Im Herzen des Herbstraums
Es klopfte an der Tür.
Aus einem Dämmerzustand erwachend, konnte der alte Mann nicht sagen, ob er dieses Geräusch gehört oder gespürt hatte. „Seltsam“, dachte er und horchte. Mit der Zeit war es immer ruhiger geworden, spürbar stiller – doch so sehr sein Verstand sich darauf fixierte, nichts vernommen zu haben, so vehement er die Gewohnheit fixierte – das Gefühl blieb.
Der alte Mann stand von seinem Sessel auf, was nach der langen Ruhephase seine Zeit brauchte. Er ging am Bücherregal und den anschließenden Naturfotografien entlang zur Tür. Hatte er sich das Klopfgeräusch nur eingebildet?
Er öffnete die Tür und sah – niemanden. Das Treppenhaus war seit Langem ein kalter Schacht; ob überhaupt noch jemand in den verschiedenen Etagen wohnte, wusste er nicht zu sagen. Nachbarschaftsbesuche oder nur ein Werbeblatt, von einem Postboten durch den Briefkasten geschoben, hatte er schon ewig nicht mehr erlebt
Der alte Mann schloss die Tür. Nicht sicher, was er von diesem Vorfall halten sollte, ging er wieder an den Fotografien entlang, passierte das Regal mit den Büchern und dachte für sich: „Tagträume…“
„Die Träume sind schwer zählbar; Minuten und Sekunden nicht erfassbar. Aber der Augenblick dehnt sich wohl schon der Ewigkeit entgegen, mein alter Freund.“
Der alte Mann traute seinen Sinnen nicht. „Wer spricht?“
„Du wirst doch wohl die Stimme noch erkennen, Benedikt, Held des Schlachtfelds und der Beatrice.“
Er drehte sich langsam um und sah zu seiner Verwunderung, gepaart mit der ahnungsvollen Angst, den Verstand zu verlieren, wirklich einen Mann auf dem Sessel sitzen.
„Wahrhaftig, was geschieht hier?“, rief er mit schwindender Stimme. Kraft entwich seinen Beinen, ein Gefühl wie Herbstnebel umhüllte den Gleichgewichtssinn, so dass er sich auf das Sofa setzen und hinlegen musste.
„Einbildung; es kann nicht wirklich sein; nicht in meiner Wohnung, nicht in diesem Kopf. Nicht hier.“
Er schloss die Augen, atmete tief und langsam, um sich zu beruhigen. Weder Stimme noch Laute waren zu hören, einzig der strömende Atem, der langsame Rhythmus, wirkte entspannend.
Der alte Mann öffnete wieder die Augen und wagte es, zum Sessel zu schauen. Beruhigt stellte er fest, dass die Person nicht mehr im Sessel saß. Er richtete sich auf und wollte gerade aufstehen, erleichtert, dass niemand mehr in seiner Wohnung außer ihm sei, da hörte er’s sprechen: „Ich bin jetzt hier. Und wir sollten reden.“
Der Kopf des Mannes sank gen Boden. „Jetzt ist’ s geschehen…“
„Nein, noch nicht. Wir befinden uns genauer gesagt erst am Anfang.“
„Bin ich nun verrückt?“, fragte der Mann zusammen gesunken.
„Nun, wäre ich dein Verstand und hätte die Aufgabe, kategorisch zu analysieren, so würde ich dich als das Subjekt definieren, welches nun imstande ist, mit einer wahrscheinlich als Wahnfigur zu bezeichnenden Gestalt zu kommunizieren. Da diese Aussage aber selbst, wenn ich denn eine solche wäre, unter dem Einfluss des Wahns stünde, muss angenommen werden, dass sie in Wirklichkeit keinen Bestand hat. Der Verstand würde dir also Tatsachen suggerieren, die dem Wahn entspringen, welche dann in Zweifel gezogen werden müssten. Zweifel wiederum wäre verständlich, so dass wir dieses sinnlose Gequassel einfach sein lassen sollten, um uns den wirklich wichtigen und essenziellen Aufgaben zuzuwenden. Was meinst du?“
„Und was meinst du?“
„Ja, wir nähern uns dem Kern. Hast du in letzter Zeit mal in den Spiegel geschaut?“
„Nicht, dass ich mich erinnern könnte.“, antwortete der alte Mann.
„Und durch das Fenster dort nach draußen?“
„Was stellst du mir für Fragen? Weder weiß ich, wer du bist noch was du hier willst. Soll das nun mein Zeitvertreib sein? Mit einer Einbildung zu sprechen? Mit einem Gespinst?“
„Geh doch den Weg vom Regal zu den Fotografien, mein Freund. Dann werden wir uns näher kommen. Du spürst doch, was ich meine, nicht wahr?“
„Wovon sprichst du?“
„Vom Gespinst zur Einbildung.“
Der alte Mann fasste sich an den Kopf, als wolle er ein Brummen mit der Kraft seiner Hände ergreifen, festhalten, zum Stillstand bringen.
„Was machst du da?“, fragte die Person.
„Wonach sieht’ s denn aus, he?“
„Als wolltest du dir den Kopf abreißen.“
„Und wenn ich ihn nur nicht verlieren will?“
„Hier? In deiner Wohnung? Du würdest ihn sicherlich auch im Dunkeln wieder finden.“
Der alte Mann rieb sich die Nase.
„Du scheinst ja ein ganz kluges Kerlchen zu sein, was?“
„Das Kompliment belasse ich dir gerne. Welten in sich zu tragen ist nicht leicht, sie sinnlich zu bereisen eine große Leistung. All die lieben Personen vergangener Tage, die schönen Landschaften und Vogelsänge, der Geruch von Strand und Wellensalz. Wundervoll – Und hier die Wände, deren Farbe du schon nicht mehr wahrnimmst, die abgetaucht ist in die Gewöhnung. Zuneigung und Ablehnung, ja, interessante Gefühle des Menschen, so gegensätzlich und doch vereint. Ist die Welt nicht paradox?“
„Das sagst gerade du, der das Ungesagte ausspricht! Niemals habe ich dir etwas von mir erzählt, und du meinst allen Ernstes, mich zu kennen, meine Welten?“
„Ich bin ein guter Zuhörer, auch wenn man mich nur selten sieht. Das tue ich auf vielerlei Weisen. Du kennst doch noch die Melodie des Windes, jenen tragenden Luftstrom in den Blättern der Wipfel und Zweige, der dich in Welten ohne Wort getragen und weilen lassen hat. Den geöffneten Blick, der ziellos zugleich alles sah, jede Bewegung und nur die Ahnung davon. Wie hast du aus der Ferne das Unmittelbarste überhaupt empfunden, die Schranken und Grenzen zu Schwellen werden lassen, fließende Übergänge auch beim meditativen Blick auf das Salzachspiel. Die konträren Orgelklänge im Dom, die sich unter der Kuppel zu einer Harmonie verbanden, mit der du Hand in Hand durch die Lüfte über Zwiebelkuppeln hinauf zur weißen Burg getragen wurdest, dich am Baum dort niederließest und durch Wurzeln wieder mit dem Geflecht aus farbigen Plätzen und der Stadt vereint wurdest, den Rösserbrunnen im Dämmerlicht auf dich wirken lassen hast, seine Formen und Melodien, die Magie des empor quellenden Wassers! Benedikt! Erinnere dich an diese Zeit, mein Freund. Sie hat dich einst verbunden mit dem, was dir heute fehlt und was du wiederfinden kannst, was dich wieder vereint.“
Der alte Mann lag mit großen Augen auf dem Sofa. Wort um Wort schien in seinen Sinn zu sickern.
Dann erzählte er: „Es bildet sich ein Teich. Mondlicht schimmert auf dem Wasser, Selenes Silberhauch. Raben krächzen. Der Wind ist kalt. Steine liegen verstreut am Ufer. Vom Wasser her kommt ein schwarzer Schwan, von schäumender Welle getragen. Bei den Steinen wandelt er sich, ist Hase, ist Taube – schimärisch. Ich höre eine Stimme. Ich kenne sie. Sie gehört ihr. Wie wunderschön sie klingt; fast hätte ich’s vergessen. Sie spricht in Bildern, ist mir Quelle. Vom Land her kommt dort, silberglänzend, gleißend strahlend, ein großer Wolf, kraftvoll, heiß! Er ist wütend, zerbeißt die Steine, fletscht die Zähne, heult gequält. Ich spüre Trauer, spüre Hass. Die Erde bebt, zerrissen ist der Grund. Rote Dämpfe schwelen, Geysire spucken Magma. Mein Blick flieht gen Himmel. Dort oben tosen schon die Höllenschlünde, speist schwarzes Feuer ihre Münder! Winden sich die Teufelsboten, räkeln sich verzerrt die Toten. Speien wabernd ihren Grimm, immer wieder auf mich hin! Packen mich und zerren sich, jenseits des Guten und fernab des Lichts! Schmerzender als heißes Gift schmerzt mich der Blick in dies Gesicht. Meine Welt ist hin, mein Sinn – zusammenbricht! --
Und die Höhle ist dunkel. Enger, schroffer Fels der Wände. Mag es denn auch labyrinthisch sein. Mir fehlt die Kraft, um Zeichen zu lesen. Was nützt mir noch die beste Karte? Was ein Lebensweg? Es pocht durch Gänge ein dumpfer Schmerz. Ein Gefühl aber, das ferner wird und stirbt.
Der Sinn, mein Freund, ist tot.
An einer heißen Erdenstelle zünde ich mir Zigaretten an. Eine nach der anderen. Immer wieder, immerzu. Rauchen unter Tage. Und wenn Grubengas mich besucht – sei’ s drum. Die Hand reichen würde ich, mich bedanken und herzlichst explodieren. Doch solch ein Glück war mir nicht vergönnt. Mir bleibt die Hoffnung – und die stirbt wohl zuletzt…“
Mit den letzten Worten schien der Mann aus einer ihn bis dahin umhüllenden Aura zu dämmern.
„Da bist du wieder, mein Freund“, sagte die Person mit sanfter Stimme, als wolle sie ein Neugeborenes nicht schreckend aufwecken, sondern behutsam Ruhe dabei lassen.
„Wie fühlst du dich?“
„So leer; so schwer…“
„Das ist okay.“, lächelte die Person sanftmütig. „Wer Welten bereist, hat solche Gefühle. Und: er fühlt sie.“
„Das alles war so…“
Der alte Mann stockte; schluchzte; schluckte: „…so tief verborgen. So lange…“
„Ja, ich weiß.“, sagte die Stimme.
„…und…so schrecklich!“
„Du bist nun bei den Quellen, mein Freund.“, schien der Wind zu wispern.
Der alte Mann ging zum Fenster, nahm den Griff in die Hand, atmete tief durch und öffnete es.
„Das ist also ein klarer Herbsttag“, dachte er bei sich.