zu haben), mehr von der ganzen Bedeutung, der Klang der Sprache, die Bilder, ist schon ein ganz schöner Brocken. Aber man denkt auf jeden Fall nach darüber.
Der Moment scheint mir irgendeine verpasste Gelegenheit zu sein, oder eine Person oder wer weiß was, es könnte eigentlich alles sein, je nachdem wie man es nimmt. Jedenfalls irgendwas, das den Erzähler bewegt, wenn es zwischen Hass, Liebe und Unendlichkeit steht. Dieses ganze Drumherum, der Glaube, den man verliert, wie die Emotionen Skat spielen, ich denke, das soll irgendwie das Auf und Ab verdeutlichen, das der Erzähler mit dem "Moment" erlebt. Oder so.
Eine genaue Interpretation soll mal ein anderer machen. Das sieht jetzt nach schlechter Ausrede aus, aber ich spinne mir lieber selbst meine Gedanken dazu. :D Ich hoffe du kannst was mit dem Kommentar anfangen.

Hat mir irgendwie gefallen. ;)

Liebe Grüße,
strudel

 

Na ja,

für mich liest es sich ein wenig, wie der Abgesang auf die "großen" Dinge und wie ein Loblied auf das Individuelle. Unendlichkeit, Liebe, Hass - nur leere Phrasen, ohne Belang, und der eigene, kleine "Moment" - das persönliche Schlüsselerlebnis, ist zwar ohnmächtig, für den Einzelnen aber entscheidender.
Also das Konkrete über das Konzept, wobei es ziemlich absurd ist, ein Hohelied auf den konkreten Moment in einem abstrahierten Gleichnis zu singen, aber najo. :)

Dadurch kriegt die Geschichte natürlich etwas. Is mir zu absurd und in der Parabel zu auffällig, um mir wirklich zu gefallen.

Gruß
Quinn

 

Salü Marana,

Das habe ich sehr gerne gelesen. Wenn Du alle von apfelstrudel gefundenen Lesehindernisse beseitigst, ist das in meinen Augen eine runde Sache.

Was mich ein bisschen störte: Zu Beginn schreibst Du

Der Moment hastet stumm an mir vorbei

Und im dritte Abschnitt dann fast zärtlich:

Mein kleiner Moment will sie (sich) überall einmischen,

Da könntest Du gleich beginnen mit:
'Mein Moment hastet stumm an mir vorbei'

Er ist uns ja wohl immer näher, als die Ewigkeit, die eher neutral ist und uns ferner.

Gefallen hat mir:

Liebe verliert. Unendlichkeit gewinnt, aber nur das eine Spiel. Danach hat Hass alles im Griff und die anderen werden wütend.

Einen schönen Abend noch und Gruss,
Gisanne

 

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