Im Paradies
Sand, Palmen, eine Brise. Wir sind im Paradies und sitzen am Strand am Feuer.
Ich schaue in die Gesichter der jungen Reisenden, die vom Feuerschein erhellt, leuchten.
Die Unterhaltung ist angeregt, lebendig.
Jeder erzählt von erlebten Abenteuern, zu entdeckenden Wundern, die hier einfach so zu finden sind.
Die Neuankömmlinge schweigsam, lauschen betört.
Hinter mir türmen sich machtvoll, erhaben grüne Berge. Kleine Traumbuchten mit ruhigem Meer wechseln mit wilden Stränden ab. Verstreut liegen riesig runde Steine. Die Farbe des Meeres azurblau.
June ist vor ein paar Tagen angekommen. Sie sitzt neben mir und ich kann ihre Erregung spüren.
Besonders scheint Olivia es ihr angetan zu haben. Sie ist durch Mittelamerika gereist, in Honduras getaucht, hat im Amazonas mit rosafarbenen Delphinen geschwommen und das alles alleinreisend.
Mit glänzenden Augen schaut June mich an und aus jeder Zelle ihres jungen hübschen Seins strahlt mir Abenteuerlust entgegen.
June blickt auf. Von weitem kommt eine großgewachsene Gestalt auf uns zu.
Jorge, dieser schlanke indianisch anmutende Mann, kommt geschmeidig und leichtfüßig daher. Ich kenne ihn schon.
Ich bin schon länger hier unterwegs. Ich kenne sie alle, auch Olivia, den blonden Engel und Jorges Freundin Nora.
June starrt fasziniert den schönen Jorge an, der sie als Neue prompt erblickt und besonders galant mit seiner tiefen melodiösen Stimme begrüsst.
Ein kreischendes „Jorge“ lässt alle im Kreis sitzenden in Richtung dieser hysterischen Stimme schauen und da kommt sie. Nora.
Sie stolpert und stakst auf hohen Absätzen im Sand versinkend. Ihre Seidenstrumpfhose ist zerrissen, die Knie blutig.
Wülste eines unförmigen Körpers kommen in einem rosafarbenem Stretchkleid auf die Gruppe zu.
Wieder ertönt der kreischende Befehlston. Lächelnd verneigt Jorge sich vor uns, sagt „ Sie ist ein paar mal hingefallen,“ um dann mit würdevollem Schritt, seiner Geliebten beim gehen zu helfen. Am Feuer angelangt bleibt sie als einzige stehen.
Ihr Gesicht ist voller Schrammen und blauer Flecken, untermalt von pinkem Lippenstift, der in den mäandernden Fältchen um ihren Mund herum ausfranst, wird diese Farbigkeit von blondgefärbtem widerborstig abstehendem Haar umrahmt.
„Wo schlafen wir?“ bellt sie. Jorge fordert sie freundlich auf sich zu setzen, aber Nora will nicht. Also verspricht er später zurückzukommen und sie verschwinden in Richtung Dorfmitte, die aus zu mietenden offenen Hütten besteht, in denen sich die Traveller Hängematten spannen können.
Es gibt eine Bar. Dort allerdings nur Cola und Rum, das man an fliegenübersäten Tischen trinken kann.
Ein kleiner Zaun umgrenzt die Bar, damit den zahlreichen Eseln, struppige räudige Lastentiere, deren Aufgabe es ist, Eisblöcke in den entlegenen Nationalpark zu schleppen, der Zutritt verwehrt ist. Diese Esel fressen alles. Plastiktüten, Wäschestücke, Schuhe.
Kürzlich verschlang ein Esel den Passport und das Flugticket einer Israelin.
Wir sitzen in der finsteren Nacht an unserem nährenden Feuer. Jorge kommt wie versprochen zurück, der Rum fliesst, das Koks, schnell klumpig durch die hohe Luftfeuchtigkeit, wird durch Strohhalme aus kleinen Tütchen gezogen. Alle plappern aufgeregt durcheinander, auch Nora sitzt bei uns. Meine Gelassenheit kennt keine Grenzen, vor allem mit so viel guten Drinks, die das schnelle Pulver dämpfen. Olivia erzählt, schillernd vor Wonne, von der Farbe des Meeres, vom Einfall einzelner Sonnenstrahlen in tiefgründiges Blau, von Fischen, die sich in den leuchtendsten Farben friedlich tummeln. Sie hat nie schöneres erlebt, war nie friedlicher und erfüllter als nach ihren Tauchgängen. Jetzt sind alle still und hören ihrer farbigen Erzählung der Unterwasserwelt zu und sie verspricht am nächsten Tag die Fotos zu zeigen, auf die sie so stolz ist. Wenn die keinen Preis gewinnen.
June springt auf und sagt, sie müsse einen Stift holen. Es dauert eine ganze Weile bis sie wiederkommt.
Und bis ich merke, dass auch Jorge verschwunden ist, kommt June schon wieder mit roten Wangen und einem Lächeln, das den Rest der Nacht bleibt.
Die Tage fließen. Wir schaukeln in der Hängematte, lesen, dösen. Rennen ins Wasser, spielen mit dem Meeresgott.
Wir machen eine Tour in den Dschungel zu einem alten Dorf, das noch von ein paar Ureinwohnern bewohnt wird. Als wir auf dem Rückweg am Hüttendorf ankommen, rennt ein kugeliger Mann an uns vorbei und schreit: „ Er ist verrückt geworden.“
Und da hören wir auch schon urtümliches Geschrei, ein tiefes Röhren. Wir laufen. June weiß, es ist Jorge und atemlos wiederholt sie:
„ Es ist wegen mir, es ist meine Schuld.“ Sie will zu ihm gehen, aber die Leute halten sie ab.
Er hat den Mann mit einer abgebrochenen Flasche angegriffen.
In weitem Abstand stehen die Gringos und schauen ihm zu, erschrocken, belustigt.
Und Jorge, tollwütiges unbändiges Tier tobt gegen unsichtbare Dämonen. Er schreit, schlägt mit seinen langen Armen um sich, brüllt, mit animalischen Tönen. Schaum schnaubend greift er um sich, als wäre ihm der Teufel geradewegs auf den Rücken gesprungen, rennt den Strand hinunter, wälzt sich, liegt auf dem Rücken, mit den kräftigen Beinen tretend, mit den Händen Sand schaufelnd, über sich werfend. Er will sich vergraben, wie ein Hund buddelt er und stößt seinen Oberkörper in die kleine Kuhle, springt dann wieder auf und schreit einen so unmenschlichen Ton, dass June sich an mich wirft, ihren Kopf an meiner Brust bergend.
„ Es ist wegen mir,“ wimmert sie. „Ich habe Angst vor Nora. Sie weiß es. Ich habe Angst, dass er sich unsterblich in mich verliebt hat.“
„Wieso? Habt ihr was miteinander?“
„ Nur einmal. Sonst hat er mir wirklich immer nur Spanisch beigebracht. Wo ist Nora. Oh Gott, wenn sie mich sieht.“
Ich ziehe June in den Schutz der Palmen und höre die Kommentare der Traveller. „ Wow, voll durchgeknallt, ts, zuviel Drogen. Der ist ja wirklich irre.“ Inzwischen hat Jorge sich in einer Kleinkindstellung zusammengerollt und bedeckt sich unentwegt mit Sand, wimmernd und jammernd und nach Nora rufend. Nora, Nora. Die Hängematte neben der wir stehen regt sich und die stämmige Blondine taucht daraus hervor mit verquollenem verheultem Gesicht starrt sie uns an, auf spanisch schimpfend.
June springt einen Schritt zurück vor Schreck und zieht mich an der Hand weg. Noras Schimpfen geht über in jammerndes Liebesgeraune.
Wir liegen gemeinsam in meiner Hängematte. June weint. „ Oh was soll ich bloß tun, wenn er sich in mich verliebt hat?“
Mein Blick liegt auf der ruhig daliegenden Oberfläche des Meeres.
Plötzlich erschüttern dumpfe Bässe die Luft.
Südamerikanische Klänge ziehen vibrierend an uns vorbei und in unsere Körper hinein. June wippt mit dem Fuß.
„Oh, heut ist Disco.“ Wir lächeln uns an.
Später stehe ich am Rand der Tanzfläche. June tanzt für sich ihren eigenen Stil, der hier Reaktionen zwischen Bewunderung und Feindseligkeit auslöst. Südamerikaner tanzen nicht allein, immer pärchenweise. Olivia tanzt Salsa mit verschiedenen Männern. Dieser schöne blonde Engel, es macht Freude, ihr zuzusehen. Nora steht an der Bar. Jorge kann seinen Blick kaum von Olivia abwenden, bis er sie endlich auffordert und sie zusammen tanzen. Sie schieben ihre salsageübten Hüften im engen Kontakt vor und zurück, sie wirbeln herum, drehen sich, der Rhythmus hat sie ergriffen und die beiden Körper bilden eine von sprühender Lebenslust durchdrungene Einheit.
Ich schaue zu June, die sich jetzt einem Südamerikaner gegenüber gnädig erwiesen hat und mit ihm Salsa tanzt. Sie müht sich ab, etwas hölzern und steif, versucht sie schwitzend die Schritte zu halten und ich sehe ihren Blick, immer wieder zu Jorge und Olivia wandern, die schon den vierten Song strahlend meistern. Nora hat sich auch einen Tänzer geschnappt. Einen kleingewachsenen Schweizer, der von Noras massivem Körper umfangen, hin und hergeworfen wird.
June bringt mir Rum Cola und wir betrachten das Treiben der Tanzenden.
„ Deine Angst ist unbegründet. Brauchst keine Sorge haben, dass er vor Kummer eingeht, wenn du weiterreist.“
Ich stupse sie aufmunternd an. Grad will ich ihr noch erzählen, das Olivia nur auf Frauen steht.
„Scheisser“, zischt June und rauscht ab.
Am nächsten Mittag höre ich von meiner Hängematte aus, aufgeregtes Stimmengewirr. Ich rappele mich hoch und sehe eine Gruppe junger Männer hinter Olivia herlaufen, die weinend und verzweifelt zu jeder Hütte rennt. Ich spitze die Ohren und höre sie rufen: „ Meine Fotos, meine Unterwasserfotos, wer hat sie? Wo sind die? Sowas klaut doch keiner. Sie sind weg. Wer war das?“
Ich stehe auf, um näheres zu erfahren. Jorge lehnt mit unbeteiligter Miene am Stamm einer Palme.
An einem der fliegenübersäten Tische der Bar sitzen June und Nora und
trinken Cola.
Wie in einer Bewegung drehen sie sich um, als einer der Esel seinen hässlichen Schrei wiehert.
„ Der Esel “ schreit Nora in Olivias Richtung und vollführt mit ihren Fingern eine Essensgeste.