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Im Schrank

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01.03.2023
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Im Schrank

Der Regen prasselte gegen die Fenster, während Lia sich ein Kissen unter den Arm klemmte und sich inmitten der Umzugskartons zu Steven auf die alte Ledercouch fallen ließ. Ihr neues Zuhause roch nach frischer Farbe, Holz und diesem leichten, kaum merklichen Duft von etwas, das ... älter war.
„Es tut mir leid, ich habe das Gefühl, mein Kram stört. Wenn es nicht so weit wäre, würde ich ja pendeln, bis hier alles fertig ist.“, sagte Steven, ein schiefes Lächeln auf den Lippen, und sah sich im chaotischen Wohnzimmer um. Lia hatte den Umbau praktisch allein gestemmt, weil er bei seinem alten Arbeitgeber nicht früher hatte kündigen können.
„Blödsinn, immerhin sind wir jetzt zusammen.“ Lia lehnte sich an ihn und schloss für einen Moment die Augen. Drei Jahre Fernbeziehung – endlose Bahnfahrten, Videocalls, Abschiede auf Bahnsteigen – all das war endlich vorbei. Das Haus war ein Traum gewesen, als sie es entdeckt hatte: ein charmantes Einfamilienhaus aus den 50er-Jahren, teilweise saniert, mit hellen Räumen und einem großen Garten.
Leider war die Fertigstellung des Umbaus nicht pünktlich fertig geworden, die oberen Stockwerke noch eine Baustelle. Vorübergehend lebten sie nun im Wohnzimmer – Matratzenlager, ein improvisierter Kleiderschrank aus Kartons, und das Sofa als Esstisch-Ersatz.
„Wilst du jetzt die Führung?“ Lia sprang auf, griff nach seiner Hand. „Komm, ich geb dir die Tour. Dass du mal alles sehen kannst , live und in Farbe – nicht nur das, was ich dir geschickt habe.“
Steven ließ sich grinsend mitziehen, während sie durch die Räume eilten. Die Wände im Erdgeschoss waren frisch gestrichen, alles glänzte neu, fast zu perfekt. Überall brannten die Lichter – obwohl es schon spät war, obwohl sie eigentlich schon schlafen sollten.
Im Wohnzimmer, kurz bevor sie zurück zur Couch gingen, blieb Lia stehen und zeigte auf den Boden. „Und hier habe ich noch eine Überraschung.“
Steven runzelte die Stirn. „Was meinst du?“
„Na, schau halt mal genauer hin. Kleiner Tipp: es ist am Boden - oder sollte ich sagen: im Boden?“
Er seufzte gespielt genervt, ging aber in die Hocke und tastete über die Holzoberfläche. Erst wirkte alles identisch – dieselbe Maserung, dieselbe Farbe, alles perfekt verlegt. Doch dann ... war da eine Stelle. Kaum merklich. Eine Diele, etwas dunkler, matter. Kein Lack, kein Glanz. Der Rand war nicht maschinell glatt, sondern wirkte, als hätte ihn jemand per Hand abgeschliffen.
„Hier“, murmelte er, legte die Fingerspitzen darauf. In dem Moment überkam ihn ein merkwürdiges Gefühl – wie ein Schwindel, der nicht im Kopf beginnt, sondern im Magen.
Plötzlich blitzten Bilder vor seinem inneren Auge auf: ein kalter Raum, dumpfe Luft. Ein Stuhl. Ein leiser Atem, nicht seiner. Etwas schien im Dunkeln zu lauern.
Er riss sich zurück, schnappte nach Luft und griff in seine Jackentasche. Mit zitternden Händen zog er sein Asthmaspray hervor und nahm einen Stoß. Das vertraute Zischen, das chemische Kältegefühl im Rachen.
„Steven? Alles okay?“, fragte Lia besorgt, ihre Stimme klang gedämpft, wie durch eine dicke Wand.
Er blinzelte, sah sie an. Ihr Gesicht war nah, verwischt von den Nachbildern in seinem Kopf. Ihre Hand lag nun auf seiner Schulter, warm und zitterfrei. Ganz anders als seine.
„Ja… ich… mir wurde nur kurz schwindlig. Vielleicht vom Stress. Oder vom Licht.“ Er zwang sich zu einem Lächeln. „Du weißt ja, mein Kopf macht manchmal seltsame Sachen, wenn ich müde bin.“
Lia ließ ihn nicht los. „Das war nicht nur Schwindel, oder?“ Ihr Blick war scharf, fast prüfend. „Du hast gezuckt.“
Steven zögerte. Wollte nicht über die Bilder sprechen, die sich so real angefühlt hatten. Doch etwas an der Dielenplanke ließ ihn frösteln. Er blickte noch einmal auf das alte Holz. Es war so perfekt in den neuen Boden eingepasst, als hätte jemand bewusst entschieden, dieses eine Stück Vergangenheit nicht auszutauschen.
„Es war… nur ein kurzer Moment. Ich dachte… ich hab was gesehen. Wie ein Tagtraum. Aber mit Gefühl. Ich weiß auch nicht. Es war… beunruhigend.“
„Beunruhigend wie ... was?“, fragte Lia leise.
Er wollte antworten, doch der Kloß in seinem Hals machte das Sprechen schwer. Stattdessen setzte er sich auf den Boden und starrte auf die Diele, als könnte er mit bloßem Blick erkennen, was darunterlag.
„Hast du das beauftragt?“, fragte er schließlich.
Lia schüttelte den Kopf. „Nein. Der Bodenleger meinte, das sei Originalmaterial, wahrscheinlich aus dem ersten Baujahr. Die Vorbesitzer wollten, dass ein Stück 'Charme' erhalten bleibt.“ Sie verzog das Gesicht. „Ich hab's damals nicht hinterfragt. Ich fand’s sogar süß.“
„Süß“, murmelte Steven. „Hm.“
Eine Stille breitete sich zwischen ihnen aus, nur unterbrochen vom Wind, der draußen an den Fensterrahmen zerrte. In einem der Kartons klimperte etwas – vielleicht Besteck, vielleicht Glas. Oder vielleicht auch gar nichts. Vielleicht war es nur der Wind.
Lia rückte näher zu ihm, bis sie beide auf dem Boden saßen, Schultern an Schultern, das alte Holz zwischen ihnen.
„Ich mag das Haus“, sagte sie leise. „Aber manchmal ... hab ich das Gefühl, es mag mich nicht zurück.“
Steven drehte den Kopf, wollte etwas sagen, da knackte es unter ihnen. Direkt unter der alten Diele. Nicht laut, nicht aufdringlich. Aber es war ein Geräusch, das nichts mit Wind oder Temperatur zu tun hatte. Eher wie ... ein kurzes, vorsichtiges Bewegen. Als würde etwas — oder jemand — aufwachen.
Sie sahen sich an.
„War das ...“, begann Lia.
„Ich hab’s auch gehört“, unterbrach er sie.
Und dann verstummten beide. Denn plötzlich fühlte sich das ganze Haus nicht mehr wie ein Neubeginn an.
Sondern wie ein Atem, der angehalten wurde.
Etwas wartete.


#####


Am nächsten Morgen weckte Steven das dumpfe Gefühl, nicht mehr allein zu sein. Obwohl Lia noch neben ihm schlief, zusammengekauert in der improvisierten Bettlandschaft aus Decken und Matratzen, fühlte sich der Raum… fremd an. Anders. Als hätte jemand in der Nacht still durch die Kartons gewühlt, sich zwischen den Möbelstücken bewegt. Keine Geräusche, keine Spuren – nur ein leises Drücken in der Luft.
Er stand auf, schlich leise durch das Wohnzimmer. Alles schien unverändert. Doch aus dem Augenwinkel bemerkte er eine Bewegung – ein Schatten, der sich an der Wand entlangzog, obwohl keine Lichtquelle vorhanden war, die ihn hätte werfen können. Als er sich hastig umdrehte, war nichts da.
Er atmete tief durch, schob es auf die Müdigkeit. Der Tag verging mit Einräumen, Ausmisten, Kartons auspacken. Lia summte leise, während sie alte Bücher in das neue Regal sortierte. Draußen wehte der Wind, zerrte an kahlen Zweigen. Das Haus knarrte, wie alte Häuser es eben tun. Und doch ... jedes Mal, wenn Steven sich abwandte, flackerte etwas hinter ihm. Bewegung. Präsenz. Nicht greifbar. Aber spürbar.

Der Abend senkte sich wie ein dunkles Tuch über das Haus. Sie aßen auf dem Boden sitzend in der Küche, ihre Teller auf einem umgedrehten Umzugskarton. Pasta mit Tomatensauce aus dem Glas. Einfach, aber warm. Gemütlich sogar – bis zu dem Moment, in dem der Knall kam.
Ein lauter, metallischer Schlag, als würde jemand mit voller Wucht gegen eine Tür treten.
Steven zuckte hoch. „Was war das?“
Lia starrte ihn an, den Löffel noch in der Hand. „Das kam aus dem Flur, oder?“
Er nickte, stand auf. „Ich schau nach.“
Im Flur war zunächst alles still. Die Deckenlichter brannten noch. Doch als er ein paar Schritte ging, bemerkte er es: Das Licht im hinteren Zimmer rechts war ausgefallen. Nicht einfach ausgeknipst – es war komplett finster. Eine tiefe Dunkelheit, die seltsam schwer aus dem Raum in den Flur zu sickern schien.
Steven drehte sich gerade um, als auf der gegenüberliegenden Seite das Licht im Gästezimmer explodierte – begleitet von einem zweiten, noch lauteren Knall. Ein kurzes Aufflackern, dann totale Schwärze.
„Steven? Was war das?“ Lias Stimme hallte aus der Küche zu ihm.
„Ich… ich weiß es nicht! Die Lampen machen diese Geräusche … das ergibt keinen Sinn. Es sind LED-Strahler, die brennen doch normalerweise nicht durch – schon gar nicht mit so einem Knall.“
Er trat einen Schritt weiter in den Flur. Die Dunkelheit war nun dichter, als sie sein sollte – als würde sie nicht nur Licht, sondern auch Raum verschlucken. Kaum hatte er den Fuß gesetzt, blitzte das Licht am hintersten Ende des Flurs auf, flackerte ... und erlosch mit einem dritten, unnatürlich lauten Knall.
Jetzt war der gesamte hintere Flur in Dunkelheit gehüllt.
Er blieb wie angewurzelt stehen.
Dann spürte er eine Bewegung hinter sich. Lia kam aus der Küche.
„Was ist hier los?"
Steven schaute sie an. "Wo ist der Sicherungskasten?“
„Im Keller“, murmelte Lia. Ihr Blick folgte Stevens, der noch einmal auf die schwarze Wand des Flurs starrte. Etwas an der Dunkelheit war falsch. Sie schien ... lebendig. Wach.
Lia riss sich los und drehte sich um, ging in Richtung Kellertreppe. Ihre Schritte verklangen.
Steven wagte einen weiteren Schritt nach vorn, versuchte die Dunkelheit mit den Augen zu durchdringen.
Dann – ohne Vorwarnung – packte ihn eine kalte, unsichtbare Kraft. Etwas war plötzlich da. Hart, drängend. Er wurde rücklings zu Boden geschleudert, als hätte ihn jemand gestoßen. Der Aufprall raubte ihm den Atem. Seine Sicht verschwamm. Noch ein Versuch, sich aufzurichten – dann wurde alles schwarz.

Im Keller war es kühl und feucht. Lia stand vor dem Sicherungskasten, ihre Stirn in Falten. Alles sah normal aus. Keine ausgelösten Schalter. Kein verbrannter Geruch. Keine Spur von Überlastung.
Sie drehte sich gerade um, als alle Lampen im Keller gleichzeitig erloschen.
Absolute Dunkelheit.
Ihr Herz schlug schneller. Instinktiv griff sie in die Hosentasche, zog ihr Handy hervor. Das Kameralicht schien grell in die Finsternis.
Kaum hatte sie die Taschenlampe aktiviert, wurde ihr das Handy mit voller Wucht aus der Hand geschlagen. Es flog über sie hinweg – zu schnell, zu gezielt, als dass es einfach hätte fallen können.
„Was zur Hölle…?“, flüsterte sie, drehte sich unter dem fallenden Gerät reflexartig um.
Und dann sah sie es.
Vor dem Restlicht des Handys – das jetzt flackernd auf dem Boden lag – stand etwas. Eine Silhouette. Menschlich in der Form, aber vollkommen schwarz. Kein Gesicht, keine Details. Nur eine absolute Leere, als hätte jemand einen menschlichen Umriss in die Dunkelheit geschnitten.
Lia keuchte, stolperte rückwärts. Sie fiel, landete hart auf dem Steißbein, stieß sich den Hinterkopf an einer feuchten Wand. Tränen traten ihr in die Augen, der Schmerz hämmerte hinter ihrer Stirn.
Und dann: Stille. Nur ihr Atem. Und das Herz, das gegen ihre Rippen trommelte wie ein alarmiertes Tier.
Sie legte schützend eine Hand auf ihren Unterbauch.
Bitte … bitte nicht jetzt …
Minuten vergingen. Oder waren es Sekunden? Die Zeit verlor ihre Struktur.
Schließlich kroch sie, tastend, auf das glimmende Handy zu, das mit der Kamera nach unten auf dem Boden lag. Sie drehte es um, das Licht zuckte, fing sich.
Langsam, tastend, kämpfte sie sich wieder zur Treppe und nach oben.

Steven lag noch immer reglos auf dem Boden. Lia fand ihn mit einer Gänsehaut überzogen, das Gesicht bleich, die Augen geschlossen.
„Steven!“ Sie schüttelte ihn. „Steven, bitte …“
Er stöhnte. Kam langsam zu sich. Schaute sie an, als hätte er einen Albtraum geträumt.
„Etwas hat mich ... umgeworfen“, flüsterte er heiser. „Ich hab nichts gesehen. Nur gespürt.“
Sie half ihm auf, gemeinsam taumelten sie in die Küche zurück. Die ganze Zeit über blieb das Haus still – zu still. Jede Lampe war aus. Der Strom war komplett verschwunden.
Sie untersuchten den Sicherungskasten noch einmal gemeinsam – nichts. Alles in Position. Nichts reagierte. Kein Summen, kein Klacken.
„Wir müssen hier raus“, sagte Lia plötzlich.
Steven nickte.
Keine Diskussion. Keine Zweifel.
Sie packten nur das Nötigste – Handys, Schlüssel, eine Decke. Und dann verließen sie das Haus, als würde es jeden Moment lebendig werden.
Als sie durch die Tür traten, schien die Nacht draußen weniger dunkel als das, was sie drinnen zurückließen.
Und hinter ihnen, im Fenster des Wohnzimmers, bewegte sich etwas. Kein Mensch. Kein Tier.
Etwas, das gewartet hatte.
Etwas, das jetzt wach war.


#####


Am nächsten Morgen war der Himmel bedeckt, aber es regnete nicht. Nebel hing wie ein Tuch über dem kleinen Ort, in dem das Haus lag – einem Dorf mit kaum mehr als hundert Seelen, irgendwo zwischen alten Hügeln und vergessenen Wäldern.
Lia hatte schlecht geschlafen. Immer wieder war sie aus dem Schlaf hochgeschreckt, hatte nach Steven getastet, der neben ihr lag und nicht mehr ganz der gleiche zu sein schien wie noch vor zwei Tagen. Etwas hatte sich verändert. Zwischen ihnen – und im Haus.
Sie hatten die Nacht in einem kleinen Gasthof am Ortsrand verbracht, mit altmodischen Vorhängen, kratziger Bettwäsche und dem leisen Knacken von Heizungsrohren. Trotzdem fühlte es sich an wie ein Zufluchtsort.
„Wir müssen rausfinden, wer in diesem Haus gelebt hat“, sagte Steven beim Frühstück. Sein Gesicht war blass, die Augen leicht gerötet. „Und was für ein Haus sie uns da verkauft haben.“
Lia nickte nur. Das Frühstück bestand aus zu hartem Brot und einem eigensinnig starken Kaffee, aber sie zwang sich, ein paar Bissen herunterzuwürgen. Ihr Kind brauchte Energie – egal, wie flau ihr war.
Der Kaufvertrag vom Notar hatte einen Namen ergeben: Gregor Mahler, ein Verwandter der früheren Bewohner. Er war es gewesen, der die Teilsanierung begonnen hatte. Ein Mann in den Sechzigern, wohnhaft in der Hauptstadt, mit dem sie vor dem Kauf nur über Makler und Anwälte Kontakt gehabt hatten. Seit gestern jedoch – Funkstille. Keine Antwort auf Mails, Anrufe oder Nachrichten.
„Vielleicht wissen die Leute im Dorf mehr“, meinte Lia, während sie die Straße entlangliefen. „Irgendwer muss die alten Besitzer doch gekannt haben.“
Sie gingen ins Herz des Dorfes, das aus einer Handvoll Straßen bestand, einem Kirchplatz, einem Gasthof – und einer kleinen, liebevoll gepflegten Bäckerei mit schiefem Holzschild: Bäckerei Krüger – Seit 1921.
Drinnen roch es nach Hefe, Zimt und frischem Apfelstrudel. Eine ältere Dame stand hinter der Theke, ihre schneeweißen Haare ordentlich aufgesteckt, die Hände voller Mehl.
„Guten Morgen!“, begrüßte sie sie mit einem geübten Lächeln. Als sie Lia erkannte, wurde ihr Lächeln aufrichtiger.
"Was darfs sein?"
Steven trat vor und schaute durch die liebevoll arrangierte Auslage in nüchternen Regalen und Tresen, die möglicherweise älter waren als die Bäckerin. „Da muss ich mich erst mal umschauen. Sagen Sie," Steven zögerte einen Moment, "vielleicht können Sie uns helfen. Wir haben das Haus oben am Hang gekauft. Das mit den blauen Fensterläden.“
Die Frau lächelte – doch ihr Blick veränderte sich für einen winzigen Moment. Fast unmerklich. Die Freundlichkeit wich einem Schatten von Erkennen. Und von Vorsicht.
„Ach ja … das Haus. Ja, das kennt man hier.“
Lia trat dazu. „Wissen Sie zufällig, wer vorher dort gewohnt hat?“
Die Bäckerin wischte sich die Hände an ihrer Schürze ab. „Ein altes Ehepaar. Die Lehmanns. Sehr für sich. Sehr … ruhig. Er war am Schluss nicht mehr gut zu Fuß, sie hat ihn gepflegt. Sie sind schon ein Weilchen tot. Vor fast zehn Jahren gestorben, kurz hintereinander. Herzinfarkt und dann… na ja, Sie wissen schon. Einsamkeit.“
Sie senkte die Stimme beim letzten Wort, als sei es ansteckend.
„Gab es noch Familie?“, fragte Steven vorsichtig.
„Einen Neffen oder Cousin oder so. Kam nie her, nur einmal zur Beerdigung, glaub ich.“
„Gibt es jemanden im Ort, der die Lehmanns besser kannte?“
Die Bäckerin zögerte. „Vielleicht … Frau Bergmann. Die Küsterin. Die hat sich um vieles gekümmert. Auch um sie damals, ein bisschen. So viel wie man sie eben hat lassen.“
„Könnten Sie uns sagen, wo wir sie finden?“, fragte Lia.
Die Bäckerin nickte langsam, strich sich eine Strähne hinters Ohr. „Sie wohnt neben der Kirche. Weißes Haus, schmale Fenster. Aber…“ Sie biss sich auf die Lippe. „Seien Sie nicht enttäuscht, wenn sie nicht redet. Frau Bergmann ist … wie soll ich sagen … nicht sehr gesprächig. Manche sagen, sie weiß mehr, als sie sagt. Andere sagen, sie vergisst einfach viel.“
Lia und Steven bedankten sich und kauften zwei Rosinenschnecken, obwohl keiner wirklich Hunger hatte. Dann machten sie sich auf den Weg zur Kirche.

Das weiße Haus neben der Kirche war alt, aber gepflegt. Ein schmaler Garten mit wilden Stauden, eine verwitterte Bank vor der Tür. Es war still. Die Herbstsonne warf selbst um die Mittagszeit bereits lange Schatten.
Steven klopfte.
Nichts.
Dann, nach einer Weile, Schritte. Langsam. Schlurfend. Schließlich öffnete sich die Tür.
Frau Annelore Bergmann war eine kleine, drahtige Gestalt mit ausdruckslosem Gesicht und tief liegenden Augen. Ihr Blick war grau wie der Himmel. Ihre Kleidung ordentlich, aber altmodisch: ein grauer Wollrock, eine braune Strickjacke. Sie sah sie lange an, ohne etwas zu sagen.
„Guten Tag, Frau Bergmann?“, begann Steven. „Wir sind Lia und Steven. Wir haben das Haus am Hang gekauft. Uns wurde gesagt, Sie kannten die früheren Bewohner.“
Lange Stille. Dann ein kaum merkliches Nicken.
„Darf ich fragen …“, setzte Lia an, aber Frau Bergmann drehte sich ohne ein Wort um und ging in den Flur zurück.
Sie schauten sich an. Dann traten sie ein.
Das Haus roch nach Lavendel und altem Holz. Überall hingen gerahmte Bilder – keine Fotos, sondern alte Gemälde von Landschaften, dunkle Wälder, stürmische Seen. Alles in Braun- und Grautönen.
Frau Bergmann setzte sich in einen alten Sessel am Fenster. Ihre Hände lagen reglos im Schoß. Sie sprach noch immer nicht.
„Wir… wir hatten letzte Nacht seltsame Erlebnisse im Haus“, sagte Lia vorsichtig. „Etwas mit dem Strom. Und … seltsame Geräusche. Schatten. Wissen Sie irgendetwas … Ungewöhnliches über das Haus?“
Nichts.
Steven trat einen Schritt vor. „Ist dort … etwas passiert?“
Die Augen der Küsterin veränderten sich. Nicht ihre Miene – nur die Augen. Als hätte sich ein Nebel über sie gelegt. Dann flüsterte sie:
„Man lässt die Vergangenheit ruhen.“
Es war das erste, was sie gesagt hatte. Ihre Stimme war trocken wie altes Papier.
„Wir möchten nur verstehen“, sagte Lia, ihre Stimme leise.
Frau Bergmann richtete sich langsam auf, als wolle sie sie hinauskomplimentieren. Doch bevor sie etwas sagen konnte, fiel eines der Bilder von der Wand – ohne ersichtlichen Grund. Es war keines der dunklen Gemälde, sondern ein Kinderbild. Die Farben waren verblasst, doch Steven konnte einen Spielplatz erkennen und ein Kind. Es krachte zu Boden, das Glas zersplitterte.
Niemand bewegte sich.
Steven beugte sich vorsichtig hinab, wollte es aufheben.
„Nicht anfassen!“ Es war das erste Mal, dass Frau Bergmann laut wurde. Ihre Stimme war plötzlich stark. Heiser, befehlend. Und voller Angst.
Er zog die Hand zurück.
„Gehen Sie jetzt“, sagte sie dann, leiser. Und fügte hinzu: „Es war nie ein Haus für Kinder.“
Dann schwieg sie wieder.

Als Lia und Steven wenig später wieder draußen standen, war der Himmel aufgeklart, als wollte er mit all dem unter ihm nichts zu tun haben. Die Kirche nebenan jedoch wirkte plötzlich riesig, wie ein stummer Wächter.
Lia fröstelte. „Was meinte sie damit? Nie ein Haus für Kinder?“
Steven schaute zum Himmel.
„Ich glaube, das war kein Zufall, dass das Bild genau dann gefallen ist.“
„Und dass sie es nicht berührt haben wollte?“
Er schwieg.
Das Dorf hinter ihnen wirkte nun nicht mehr freundlich.
Nur noch still.
Und uralt.


#####


Eine trockene Kälte hing in der Luft, als Lia und Steven wieder vor dem Haus standen. Der Anblick war der gleiche wie zuvor – das frisch gestrichene Blau der Fensterläden, der helle Putz, der sich fast schämte, wie neu zu wirken. Doch für beide war es nicht mehr nur ein Haus. Es war ein Ort geworden, der Dinge verbarg.
Und Dinge zeigte.
Lia zögerte einen Moment, bevor sie den Schlüssel ins Schloss schob. Der Gedanke, wieder hineinzumüssen, ließ sie frösteln. Doch Steven war bereits einen Schritt voraus. Er drückte die Tür auf.
Innen war alles still. Kein Strom. Kein Licht. Keine Geräusche. Die Dunkelheit lag wie ein schweres Tuch auf jedem Raum. Trotzdem gingen sie hinein.
„Lass uns nochmal alles anschauen“, murmelte Steven. „Vielleicht haben wir etwas übersehen.“

Mit Taschenlampen ausgerüstet tasteten sie sich durch die dunklen Räume, diesmal mit schärferem Blick. Steven hatte sich zusätzlich eine Stirnlampe aufgesetzt, die er noch im Auto gefunden hatte. Das bläulich-weiße Licht ließ jedes Staubkorn tanzen.
Sie fingen im Obergeschoss an und durchforsteten die leeren, noch halb renovierten Räume. Die vereinzelt stehenden Eimer, Leitern, Werkzeuge erschienen immer wie aus dem Nichts im Lichtkegel, um gleich darauf wieder in der Dunkelheit zu verschwinden. Als sie damit fertig waren, machten sie im Erdgeschoss weiter, wo die Räume wenigstens schon eingeräumt waren.
Im Flur schauten sie besonders lang und aufmerksam, hier war Steven zum ersten Mal angegriffen worden.
"Hier ist nichts." Steven klang fast entäuscht, doch seine aufgesetzte Stimme konnte nicht über seine Nervosität hinwegtäuschen.
"Dann in den Keller, wo es mich umgehauen hat," antwortete Lia entschlossen.
Sie stiegen vorsichtig die Kellertreppe hinab. Jeder Schritt hallte dumpf. Der Keller war kalt, das Mauerwerk alt und porös. Spinnenweben zogen sich wie fahles Gespinst an den niedrigen Decken entlang. Der Geruch war jetzt ein anderer. Sie arbeiteten sich an den Wänden entlang, fanden nur weiteres Werkzeuge, Farbeimer, Rohre.
Doch dann, in einem abgedunkelten Winkel unter der Treppe, blieb Steven stehen. Die Stirnlampe flackerte kurz, dann fing sie sich.
„Was ist das da?“
Ein Stapel alter Holzbretter lehnte an der Wand. Dahinter ... Stein. Aber nicht wie die anderen Mauern. Diese Fläche war glatter, feiner verputzt. Und eine winzige Erhebung lief senkrecht in der Mitte herab – kaum sichtbar, aber vorhanden.
„War das vor dem Umzug auch schon da?“, fragte er Lia. Sie trat näher, ihre Stimme vibrierte leicht.
Steven schob die Bretter zur Seite, der Staub wirbelte auf, kratzte im Hals. Er hustete, zog sein Asthmaspray hervor, atmete tief ein.
Dann legte er die Hand auf die Wand.
„Das ist … zu glatt. Das passt nicht zum Rest der Wand.“
Doch als er dagegenklopfte, klang es hohl.
„Da ist was.“
Er tastete die Ränder ab. „Wie eine Tür, aber zugemauert. Und schau – da ist eine kleine Ausbuchtung. Vielleicht für ein Schloss?“
Sie schwiegen. Lia blickte sich um. Die Dunkelheit hatte sich verdichtet, wurde dichter, kälter. Und in einer Ecke des Kellers sah Lia im Augenwinkel kurz etwas Helles – wie ein flatterndes Stück Stoff. Als sie hinsah, war es weg.
„Hast du das gesehen?“
„Was?“
„Nichts… vielleicht nur ein Schatten.“
Aber es hatte sich nicht wie ein Schatten angefühlt.

Zur gleichen Zeit saß Annelore Bergmann in ihrem Wohnzimmer, den Blick leer auf das zersprungene Bild gerichtet. Es lag immer noch auf dem Boden. Sie hatte es nicht aufgehoben. Sie hatte das Gefühl, sie dürfte es nicht.
Ihr Blick wanderte zum alten Lehnstuhl. Der Platz, an dem Paul immer gesessen hatte. Dort, wo sein Geruch sich am längsten gehalten hatte, wo sie ihn oft noch spüren konnte, wenn die Stille im Haus zu laut wurde.
„Ich weiß nicht, ob ich es tun kann“, sagte sie in den leeren Raum.
Wind rüttelte an der Tür. Der Stuhl blieb leer – und war es doch nicht. Die Schatten an den Kanten zitterten.
„Ich habe damals nichts gesagt. Aus Angst, ja. Aber auch, weil ich nicht wusste, ob ich die Wahrheit kenne. Ich habe es gesehen. Ich habe sie weinen sehen. Aber was hätte ich denn tun sollen, Paul?“
Ein leises Knacken. Als hätte sich das Holz des Stuhls bewegt. Sie hielt inne.
„Du würdest sagen: Das Gewissen ist wie ein Hund. Es beißt irgendwann.“
Der Stuhl blieb reglos. Und doch lag eine Erwartung in der Luft.
„Meinst du… meinst du, es ist soweit? Dass das Haus nicht ruhen kann?“
Der Wind heulte plötzlich auf, als Antwort. Ein loses Fenster im Obergeschoss schlug auf.
Annelore erhob sich.
„Na schön. Dann erzähle ich es. Alles.“
Sie zog sich langsam den Mantel über, strich ihr graues Haar aus dem Gesicht. Sie war alt, aber nicht müde. Nicht heute.
Draußen sprang der Opel nicht an. Zweimal, dreimal drehte der Schlüssel – nur ein Röcheln. Also schloss sie die Autotür hinter sich, zog den Mantel enger um sich, griff ihre Tasche und trat hinaus in die Nacht. Der Wind war kalt wie altes Wasser.
Sie ging los.

Unten im Keller hatte Steven eine Brechstange gefunden. Er setzte sie vorsichtig an der Erhebung an, wo der Putz brüchig war. Lia hielt Abstand, das Licht ihres Handys auf die Wand gerichtet. Der Gedanke, die Mauer zu öffnen, machte sie nervös. Doch sie wusste, dass es sein musste. Dass dieses Haus keine Ruhe geben würde, solange es Geheimnisse verbarg.
Als er drückte, passierte – nichts.
„Es bewegt sich nicht.“
Er versuchte es erneut. Knirschendes Gestein, ein feines Splittern. Doch der Stein blieb, wo er war. Die Wand schien sich dagegenzustemmen. Nicht wie fester Mörtel – sondern wie etwas, das wusste, was es verbarg.
„Es fühlt sich an, als würde etwas dagegenhalten“, flüsterte er.
Die Stirnlampe flackerte wieder. Dann wurde das Mauerstück heiß. Nicht von außen, sondern innen. Steven zuckte zurück.
"Warte," sagte er zu Lia und ging zum Auto. Sie stand plötzlich allein in diesem Keller und starrte auf eine Wand, die sich nur um Millimeter von ihrer Umgebung abhob. Und dennoch war sie sich sicher, dass hier etwas darauf wartete, entdeckt zu werden. Ihr Bauch zog sich zusammen. Ein krampfartiger Schmerz durchfuhr sie. "Bitte nicht," dachte sie. "Alles, nur das nicht." Mit ihrer freien Hand umfasste sie ihren Unterleib.
In diesem Moment hörte sie Steven zurückkommen. Auf der Treppe rumpelte es, als würde er hinabstürzen, aber eine Sekunde später stand er neben ihr, mit einem Fäustel in der Hand. Er schaute sie kurz prüfend an, schien aber nichts zu merken.
Als er zuschlug, war es, als würde der Stein zurückweichen, aber als er darüberfühlte, war kein Unterschied zu spüren. Er schlug noch einmal, und nocheinmal und holte zum dritten Mal aus.
Dann klingelte es.
Ein einziger, klarer Ton. Als hätte jemand von außen den Bann unterbrochen.
In diesem Moment traf der Hammer den Mauerstein. Und mit einem schleifenden Geräusch, das durch Mark und Bein ging, löste sich ein Stein und fiel nach innen. Kalte Luft strömte heraus, und eine Dunkelheit, die anders war als Dunkelheit. Dicker. Schwerer.
Sie erstarrten.
„Wer …?“, begann Lia.
Steven stand auf, ließ das Werkzeug sinken. Sie gingen zur Tür – langsam, angespannt.

Draußen stand Frau Bergmann, umgeben von Nebel, das graue Haar zerzaust, der Mantel durchnässt. Ihre Augen waren glasig, aber entschlossen.
„Darf ich reinkommen?“, fragte sie.
Sie traten zur Seite. Drinnen wirkte sie noch kleiner als zuvor, fast zerbrechlich. Doch etwas an ihr hatte sich verändert.
Sie setzte sich langsam auf das Sofa. Lia blieb stehen, die Hände fest aufeinander gelegt. Steven stand hinter ihr, das Asthmaspray noch in der Hand. Er zitterte leicht, ob vor Kälte oder Anspannung, war nicht klar.
„Es gab eine Tochter“, begann Frau Bergmann. „Eine, von der keiner mehr spricht. Britta. Fünf Jahre alt. Zart. Sehr ruhig. Ich habe sie ab und zu in der Kirche gesehen, wie sie auf der Bank saß, während ihre Eltern vorne saßen und… beteten. Viel beteten sie.“
Lia setzte sich langsam, das Zittern in den Knien hatte sie nicht mehr kontrollieren können. Ihre Finger spielten nervös am Saum ihres Pullovers. Frau Bergmann strich eine Falte auf dem Sofa neben ihrem Bein glatt, die gar nicht da war. Steven lehnte sich an die Wand, atmete schwer, nahm einen tiefen Zug aus dem Inhalator.
„Eines Tages war sie plötzlich verschwunden. Es hieß, sie sei zu einer Tante nach Hamburg gezogen. Alle nickten, dachten sich nichts. Oder wollten sich nichts denken. Aber ich… ich habe sie nie wieder gesehen.“
Ihre Stimme war brüchig, aber ruhig.
„Am Tag davor war ich auf dem Spielplatz. Zufällig. Ich sah Britta dort. Ein freundliches Mädchen, das kaum sprach. Sie spielte im Sand, lachte sogar. Doch dann… als es spät wurde, wurde sie plötzlich unruhig. Sie kam unsicher auf mich zu und fragte mich nach der Uhrzeit. Ich sagte ihr, dass es bald sechs sei, das Abendläuten müsse gleich beginnen. Und dann sagte sie nur einen Satz, den ich nie vergessen habe: Ich will nicht wieder in den Schrank. Und dann rannte sie los.“
Lia schluckte. Ihre Beine zitterten. Steven sah starr auf die Frau, sein Brustkorb hob und senkte sich schnell.
„Ich hätte sie gerne wiedergesehen“, sagte Frau Bergmann leise. „„Ich hätte ihr sagen wollen, dass es nicht ihre Schuld war. Dass es Erwachsene sind, die Dunkelheit in Räume tragen. Nicht Kinder.“
Stille.
Lia hatte Tränen in den Augen. Nicht geweint – aber es war nah. Sie spürte, wie das Haus sie beobachtete. Wie es zuhörte.
Und wartete. Der geöffnete Spalt in der Wand unter der Treppe atmete kalte Luft aus. Dunkel. Schwer. Und voller Geschichte.


#####


Es begann mit einem Flackern.
Ein einziger Stromstoß durchzuckte das Haus wie ein Blitz ohne Donner – Licht zuckte auf, dann wieder Dunkelheit. Ein kurzes Summen in den Wänden. Und dann, als hätte jemand einen verborgenen Schalter betätigt, erwachte das Haus.
Alle Lichter gingen gleichzeitig an – grelles, kaltes Licht, das in jeder Ecke flackerte und brannte. Die Dunstabzugshaube sprang an und heulte los, die Lüftung im Bad rauschte mit brachialem Getöse durch die Wände, und aus jedem Lautsprecher – egal ob in Küche, Bad oder Wohnzimmer – kam ein statisches, knisterndes Rauschen, das sich langsam zu einer Stimme formte.
Nicht laut. Kindlich. Weit weg. Ein Wispern.
„Warum …?“
Steven riss den Kopf herum. Lia stolperte zurück zur Kellertreppe. Frau Bergmann, die eben noch im Wohnzimmer saß, erhob sich langsam. Ihr Blick wanderte unruhig durch den Raum.
Dann schlossen sich alle Fensterläden mit einem dumpfen KNALL, einer nach dem anderen. Das Licht blieb an – doch es fühlte sich nicht mehr wie Licht an. Sondern wie etwas, das alles sehen wollte.
„Was … was ist das?“ flüsterte Lia.
Steven griff nach seinem Handy – kein Empfang. Kein Netz. Nicht einmal WLAN, obwohl alle Geräte wie besessen blinkten. Auf dem Display des Kühlschranks stand plötzlich eine Uhrzeit: 23:59 – obwohl es gerade erst früher Abend gewesen war.
Der Fernseher sprang an. Flimmerndes Schwarzweiß. Ein Kinderzimmer. Unschärfe. Ein kleines Mädchen mit einem Teddybär auf dem Schoß.
Dann ein Knall.
Die Wohnzimmerlampe explodierte, Funken flogen. Steven riss die Arme über den Kopf, gerade noch rechtzeitig. Glasregen rieselte auf den Boden.
Etwas bewegte sich im Flur.
Schnell. Lautlos. Wie ein Schatten in Zeitlupe. Nur sichtbar, wenn man nicht direkt hinsah.
„Sie ist hier“, flüsterte Frau Bergmann, die jetzt beide Hände aneinander presste. „Sie ist zurück.“
Ein Luftzug wie ein tiefer Atemzug fuhr durch das Haus. Dann stürzte aus dem Flur ein pechschwarzer Schatten in das Wohnzimmer. Kein Nebel, keine Gestalt – eher wie Rauch mit festen Rändern, die sich immer wieder neu formten. Und darin: zwei blasse Kinderaugen, unnatürlich leuchtend.
Frau Bergmann schrie auf.
„Britta!“
Doch das Wesen zögerte nicht. Es warf sich mit brutaler Wucht gegen sie. Ihr Körper flog durch das Zimmer, krachte gegen das Bücherregal, das unter dem Aufprall zerbarst. Holz splitterte, Bücher regneten zu Boden.
„NEIN!“ Steven wollte losstürzen, doch das Wesen wirbelte herum und warf ihn ohne Berührung zurück. Er schlug hart auf, keuchte, rang nach Luft. Sein Asthmaspray flog aus der Jackentasche, rollte unter das Sofa.
„Lia … ich … Spray …“ röchelte er, vergeblich suchend, kriechend.
Frau Bergmann rappelte sich auf, stand taumelnd. Ihr Gesicht blutete, eine Hand hielt sie vor die Rippen. „Ich … ich habe dich gesehen, Britta… damals… du hast geweint. Ich… wollte dich holen… ich… wollte…“
Ein zweiter Angriff. Der Schatten schnitt wie ein Sturm durch den Raum, und diesmal traf er sie im Brustkorb. Sie wurde von den Füßen gerissen, krachte gegen die Wand. Ihre Schultern sackten zusammen, als würde etwas in ihr brechen.
Lia, blass und zitternd, stellte sich zwischen sie und das Wesen.
„Hör auf! Hör uns zu! BITTE! Was ist passiert mit dir? Warum …?“ Ihre Stimme war brüchig.
Das Wesen stand still. Rauchig pulsierend. Es atmete nicht – und doch vibrierte die Luft. Dann bewegte es sich langsam auf sie zu. Zentimeter für Zentimeter. Lia wich zurück. Ihre Hände zitterten. Der Boden vibrierte leicht. In der Küche sprangen Geräte an und wieder aus, die Mikrowelle piepte wie verrückt. Der Kühlschrank gab ein tiefes Grollen von sich.
„Du bist Britta, oder? Du… du warst das Kind… das…“
Keine Antwort. Stattdessen erhob sich ein dunkler Tentakel aus dem Schatten – und schlug zu.
Lia schrie auf, wurde von den Füßen gerissen, fiel hart auf den Boden. Der Schmerz schoss ihr durch die Seite, wo sie schon beim Sturz im Keller angeschlagen war. Ihre Sicht flackerte. Im letzten Moment rollte sie sich ab.
Steven robbte durch die Dunkelheit, seine Finger tasteten unter dem Sofa. „Das Spray …, wo …?“
Und dann erschien es.
Nicht das Wesen – sondern ein Bild. Ein Satz.
Mitten im Wohnzimmer, auf jedem Bildschirm, auf der Kühlschrankanzeige, auf der Spülmaschine, sogar auf der Mikrowelle, stand in blutroten Lettern:
„WARUM HAST DU MICH NICHT GERETTET?“
Frau Bergmann, keuchend, taumelte hoch. Tränen liefen ihr übers Gesicht. „Ich konnte nicht … ich wusste es nicht … ich wollte doch …“
Doch das Wesen ließ sich nicht beschwichtigen.
Der finale Schlag kam aus dem Flur. Wie eine Wand aus Schatten raste es heran und traf die alte Frau mit solcher Gewalt, dass sie lautlos zusammensackte. Ohne einen Schrei. Ohne ein letztes Wort.
Lia schrie. Sie wollte zu ihr hin, wurde aber zurückgeschleudert. Ihr Kopf schlug gegen den Tisch.
Steven fand das Spray. Er presste es an seine Lippen, zog tief ein, noch einmal, keuchend, spuckte. Die Welt um ihn drehte sich.
Dann: Stille.
Das Wesen zog sich zurück. Nicht fort – sondern in sich. Schrumpfte zusammen, wurde kleiner. Kindlicher. Britta.
Sie stand nun in der Mitte des Raumes. Ein blasses Mädchen, vielleicht fünf Jahre alt. Das Kleid zerrissen. Die Haare wirr. Und ihre Augen – leer. Tief und leer.
Sie sah auf Frau Bergmann hinab. Dann hob sie langsam den Arm, zeigte auf Lias Bauch. Ihre Lippen bewegten sich, doch kein Laut kam heraus.
Und dann war sie weg.
Das Licht ging wieder aus. Der Strom verstummte. Die Geräte sanken in ihren Schlaf zurück.
Und das Haus war still.


#####


Der Tod von Frau Bergmann hinterließ eine Leere im Haus – nicht wie ein Loch, sondern wie ein Schwellenmoment, als hätte Britta einen Teil ihrer Kraft geschöpft. Oder ihren Zorn entfacht.
Steven saß am Boden, den Rücken gegen die Wand gelehnt, die Hände über den Kopf gelegt. Lia kniete vor Frau Bergmanns lebloser Gestalt, ihre eigenen Finger bebten, als sie ihre Halsschlagader suchte. Nichts. Nur Kälte.
„Sie … sie ist tot.“ Ihre Stimme war kaum ein Flüstern.
Steven nickte langsam, als wäre er innerlich taub. Die Wirkung seines Asthmasprays hatte ihn stabilisiert, aber sein Atem ging immer noch unregelmäßig, zu flach, zu laut. „Wir müssen hier raus.“
„Ja.“
Sie standen auf, schwankend, leer. In dem Moment hörten sie es wieder: das Flüstern. Aus den Wänden. Ein Kratzen. Ein Wispern.
Dann ein Rumpeln im Obergeschoss. Schritte. Kinderfüße.
„Sie ist noch hier.“
Steven riss die Tür auf. Draußen war alles wie eingefroren – Nacht, tiefer Nebel, dichter als zuvor. Doch der Weg zum Auto war frei. Sie rannten.
Lias Finger zitterten, als sie das Auto öffnete. Steven ließ sich auf den Beifahrersitz fallen.
„Dein Handy?“ rief Lia.
„Kein Netz.“
„Meins ist tot.“
Sie drehte den Zündschlüssel.
Nichts.
Noch einmal. Leiern. Dann Stille.
Hinter ihnen knackte es.
Eine Laterne flackerte. Etwas stand unter ihr.
Ein kleines Mädchen.
Still. Starr. Und dann: Bewegung. Der Schatten löste sich aus der Dunkelheit und rannte auf sie zu. Nicht schnell – aber so, dass jede Faser von Lias Körper losschreien wollte: Weg hier!
„In den Keller“, rief Steven, „sie will, dass wir runtergehen.“
„Bist du verrückt?!“
„Nein.“ Seine Stimme war ruhig. „Sie will uns etwas zeigen.“
Die Haustür öffnete sich nicht. Aber sie fanden die alte Hintertür zur Waschküche auf der Rückseite des Gebäudes. Die Tür ließ sich aufdrücken. Kaum drin, knallte sie hinter ihnen zu.
Und das Licht ging aus.
Sie fanden den Keller mit den Handylichtern – das Licht brannte noch einmal kurz auf, als würde das Haus ihnen gewähren, was sie suchten. Eine Art Pakt. Oder ein Spiel.
Der Keller roch jetzt modrig. Staub, alter Mörtel. Und etwas anderes. Süßlich, faul, wie etwas, das sich unter dem Putz versteckt hält.
„Da… da ist es.“ Lia zeigte auf die kleine Mauer unter der Treppe. Sie wirkte auf den ersten Blick unverändert. Als hätte der letzte Angriff keine Spuren hinterlassen.
Aber jetzt war da eine Linie. Ein haarfeiner Riss entlang der Kante. Fast eine Einladung.
Steven holte mit dem Fäustel aus. Und wieder stemmte sich etwas Unsichtbares dagegen. Wie beim ersten Versuch. Die Wand vibrierte leicht unter ihrer Berührung, als kämpften Kräfte jenseits des Sichtbaren um jedes einzelne Molekül.
Er gab den Fäustel Lia, die sofort ausholte und wütend auf die Wand einschlug. Der Aufprall durchfuhr ihre Gelenke. Lia fluchte leise.
Steven presste seine Schulter dagegen, drückte – und in dem Moment, in dem Lia erneut zuschlug, gab die Wand einen Laut von sich.
Ein tiefes, dumpfes Knacken, wie ein schwerer Atemzug.
Dann fiel ein zweiter Stein heraus.
Und ein dritter.
Sie arbeiteten mit rasender Konzentration, schlugen mit dem Hammer zu, kratzten, stemmten. Staub rieselte. Die Luft wurde mit jedem Moment schwerer.
Dann: Die Steine fielen nach innen. Und dahinter… eine Tür.
Kein Griff. Keine Scharniere. Nur ein metallener Riegel, rostig, starr. Sie stemmten sich dagegen, zogen mit vereinten Kräften, bis ein kreischendes Geräusch durch den Keller schrie und sich das Rechteck langsam öffnete.
Ein dunkler Hohlraum dahinter.
Ein Verlies.
Der Gestank traf sie wie eine Faust. Faulig, nass, metallisch. Der kleine Raum war kaum einen Meter tief, vielleicht zwei Meter hoch. Feuchte Wände, nackter Beton. Auf der einen Seite in Schulterhöhe eine Stange, auf der anderen Seite dünne Leisten links und rechts an der Wand. Kein Licht, keine Belüftung. Am Boden: ein rostiger Eimer, ein leerer, rissiger Teller.
Und etwas anderes.
Ein kleiner Körper.
Nicht mehr als eine kindliche Mumie, zusammengesunken in einer Ecke, bekleidet mit einem geblümten Kleid. Die Hände an die Brust gepresst, als hätte sie sich selbst umarmen wollen. Die Haare, einst blond vielleicht, hingen in verfilzten Strähnen an einem zerfallenen Schädel. Ihre Füße waren nackt. Die Zehen eingerollt.
Lia starrte das Mädchen an. Ihre Knie gaben nach. Sie fiel auf den Boden. Nicht bewusstlos – aber in einem Schockzustand, der alles außen herum dämpfte. Wie Watte.
Steven kniete sich daneben. Und flüsterte: „Britta.“
Er wusste es jetzt. Ohne Zweifel.
Die Wand zitterte. Ein Seufzer durchlief das ganze Haus. Als hätte das Gebäude selbst aufgeatmet. Oder mit ihnen trauerte.
„Sie haben sie hier eingesperrt“, flüsterte Lia. „Das waren ihre Eltern. Sie… sie ist verhungert.“
Tränen liefen ihr über das Gesicht, aber sie fühlten sich nicht an wie ihre eigenen. Es war, als weinte das Kind in ihr.
„Deshalb das Licht. Die Schatten. Die Wut.“ Steven stand langsam auf. „Sie ist hier geblieben. Und sie ist zornig.“
Dann ging das Licht wieder aus.
Und diesmal war es endgültig.


#####


Die Dunkelheit war vollkommen. Kein Lichtschein, kein Flackern. Nur die Anwesenheit – drückend, pulsierend, zornig. Britta war jetzt überall.
Steven tastete sich an der Kellerwand entlang, seine Finger glitten über kalte Steine, rostige Rohre, schließlich über Lias Schulter. Sie war still, als hielte sie den Atem an.
„Wir müssen raus. Jetzt.“ Seine Stimme war brüchig, voller Angst – aber nicht mehr nur vor Britta, sondern vor dem, was sie verstanden hatten.
Lia nickte unsichtbar. Ihr Blick glitt zurück zu dem leblosen Körper im Verlies. „Sie war allein. So lange.“
Eine Bewegung. Ein Rascheln. Aus der Dunkelheit direkt vor ihnen formte sich etwas. Kein Licht, aber Bewegung. Ein Schatten, der Schatten warf. Und dann ... das Gesicht.
Blass. Kindlich. Verzerrt. Zornig. Britta stand in der Öffnung. Der Mumienkörper war nicht mehr da. Die Erscheinung war zu Fleisch geworden. Oder etwas, das Fleisch imitiert. Der Mund geöffnet, schwarz wie Ruß. Keine Pupillen.
Dann begann alles gleichzeitig.
Alle Lichter im Haus sprangen an – so grell, dass Lia zusammenzuckte. Kühlschrank, Backofen, Spülmaschine – alles brummte, piepte, summte, als würde das Haus selbst schreien.
Das Smart House war erwacht – und gehörte nicht mehr ihnen.
„Lauf!“, rief Steven.
Sie rannten die Kellertreppe hinauf, Brittas Schatten dicht hinter ihnen. Jeder Schritt war ein Akt der Verzweiflung. Sie rissen die Tür auf – sie war nicht verschlossen, aber zögerte, als wolle sie sie festhalten. Der Flur war geflutet mit Licht, flackernd, stroboskopisch. Die Bilder an den Wänden flogen herunter. Eine Vase zerschellte.
„Sie spielt mit dem Haus!“ schrie Lia.
Plötzlich – ein Schrei. Britta schoss wie ein Schattengeschoss aus dem Wohnzimmer. Lia duckte sich, wurde am Rücken gestreift, Steven wurde voll getroffen. Er schlug auf dem Boden auf und blieb reglos liegen.
„Steven!“ Lia wollte zu ihm, doch ein Schatten schnellte aus dem Flur wie ein Tentakel, schlug sie gegen die Wand. Sie knallte mit dem Kopf gegen den Flurschrank, Sterne tanzten vor ihren Augen.
Britta erschien wieder – diesmal ganz nah. Ihr Gesicht war kaum eine Handbreit entfernt. Ihre Augen leuchteten leer, brannten sich in Lias Blick. Eine Träne lief über ihre Wange.
„Warum?“ donnerte es durch die Lampen, die Steckdosen, die Wände.
Dann erschienen Worte, eingebrannt in den Bildschirm der Haussprechanlage:
„Warum hat mich niemand gerettet?“
Lia hustete, Blut schmeckte metallisch. Sie blickte Britta an. Ihre Tränen liefen ungehindert.
„Ich weiß es nicht. Du warst ein damals Kind. Sie haben nicht darüber gesprochen.“
Britta schrie. Ihr Körper zersplitterte in ein Dutzend Schatten, die gleichzeitig auf Lia zustürmten. Einer traf sie mit voller Wucht. Sie fiel, rollte sich zur Seite. Ein zweiter riss sie am Bein, der dritte schlug ihr die Luft aus den Lungen.
Lia krabbelte ins Bad. Dort riss sie eine Schublade auf. Haarspray. Vom Pottpouree auf dem Klowasserkasten das Feuerzeug. Der Gedanke kam instinktiv. Würde sie das Feuer vertreiben?
Mit dem Feuerzeug in der einen und der Spraydose in der anderen Hand krabbelte sie zurück in den Flur. Britta raste schon wieder auf sie zu.
Zisch – fump – Eine Stichflamme schoß aus ihrer Hand. Der Angriff stoppte. Die Schatten zuckten zurück wie verbrannte Insekten.
„Du willst spielen? Dann spiel mit Feuer.“
Sie steckte sich das Feuerzeug in den BH, die Spraydose in die Tasche, und eilte zu Steven, der keuchend nach Luft rang. Lia zog ihn hoch.
„Wir müssen sie ... befreien“, keuchte sie. „Sie muss gehen.“
Steven nickte matt, die Angst in seinen Augen war brennend echt. „Aber wie?“
Lia schaute sich um. Ihre Gedanken rasten.
Dann erinnerte sie sich.
Die alte Diele. Im Wohnzimmer.
Die einzige, die anders war.
Sie stolperte los – Britta schwebte im Treppenhaus. Dieses Mal war sie größer. Ihre Haare flogen wie in einem Sturm. Die Augen glichen glühenden Wunden. Als Lia vorbeirannte, warf das Wesen ihr einen Stuhl entgegen. Sie duckte sich, rollte über den Boden, knallte gegen das Sofa. Ihre Schulter brannte.
Britta war hinter ihr. Wie ein schwarzer Nebel glitt sie über das Parkett. Schattenarme griffen nach Lias Haaren, krallten sich fest. Lia schrie, riss sich los, verlor dabei eine Haarsträhne. Ein brennender Schmerz schoss ihr über die Kopfhaut.
Sie kam im Wohnzimmer an. Da war sie – die Diele, mittig, dunkel, alt. Ihre Oberfläche war rissig, aber stabil. Lia robbte zu der Ecke, wo Steven den Fäustel hingeworfen hatte und robbte schnell zurück.
Ein Schlag mit dem Fäustel – die Splitter flogen. Britta war direkt hinter ihr. Lia drehte sich um, entlud wieder eine Stichflamme. Britta wich zurück, ihre Gestalt flackerte, vibrierte.
„Lass uns in Ruhe!“
Ein Schlag. Zwei. Die Diele splitterte.
Ein Luftzug entwich. Faul, alt, wie ein uralter Atem.
Sie riss das Holz ganz heraus – darunter: ein leerer Hohlraum. Direkt über dem Kellerverlies. Sie griff das Stück Holz – und rannte.
Lia warf die Diele gegen das Wohnzimmerfenster. Es zersprang, Luft strömte hinein – frische, kalte Luft. Der Schatten Brittas zuckte, kreischte. Ein zweiter Schlag rammte die Diele zwischen den Fensterläden nach draußen.
Doch sie war noch nicht besiegt.
Sie manifestierte sich – und stürzte sich auf Steven, der gerade aus dem Flur zu Lia geschwankt kam. Er taumelte, prallte gegen die Wand, rutschte zu Boden.
Lia reagierte instinktiv: Haarspray, Feuerzeug, Flamme. Direkt auf die dunkle Masse. Britta brüllte – diesmal klang es fast menschlich. Der Schatten ließ von Steven ab, kroch die Wand hoch und verschwand.
Jede Wand atmete jetzt. Schatten zuckten. Britta versuchte sich zu vervielfältigen.
„Siehst du sie auch?“ fragte Lia keuchend.
Keine Reaktion.
Dann, ein Blick: Steven war anders. Sein Blick war leer. Er richtete sich auf, langsam.
„Steven?“
Sein Lächeln war falsch. Zu ruhig.
„Sie muss bleiben“, sagte er. „Du darfst sie nicht vertreiben.“
„Du bist nicht er.“
„Hör auf zu kämpfen.“
Sie hob die Spraydose. Er lachte – mit einer Stimme, die sie nicht erkannte.
Dann – ein Sprühstoß, eine Flamme. Er wich zurück, fauchend, keuchend. Der Schatten wich aus seinen Augen. Steven taumelte. „Was war das?“
„Sie war ... in dir. Feuer. Wir brauchten Feuer.“
Sie rannten die Treppe hinauf – doch Britta war schneller. Am oberen Treppenabsatz formte sie sich neu – diesmal als das Mädchen, das sie war. Nur blasser. Zarter. Tödlicher.
„Du kannst es nicht retten“, flüsterte sie.
Lia antwortete nicht. Sie rammte Britta mit voller Wucht. Der Kontakt war wie Eis – aber Britta verlor das Gleichgewicht, stürzte rückwärts die Treppe hinunter – und verschwand in einer Wolke aus schwarzem Nebel.
Jetzt!
Sie fand die Farbeimer am Boden, und daneben die kleine Dose mit dem Pinselreiniger, die sie gesucht hatte. Riss ein Tuch aus der Schublade, tränkte es. Band es um einen Stuhl. Ein letzter Blick – dann das Feuerzeug.
Das Tuch fing sofort Feuer. Lia schob den brennenden Stuhl durch den Flur. Die Flammen leckten an den Tapeten, der Teppich fing Feuer, das Geländer. Das Haus brannte. Endlich.
Britta erschien ein letztes Mal – ihre Gestalt zitterte, entzwei gerissen von Hitze und Hass. Sie stürmte auf Lia zu.
Lia schrie – zündete einen letzten Feuerstoß mit dem Spray.
Britta traf sie, riss sie zu Boden. Das Feuer fraß sich in das Holz. Britta schrie, Lia schrie. Die Luft war kaum noch atembar.
Sie riss sich los, kroch Richtung Steven und zog ihn hinter sich her. Im Dachgeschoss waren die Fensterläden noch offen. Sie sah die Nacht, die Sterne. Hoffnung. Gemeinsam erreichten sie ein Fenster. Lia riss es auf, zog Steven mit sich. Sie sprangen.
Der Aufprall war hart. Aber draußen.
Sie rollten sich ab, krochen auf die Straße. Als sie sich umdrehten, stand ihr Haus in Flammen. Das Feuer hatte es mit einer Gier erfasst, wie ein hungriges Tier.
Die Schatten zuckten an den Scheiben. Brittas Schrei war noch einmal zu hören – dann nichts.
Nur die Flammen. Und Stille.
Steven legte den Arm um Lia. Ihr Gesicht war rußverschmiert, aber ihre Augen klar.
„Ist sie tot?“
Lia nickte. Tränen liefen über ihr Gesicht, still, erschöpft.
„Das war unser Zuhause“, flüsterte er.
„Jetzt ist es ihr Grab.“
Sie standen dort, eng aneinandergedrückt, und sahen zu, wie ihr Haus niederbrannte – und mit ihm ein kleines Mädchen, das seiner Kindheit beraubt und um sein Leben betrogen worden war.


#####


Der Wind war leise geworden. Dort, wo das Haus gestanden hatte, lagen nur noch verkohlte Träger, zerbrochene Dachziegel, der schiefe Rest eines Fensterrahmens. Rauch stieg in dünnen Schleiern auf, zog lautlos in den schwarzen Nachthimmel, der sich wie ein schwerer Vorhang über alles gelegt hatte.
Lia saß im feuchten Gras, die Beine angewinkelt, den Kopf auf die Knie gestützt. Ihre Hände zitterten nicht mehr. Nur ein leises Ziehen im Rücken, ein kaum wahrnehmbarer Druck unter der Haut erinnerte sie daran, wie sehr sie alles gegeben hatte.
Steven saß neben ihr. Den Blick auf das verkohlte Trümmerfeld gerichtet, die Finger ineinander verkrampft. Das Asthmaspray lag geöffnet zwischen ihnen im Gras, als hätte es ebenfalls überlebt.
Eine Weile sagte niemand etwas.
„Es riecht immer noch nach ihr“, murmelte Lia schließlich.
Steven antwortete nicht sofort. Nur ein kurzes Nicken, kaum merklich. Dann, nach einer langen Stille: „Glaubst du, sie ist… fort?“
„Vielleicht.“ Lia zog die Knie näher an die Brust. „Oder nur ... nicht mehr hier.“
Wieder Stille. Nur das Knistern der glimmenden Balken. Ein Stück Dach stürzte leise in sich zusammen.
Dann, als hätte sie lange auf diesen Moment gewartet, hob sie den Blick und sagte, ohne ihn anzusehen:
„Ich bin schwanger.“
Steven wandte den Kopf, langsam. Es war kein Lächeln auf seinem Gesicht, aber auch kein Schock. Nur ein fast schon kindlicher Ausdruck von Nachdenklichkeit – als hätte sie ihm etwas gesagt, das größer war als Worte.
„Wie lange…?“ Seine Stimme war rau.
„Ein paar Wochen. Ich wollte es dir sagen, sobald wir uns eingerichtet hätten.“
Ein heiseres Lachen entkam ihm, kurz, brüchig. „Na dann… perfektes Timing.“
Sie lächelte schwach, mehr mit den Augen als mit dem Mund.
Er sah wieder zum Haus. „Ein Kind…“ murmelte er. Dann, fast an sich selbst: „Was, wenn es uns hasst? Was, wenn wir es nicht beschützen können?“
„Was, wenn es uns liebt?“ erwiderte Lia ruhig. „Was, wenn wir es schaffen, anders zu sein?“
Die Worte blieben eine Weile in der Luft hängen, als hätten sie ein Gewicht, das der Rauch nicht tragen konnte.
Dann fuhr sie leise fort: „Man denkt, eine Kindheit ist der Anfang. Aber manchmal ist sie auch ein Labyrinth. Man verliert sich darin. Oder wird eingesperrt.“ Sie strich sich eine verrußte Haarsträhne aus dem Gesicht. „Ich will nicht, dass sich jemand in unserer Nähe je wieder so fühlt.“
Steven sagte nichts. Er nahm ihre Hand.
Die Wärme darin war echt.
Aus der Ferne hörten sie die Dorffeuerwehr, die sich näherten, aber zu spät eintreffen würden.
Nur die Fragen, die blieben. Und der schwache Impuls von etwas Neuem, das irgendwo unter Lias Haut zu wachsen begann. Zwischen den Ruinen, zwischen den Gedanken.
Sie blieben sitzen, bis die Nacht grauer wurde.
Bis der Rauch sich verzogen hatte.
Bis nur noch das Gras um sie herum flüsterte.
Und ganz tief innen, irgendwo zwischen Erinnerung und Zukunft, regte sich das Leben. Still, klein, unbeirrt.

 

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